Gamer gehören zu den unbelesensten Menschen der Welt. Die haben noch nie auch nur in ein Buch reingeguckt, aber denken, Spiele wie Detroit: Become Human seien die besten Geschichten, die je geschrieben wurden. Das ist (leicht paraphrasiert) ein Tweet, den ich letztens gelesen habe. Right for the throat, ich weiß – Twitter eben. Aber unfair ist die Aussage nicht, denn Literatur vermutet beim eigenen Publikum ähnliche blinde Flecken über „das fremde Medium“ Videospiel oder behandelt Spiele nur als popkulturelle Referenz am Rande.

Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow von Gabrielle Zevin ist einer der beliebtesten und meistprämierten Romane des Jahres 2022. Die Geschichte zeigt Licht und Schatten der Spieleindustrie aus intimen persönlichen Perspektiven. Wie überraschend der immense Erfolg des Romans war, zeigt sich auch dadurch, dass die deutsche Übersetzung unter dem Namen Morgen, morgen und wieder morgen fast ein Jahr auf sich warten ließ.

Der Erfolg ist verdient, denn Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow beweist wie wenige andere Geschichten, dass es Games versteht. Das liegt unter anderem daran, dass es den Fokus vor allem auf die Gamesindustrie, Gameskultur und avantgardistisches Gamedesign legt. Während der Industrieaspekt zum Beispiel in der TV-Serie Mythic Quest bereits gründlich ausgerollt wurde, glänzen letztere Aspekte in Tomorrow… umso mehr. Im Roman geht es gleichermaßen um Menschen, die Spiele kreieren und Menschen, die Spiele genießen – mit allem, was diese Kultur einzigartig, aber auch hässlich macht.


Unbelesene Gamer vs. unbespielte Lesende

Was von Beginn an überzeugt, ist die weitestgehend ernste Tonalität ohne das übliche Referenzbingo, dem Spiele in anderen Medien häufig ausgesetzt sind. Das geschriebene Wort hat den Vorteil, dass es Referenzen nicht unauffällig in den Hintergrund der Kulisse einstreuen kann, ohne gleich zu Ready Player One zu werden. Dadurch, dass Tomorrow… keine Zimmer voller Merchandise oder Cameos von Q-Bert und Pac-Man zeigt, wirkt es automatisch authentischer und weniger wie ein Schulterklopfen unter Nerds.

Vereinzelte Passagen erscheinen aber, als hätte das Lektorat eine Mindestquote an plumpem Games-Bezug gefordert: „If this were a game, he could hit pause. He could restart, say different things, the right ones this time. He could search his inventory for the item that would make Sadie not leave.“ (S. 9). Sätze wie diese fallen jedoch völlig aus dem Raster des sonstigen Stils. Auffällig ist auch, dass solch gestelzte Game-Metaphern fast ausschließlich in den ersten Kapiteln auftreten. Fast, als wollte das Buch papierallergische G4m3r mit solchen Tricks zum Weiterblättern bewegen.

Deutlich befremdlicher ist in dieser Hinsicht, dass sogar ein Buch wie Tomorrow… das Medium Games übererklären muss. Viele Filme, Romane und Co. trauen ihrem Publikum kaum zu, Mario von Sonic zu unterscheiden – wenn Games denn überhaupt mal auftauchen. Und auch in Tomorrow… gibt es deplatziert eingeschobene Wikipedia-Sätze wie: „Metal Gear Solid was a stealth game, which meant it was strategically advantageous to avoid being seen more than it was to engage someone in combat. The player spent a great deal of the game bored—hiding and waiting.“ (S. 44).

