Genau zehn Jahre ist es her, da durfte ich zum bislang letzten Mal an einem Ritual teilnehmen, dass es in dieser Form heute schon gar nicht mehr gibt: Einige Minuten vor Ladenöffnung fand ich mich mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter vor der Filiale eines großen Elektronikfachmarkts am Leipziger Hauptbahnhof ein und wartete (un)geduldig auf den Moment, in dem die Türen sich öffnen würden. Doch auch wenn jeder der Anwesenden unter den Ersten sein wollte: Von Gedränge konnte keine Rede sein. Bestenfalls ein Dutzend Enthusiasten kreuzten auf, und eine der Wartenden hörte ich später noch sagen, dass zu derartigen Anlässen früher aber mehr Andrang war.

Ob sich hier der Misserfolg des ersehnten Produkts bereits andeutete oder ob die unsichtbare Mehrheit der Interessierten das Objekt ihrer Begierde schlichtweg lieber online und/oder vorbestellt hatte, vermag ich nicht zu sagen. Sicher ist, dass es damals noch genügte, in aller Frühe in ein Geschäft zu gehen, um eine große neue Heimkonsole – denn um eine solche geht es – am Erscheinungstag mit nach Hause nehmen zu nehmen. Als die Türen sich schließlich öffneten, ging es zielstrebig und schnellen Schrittes nach oben in den zweiten Stock, betont gefasst, doch wachen Blickes, nach der begehrten Ware Ausschau haltend. Die Rede ist natürlich von der Nintendo Wii U, die vor exakt zehn Jahren (also am 30. November 2012) in Europa in die Läden kam – rund zwei Wochen später als in den USA.

Direkt am Ende der Treppe stand sie dann, eine Palette mit Wii U-Konsolen – vergleichsweise große Kartons, schließlich lag zumindest dem beliebteren Premium-Pack ein ganzer Haufen Zubehör bei. Es war absolut nicht schwer, ein Exemplar zu ergattern, für mich und alle anderen, die früh da waren. Ich bin mir sicher, keiner von den Anwesenden ging leer aus. Ob die Konsole später am Tag ausverkauft war oder nicht, kann ich allerdings nicht sagen.

Nachdem ich mir einen Karton geschnappt hatte, sah ich mich noch kurz im Laden um, vor allem im Spieleregal. Am Ende aber beschränkte ich meinen Einkauf auf das Premium-Bundle der Wii U. Das enthielt die Konsole in der Farbe Schwarz statt Weiß und mit 32 statt 8 GB Speicher sowie diverses Zubehör. Außerdem lag diesem Bundle der (zu Unrecht unterschätzte) Showcase-Titel Nintendo Land bereits bei.


Ich wollte aber unbedingt auch ein „richtiges“ Spiel, eines, das eine Geschichte erzählt, mit einer Spielwelt, die mich einige Wochen lang beschäftigen würde. (Auf der Wii ergänzte sechs Jahre zuvor Zelda: Twilight Princess in gleicher Funktion das obligatorisch beigelegte Wii Sports.)

Da ich weder eine PlayStation 3 noch eine Xbox 360 besaß, sondern lediglich eine Wii, und die Wii U deshalb meine erste HD-Konsole war, störte es mich nicht, dass der überwiegende Teil des Dritthersteller-Launch-Line-Ups aus Umsetzungen von Spielen bestand, die auf anderen Systemen teilweise schon früher erschienen waren. Im Gegenteil. Besonders begeistert war ich von dem, was ich von Assassin’s Creed III bis dahin gesehen hatte, und die Aussicht darauf, diesen und andere AAA-Blockbuster endlich auch spielen zu können, hatte mich zum Kauf der Wii U mindestens genauso sehr bewogen wie die Spiele von Nintendo selbst (zumal das First-Party-Line-Up eher dürftig war und ein neues 2D-Mario, egal wie gut, nicht unbedingt das, was ich von einer innovativen Next-Gen-Konsole erwartete).

Der Zufall wollte es, dass sich gerade im Sommer vor Erscheinen der Wii U mein treuer Röhrenfernseher in die ewigen Jagdgründe verabschiedet hatte, sodass ich passend zum Erscheinen der Wii U (also meiner ersten HD-Konsole) auch endlich über ein HDTV-Gerät verfügte. Anderenfalls hätte ich mit dem Kauf der Wii U vermutlich gewartet, da ich weder die Lust gehabt hätte, grafisch beeindruckende Next-Gen-Spiele auf einem Röhren-TV zu spielen, noch einen funktionierenden TV auszurangieren, nur wegen einer neuen Konsole.

Doch zurück zu Assassin’s Creed III, das ich also nicht gemeinsam mit der Wii U im eingangs erwähnten Elektronikfachmarkt kaufte, sondern in der protzigen Filiale einer einstmals großen Warenhauskette. (Nicht nur, dass die damals noch existierte – sie hatte auch noch eine Videospiel-Abteilung!) Der Grund dafür war schlichtweg der, dass Assassin’s Creed III dort zehn Euro günstiger war. Das wusste ich, weil ich schon am Vorabend kurz vorbeigeschaut hatte, um zu gucken, ob ein in Videospiel-Dingen eher unbedarfter Händler die Wii U nicht vielleicht schon einen Abend früher unter die Leute bringen würde. Und tatsächlich standen am Abend des 29. November diverse Wii U-Spiele bereits im Regal (während das im besagten Elektronikfachmarkt noch nicht der Fall war). Nur die Konsolen, die waren nirgendwo zu sehen.

