Der 600. Beitrag bei SPIELKRITIK.

Umweltdarstellungen in Videospielen sind enorm vielfältig. Das gilt für das, was sie darstellen, also für ihre Motive, genauso wie für ihre Funktionen in den Spielen. Malerische Landschaften begegnen uns ebenso wie ökologische Dystopien. Mal müssen wir uns einer feindseligen Umwelt gegenüber behaupten, ein anderes Mal versetzen uns erhabene Naturkulissen ins Staunen, ohne dass wir viel mit ihnen zu schaffen haben. In wieder anderen Fällen beuten wir unsere virtuelle Umwelt ganz einfach aus – manchmal mit Konsequenzen, oft ganz ohne. Doch ist neben alledem auch Platz für Harmonie? Fürs Schwelgen im Idyllischen?


In der Kunst und in der Literatur haben Darstellungen des Idyllischen eine lange – tatsächlich jahrtausendealte – Tradition. Eine Idylle – in ihrer ursprünglichen Bedeutung – vermittelt uns ein harmonisch verklärtes ländliches Leben. Sie ist eine Form der „heilen Welt“, charakterisiert durch ein Leben in bzw. im Einklang mit der umgebenden Natur. Das Schwelgen im Idyllischen bedient Sehnsüchte und kann als Eskapismus oder Weltflucht angesehen werden.

Bekanntlich werden auch Videospielen oftmals eskapistische Qualitäten zugeschrieben. Dennoch begegnet uns die Idylle in Videospielen eher selten. Der Grund dafür liegt meines Erachtens auf der Hand: So fehlen der Idylle (qua ihrer Definition) die erforderlichen Konflikte, die für meisten etablierten Spielkonzepte unabdingbar sind. (Demgegenüber sind ökologische Dystopien als Szenarien für Videospiele besonders reizvoll, da sie – nach Game-Design-Gesichtspunkten – viele praktische Vorzüge mit sich bringen.)

Einige Ausnahmen gibt es aber. Und gerade weil sie so selten sind, und weil sie den Prinzipien der meisten zeitgenössischen Spielmechaniken so sehr widersprechen, sollte es interessant sein, zu schauen, wo – und in welchen Ausprägungen – Darstellungen einer Idylle in Videospielen schließlich doch auftauchen.


Kapitel 1

Das Idyll als Episode: Vergänglichkeit und Nostalgie

Zum einen begegnet uns die Idylle in Spielen als Episode. Dazu zählen auch die Zwischenstation (auf dem Weg zum nächsten Abenteuer) bzw. die Idylle als Destination und Belohnung am Spielende. Die Idylle ist dann ein räumlich begrenzter Teilbereich einer Spielwelt, oder aber eine zeitlich begrenzte Episode in der Spielhandlung. So gibt es zahlreiche Spiele, die in einer Idylle beginnen – vor allem längere, auf ihre Erzählung fokussierte Abenteuer, wie zum Beispiel Rollenspiele.

Ein passendes Beispiel ist Zelda: Ocarina of Time aus dem Jahr 1998 (und auch einige andere Zelda-Spiele). Das Kokiri-Dorf, in dem der Held aufwächst, trägt Züge eines Garten Eden (die Uridylle der christlich geprägten Welt, die jedoch auch in anderen Kulturkreisen Entsprechungen kennt). Es ist im Wald gelegen und seine Bewohner leben im Einklang mit der Natur. Sie altern nicht, sondern bleiben für immer Kinder (wie der gleichermaßen grünbemützte Peter Pan). Gleichzeitig gilt das Verbot, das Dorf zu verlassen. Wie in zahlreichen realweltlichen Religionen auch, kommt einem heiligen Baum eine besondere Bedeutung zu: Der sogenannte Deku-Baum fungiert daher als Hüter des Kokiri-Waldes (und zugleich als erster Schwellenwächter).

Gleichwohl ist der Held, Link, gezwungen, die Idylle zu verlassen, um sein Schicksal zu erfüllen. Gerade in japanischen Rollenspielen ist das Verlassen des Heimatdorfes – und damit also der dörflichen Idylle – ein immer wiederkehrender Topos. Die geläufigsten Gründe für den Auszug aus der Idylle sind dabei: Kulturelle Initiationsriten, persönliche Beweggründe (zum Beispiel Rache, die Suche nach einem Familienmitglied, oder eine Kombination aus beidem) oder die unvermittelte Zerstörung der Idylle durch einen Feind von außen.