Tomorrow… erklärt eine der bedeutendsten Spielereihen aller Zeiten und eine weitverbreitete Mechanik, die in jedem zweiten AAA-Game vorkommt. Gleichzeitig referenziert es im Verlauf der Geschichte links und rechts Shakespeare, als könnten wir alle Macbeth im Schlaf zitieren. Shakespeare ist Hochkultur! Den kennt man auch 400 Jahre nach seinem Tod. Hideo Kojima hingegen…

Ein Roman, der sich von Kopf bis Fuß um Games dreht, sollte eine gewisse Kenntnis des Mediums Videospiel voraussetzen dürfen. Zugänglichkeit hin oder her – solche Erklärungen unbedeutender Referenzen stützen nicht einmal das Verständnis der Erzählung. Stattdessen untergraben sie aber die Charakterisierung der Hauptfiguren: Gamedesigner in den späten 90ern, die Spiele leben und atmen – die sich aber, gemäß der personalen Erzählperspektive, Metal Gear Solid erklären müssen.

Wenn der Roman wagt, sein Publikum selbst bei den titelgebenden Shakespeare-Referenzen nicht bei der Hand zu führen, darf auch Kojima eine potenzielle Dunkelstelle bleiben. Denn sogar das Macbeth-Zitat „Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow“ wird zwar kontextualisiert, aber nie so umfassend erklärt wie einige der Spielereferenzen.


90s-Indie-Wunderkinder

Stilistische Schwachstellen wie diese balanciert der Roman mit seinem Verständnis der Probleme in Gamesindustrie und -kultur: In erster Linie toxische Vorgesetzte und toxisches Fantum, auf die sich viele dieser Probleme zurückführen lassen. Aber auch eine voreingenommene, unreflektierte Spielepresse sowie ein konservativer, risikoaverser Markt.

Dem gegenüber stehen die kreativen Hauptfiguren, deren persönliche und professionelle Geschichten anschaulich zeigen, was Spieleentwicklung nicht nur einzigartig macht, sondern unter den erwähnten Rahmenbedingungen auch einzigartig zermürbend.

Der Roman spielt in den USA der späten 1990er. Wohl die Zeit, in der große Games für kleine Teams so erreichbar waren wie nie zuvor und nie mehr seitdem. Mit entsprechenden, aus heutiger Sicht überschaubaren Budgets kreierten unabhängige Teams unkonventionelle Spiele auf höchstem technischem Niveau. Damit traten Titel wie Oddworld: Abe’s Oddysee oder Heart of Darkness auf der großen Bühne gegen Blockbuster wie Crash Bandicoot an, die zu dieser Zeit ebenfalls noch ein Bein nach dem anderen in ihre Hosen stiegen.

„Well, if we’d been born a little bit earlier, we wouldn’t have been able to make our games so easily. Access to computers would have been harder. We would have been part of the generation who was putting floppy disks in Ziploc bags and driving the games to stores. And if we’d been born a little bit later, there would have been even greater access to the internet and certain tools, but honestly, the games got so much more complicated; the industry got so professional. We couldn’t have done as much as we did on our own. … And I think, because of the internet, we would have been overwhelmed by how many people were trying to do the exact same things we were. We had so much freedom – creatively, technically. No one was watching us, and we weren’t even watching ourselves.” (S. 394).

Die Hauptfiguren beginnen mit experimentellen Reinterpretationen von Tetris, kreieren danach einen narrativen 2D-Platformer, eine absolut überambitionierte Lifesim und pendeln sich auf Dauer bei einer High-School-RPG-Reihe à la Persona als finanzielles Standbein neben weiteren Experimenten ein. Eine glaubwürdige Geschichte von der College-WG bis ins kalifornische Großraumbüro – samt aller persönlichen Konflikte, die ein solcher Wandel vom Drei-Personen-Projekt zum Mittelständler mit sich bringt.

Alle Hauptfiguren haben dabei auch ein komplexes Leben abseits der Spieleindustrie. Der Roman bedient sich großzügig beim Klischee des traumatisierten Genies und räumt der düsteren Vergangenheit stellenweise zu viel Raum ein. Insgesamt garantiert dieser Unterbau aber, dass Tomorrow… nie zum Roman über Spiele wird, sondern ein Roman über Menschen, die Spiele lieben und wie sich diese Liebe im Laufe eines Lebens wandelt.