Dass ich bei Assassin’s Creed III nicht trotzdem sofort zugegriffen habe, lag zum einen daran, dass ich nicht wusste, dass es im Fachgeschäft einen ganzen Zehner teurer sein würde, und zum anderen konnte ich mir nicht zu 100 Prozent sicher sein, dass ich am kommenden Tag auch tatsächlich eine Wii U-Konsole ergattern würde. Schlimmstenfalls stünde ich mit einem teuren Day-One-Spielekauf da, den ich noch nicht einmal zocken könnte. Und so hieß es also nach dem erfolgreichen Konsolenkauf: Noch fix ans andere Ende der Innenstadt gelaufen und mit meiner nagelneuen Wii U im Gepäck ganz nach oben in den vierten Stock gerolltreppt, Assassin’s Creed eintüten!


Daheim angekommen dann das erwartbare Programm: Wii U angeschlossen, ausgepackt und konfiguriert, und dann, natürlich, mit Nintendo Land begonnen. Nachdem ich in die meisten der dort enthaltenen Minispiele zumindest einmal reingespielt hatte, verbrachte ich den Rest des Tages mit Assassin’s Creed III, das dann auch das Spiel sein sollte, das in den darauffolgenden Tagen am längsten im Laufwerk rotierte. Wenn ich nicht länger als Halbblut durchs Grenzland streifen wollte, legte ich aber auch immer gern Nintendo Land ein. Intensiver spielte ich es dann, als ich mit Assassin’s Creed III fertig war bzw. nur noch Fleißaufgaben zu erledigen hatte.

Neben diesen beiden Spielen begeisterte mich das Miiverse, das gerade zu Beginn ein wunderbarer Ort war, durch den sich auch in Singleplayer-Games ein ganz neues Gefühl des „Miteinanderspielens“ einstellte, wie ich es zuletzt während meiner Schulzeit erlebt hatte, wenn man sich im Schulbus über die Spielfortschritte vom Vortag austauschte.


Ich bin zwar noch nicht „alt“; trotzdem weiß ich nicht, ob ich in meinem Leben noch einmal eine Konsole am Erscheinungstag erwerben werde. Und selbst wenn, dann wird es sicherlich anders ablaufen als damals, an jenem frostigen Morgen am 30. November 2012, als die Temperaturen kaum über den Gefrierpunkt kletterten. Zwar liefen die Verkaufsstarts von PlayStation 5 und Xbox Series X/S auch aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Beschränkungen anders ab, als das unter „normalen“ Umständen der Fall gewesen wäre. Aber auch ohne solche erschwerenden Umstände muss man wohl davon ausgehen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man eine heiß erwartete Konsole am Veröffentlichungstag kaufen konnte – einfach indem man früh genug vor der Ladentür stand.

Ich bedaure das sehr, zumal es (abseits von dedizierten Events, wie etwa Spielemessen) nicht oft passiert, dass das Hobby Videospiele sich aus den heimischen vier Wänden Bahn bricht und deutlich sichtbar in die Öffentlichkeit drängt, zumal als kollektives Happening. Ungefähr einmal in fünf Jahren konnte man sich einen Morgen lang auch als ganz gewöhnlicher Videospieler fühlen wie der Anhänger eines Fußballteams auf dem Weg ins Stadion: (vor)freudig erregt, aber auch ein bisschen in Sorge ob des Ergebnisses, das kommen möge, begleitet von Fremden, gleichwohl Gleichgesinnten – und/oder: Konkurrenten.

Heutzutage spielen sich Hardware-Launches als soziale Ereignisse hauptsächlich online ab – befördert auch dadurch, dass die Konsolen mittlerweile direkt mit den einschlägigen sozialen Netzwerken verknüpft sind und man erste Spieleindrücke aus den Spielen heraus teilen kann. Diese Art des Austausches mag einem nicht unbeträchtlichen Teil der Spielerschaft Freude bereiten, doch was mich betrifft, sind soziale Netzwerke kein Ort, an dem ich verweilen möchte, wenn verdammt nochmal eine neue Spielkonsole in der Wohnung steht. (OMG! Woohoo!)


Dass es das Erlebnis Konsolen-Launch als öffentliches Vor-Ort-Ereignis nicht mehr gibt – und vermutlich nicht mehr geben wird – ist für mich einer der Gründe (wenn auch nicht der ausschlaggebende), weshalb mein Bedürfnis, eine neue Konsole unbedingt am ersten Tag besitzen zu wollen, nicht mehr dasselbe ist wie früher. Ohne die Möglichkeit des unmittelbaren Kaufs vor Ort und die damit verbundenen Sinneseindrücke ist der Zauber einfach ein Stück weit verloren. Ich will nicht, dass mein Nervenkitzel sich darauf beschränkt, ob der Paketbote rechtzeitig kommt – ich möchte einen denkwürdigen Tag erleben und mir meine Konsole „verdienen“. Und wenn nicht? „Dank“ Social Media, dank einer Fülle von Videos, Streams und Hands-on-Berichten muss ich eine neue Hardware nicht mal mehr selbst besitzen, um „day one“ an den ersten Eindrücken teilzuhaben.

Oder wie der berüchtigte Einhornsammler Haggard einst sagte: „Ich kann warten. Das Ende ist dasselbe, ich kann warten.“ [sk]


Mehr zum Thema:
  • Zeitgenössische Eindrücke vom Launch auf dem Blog einer bekannten Leipziger Retro-Games-Händlerin: Wii U – kaufen oder nicht? (retro-games-blog.de, Jasmin)