Ein fabelhaftes Beispiel für letztere Variante ist auch das tschechische Rollenspiel Kingdom Come: Deliverance aus dem Jahr 2018. Gleichzeitig hat die Idylle dort – genau wie in Ocarina of Time – neben der erzählerischen auch eine spielerische Funktion: Sie ist ein sicherer Raum, in dem uns die Grundlagen der Spielmechanik nahegebracht werden, bevor wir in der „weiten Welt“, jenseits des uns vertrauten Heimatdorfes, auf die Probe gestellt werden. Das bedeutet nicht, dass das Leben im Dörfchen Skalitz frei von Konflikten dargestellt würde. Aber sterben wird beim Kampf mit dem Holzschwert, oder beim Werfen von Exkrementen auf das Haus des „Deutschen“ sicherlich niemand.


Zum anderen gibt es Spiele, die in einer Idylle enden, oder vermeintlich enden. Ich denke da zum Beispiel an die Episode auf der Farm nahe dem Ende von The Last of Us Part II. (Bitte beachtet: Es folgen vage Spoiler.) Der Protagonistin wird ein ruhiges Leben auf dem Land und inmitten der Familie als möglicher Endpunkt einer entbehrungsreichen Reise offeriert. Für uns als Spieler kommen diese Umstände gänzlich unvermittelt und stehen in scharfem Kontrast zur vorangegangenen Gewalt. Für eine Weile dürfen wir an der Idylle teilhaben, die uns genauso fremd und nachgerade unwirklich vorkommt wie der Protagonistin – wenn auch aus anderen Gründen. Denn bald schon zeigt sich: Die Rachegelüste unserer Protagonistin lassen eine Sesshaftigkeit im Idyllischen nicht zu. Ellie gibt die Idylle auf und begibt sich abermals auf einen Rachefeldzug.

Die Idylle dient somit als Kontrapunkt, von dem ausgehend die nachfolgenden Ereignisse eine besondere Tragik entfalten. Im Zuge dessen kommt es auch zu einem potentiellen Bruch zwischen den Wünschen und Bedürfnissen der Hauptfigur und denen des Spielers – dem die Idylle als versöhnlicher (und vermutlich auch erstrebenswerter) Spielabschluss erscheint, und der in seinem Denken längst „weiter“ ist als Ellie: der ahnt, dass die Protagonistin sich mit ihrer Entscheidung keinen Gefallen tut. Eine – mit Sicherheit beabsichtigte – Entfremdung bzw. Distanzierung von der „Heldin“ und ihrem Handeln ist die Folge.


Die Suche nach Zuflucht, Sicherheit und persönlichem Frieden – oder zunächst auch nur die Sehnsucht nach einem klaren, blauen Himmel – bestimmt auch die Handlung des First-Person-Shooters Metro Exodus aus dem Jahr 2019. Das Setting hier ist ein atomar verseuchtes Russland: Auch malerische Landschaften können sich als tödlich entpuppen. Eine zusätzliche Gefahr geht von unterschiedlichsten gewalttätigen Gruppierungen aus, die dem gesamten politischen (und psychotischen) Spektrum entstammen. Anders als die haben der rechtschaffene Held Artyom und seine Gefährten scheinbar keinen Platz in der postapokalyptischen Welt. (Man kann in ihrer Odyssee einen Kommentar auf die postsowjetische Realität sehen, die das ukrainische Entwicklerteam veranlasste, 2014 nach Malta umzusiedeln.) Das schlussendliche Erreichen der ersehnten Idylle – hier an den Ufern des Baikalsees – muss deshalb auch in Metro Exodus mit tragischen Verlusten bezahlt werden.

Ansonsten ist die Inszenierung der Idylle am Spielende von Metro Exodus typisch für Videospiele. Und zwar dahingehend, als das Leben in der Idylle nicht tatsächlich spielerisch erfahrbar ist, sondern uns lediglich in Form einer abschließenden Videosequenz nahegebracht wird. Wie in unzähligen anderen Spielen auch fungiert die Verwirklichung der Idylle somit einerseits als Belohnung für das erfolgreiche Absolvieren des Spiels; sie markiert aber andererseits auch den Endpunkt der spielerischen Interaktion. Ist die Idylle erst einmal erreicht, können wir den Controller beiseitelegen. Wir haben unsere Schuldigkeit getan und müssen gehen.