Über den Verlauf der Geschichte geben die Charaktere Einblicke in ihre persönlichen Gamedesign-Philosophien, die in dieser Form auch aus Vorträgen auf der Game Developers Conference stammen könnten. Dazu kommen buchstäblich philosophische Ausschweifungen über Gamedesign, die literarischer kaum sein könnten. Vom Hinterfragen populärer Trends, wie Gewalt als beliebteste Mechanik in 99 Prozent aller Spiele, bis hin zu abstrakteren Vergleichen zwischen Videospielen und Sex.

Tomorrow… behandelt den Personenkult um einzelne Gamedesign-Stars ebenso wie die essenzielle Rolle sämtlicher Teammitglieder für den Erfolg jedes Projektes. Dabei zeigt der Roman unter anderem, wie Geschlechterrollen diese Prozesse und die Rezeption der Werke beeinflussen. Die stärksten, düstersten Momente der Geschichte beziehen sich unmittelbar auf Gamergate-ähnliche Auswüchse, ohne dabei aber je in plumpes Empören oder Schockieren zu verfallen.


Eine weitere Gemeinsamkeit mit Spielen: Die Länge

Die dramaturgischen Höhepunkte profitieren davon, dass Tomorrow… seine emotionalen Gipfel mühsam aufbaut. Vor allem die exzellenten Charakterisierungen füllen jede Figur mit ausreichend Licht und Schatten. Besonders versiert ist der Roman in pointierten Ein-Satz-Beschreibungen, die mit wenigen Worten viel vermitteln:

„She was an avid reader (of fiction and nonfiction), but she never read the newspaper, other than the arts sections, and she felt guilty about this.“ (S. 138). Vorlieben, Selbstbild und Schwächen – alles in einen Satz.

Oder: „She was intelligent, but her intelligence didn’t get in the way of her enthusiasm.“ (S. 156). Eine sehr spezifische Art Person, die ein gesundes Verhältnis zu ihren eigenen Emotionen, ihrem Weltbild und Selbstwertgefühl hat.

Für seine Themen, Konzepte und Charaktere nimmt der Roman sich viel Zeit. Die deutsche Übersetzung des Buches mit ihren 561 Seiten gibt ein deutlich besseres Gefühl für den Umfang als das englische Original, das mit 418 Seiten vor allem als eBook kompakter scheint als es tatsächlich ist.

Nicht alles, was Tomorrow… an die Wand wirft, bleibt letztendlich kleben. Doch es ist einer der wenigen Romane, die Videospiele und die Menschen, die sie lieben, verstehen und akkurat repräsentieren. Der kritische Blick auf Machtverhältnisse und kulturelle Radikalisierung macht die Geschichte zudem hochrelevant für ein breites Mainstream-Publikum, das womöglich nicht in der Tiefe mit diesen Problemen der Branche und Spiele-Community vertraut ist.

Dass der Roman sich so hervorragend für ein breites Publikum eignet – sogar eines mit wenig Videospielkenntnissen, Kojima-Erklärungen hin oder her – macht ihn umso wertvoller. Er schafft den seltenen Spagat zwischen Trend-Hit und bedeutungsschwangerer Literatur. Und neben seinen Erklärbär-Sätzen versteht Tomorrow… am Ende doch, wie Videospielfans ticken:

“I don’t want to play a game that’s a collection of some guy’s fetishes,“ Sadie said. „Dude, Sadie, you described ninety-nine percent of all games. But the boobs are a bit much, I’ll give you that. How does she not topple over?“ Dov said. „Kojima’s brilliant, though.” (S.45).

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Zevin, Gabrielle. Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow. Knopf Doubleday Publishing Group, 2022. Kindle-Version.

Header Collage:

  • Katsushika Hokusai. Die große Welle vor Kanagawa (original: 神奈川沖浪裏 Kanagawa oki nami ura). 1830-1832, Nationalmuseum Tokio.
  • Zevin, Gabrielle. Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow. Knopf Doubleday Publishing Group, 2022.