Eine Ausnahme bildet Shenmue II (2000). Auf ausgedehnte Spielabschnitte in der Großstadt und einen actionlastigen Spielhöhepunkt folgt (nach einem letzten Wechsel der Spiel-Disc) ein mehrere Stunden umfassender Schlussteil, der ohne Gegner und nahezu ohne spielerische Herausforderungen auskommt. Stattdessen durchqueren wir mit Hauptcharakter Ryo einfach „nur“eine malerische Landschaft im Süden Chinas, während wir in Dialogen an das naturverbundene Leben herangeführt werden. Die Idylle als Belohnung ist somit ausnahmsweise auch spielerisch erfahrbar und schließt das Spiel auf ungewohnte und befriedigende Weise ab. (Spieler, die dieses kontemplative Ende anders empfinden, hatten vermutlich auch sonst nicht viel Freude mit der Shenmue-Reihe.)


Bis hierher können wir festhalten: Ein harmonisches Leben inmitten der Natur erscheint auch in Spielen als erstrebenswertes Ideal. Oft wird es als harmonischer „Naturzustand“ dargestellt, der in aller Regel – auf die eine oder andere Weise, und aus den einen oder anderen Gründen – verloren gegangen ist. Die Idylle in Videospielen ist also zumeist vergänglich. Sie nimmt ihren eigenen Verlust vorweg oder folgt, als Trost, auf einen solchen.

Gleichzeitig ist die Idylle am Spielbeginn ein Sinnbild für Unschuld, das allerdings auch seine Kehrseite hat, und deshalb verloren gehen muss. Häufig prägen Unwissen und eine Ahnungslosigkeit ob der tatsächlichen Beschaffenheit der Welt das Leben im Idyll. So gesehen gibt es Überschneidungen zwischen der Idylle und einer sokratischen Höhle. Erst mit dem (oft widerwilligen) Auszug aus dem Idyll ist der Held in der Lage, seine Potentiale zu entdecken und sein Schicksal zu erfüllen. KCDs Heinrich von Skalitz etwa ist bei näherer Betrachtung auch nur ein mittelalterlicher Luke Skywalker, der mit der dörflichen Idylle im Grunde nicht viel anzufangen weiß.

Vor allem aber ist festzustellen, dass die in Spielen sonst gültigen Spielmechaniken mit den Charakteristika der Idylle (welche die Idylle erst zur Idylle machen) in der Regel nicht kompatibel sind. Das gewohnte Spielgeschehen pausiert oder endet deshalb mit Erreichen der Idylle (sofern diese keinen Trainingsraum für Kommendes darstellt, dem Abenteuer also vorausgeht). Somit bleibt die Idylle auch in Spielen ein in der Regel schwer fassbarer und nur in wenigen Fällen aus erster Hand erfahrbarer Sehnsuchtsraum.


Kapitel 2

Naturidylle als Genre: Gegenkultur oder Rückzug ins Private?

Ein Genre gibt es allerdings, das sich ganz der ländlichen Idylle verschrieben hat: die Farmsimulationen. Das finde ich schon deshalb spannend, weil sich hier der Kreis schließt, zu den Ursprüngen der „Idylle“. Der Begriff der Idylle entstammt nämlich ursprünglich der griechischen Antike und meinte dort eine spezifische literarische Gattung: das Hirtengedicht. Und da ist es doch passend – und in seiner Kontinuität geradezu beruhigend – dass die vorherrschende Form der Idylle in Videospielen der Bauernhof ist.

Die Ursprünge des Genres liegen im Spiel Harvest Moon, das 1996 für das Super Nintendo erschienen ist. Im Mittelpunkt des Spiels (sowie seiner zahlreichen Nachfolger und Nachahmer) steht die Bewirtschaftung eines Bauernhofes. Anders als zuvor argumentiert, taugt die ländliche Idylle in diesem Fall als Handlungshintergrund, da die im bäuerlichen Alltag zu verrichtenden Tätigkeiten erfolgreich in Spielmechaniken übertragen wurden. Das bedeutet zugleich: Die Idylle von Harvest Moon ist eine arbeitsame Idylle (wenn auch ohne den Konkurrenzgedanken und das unbegrenzte Expansionsstreben „echter“ Wirtschaftssimulationen).

Harvest Moon romantisiert das vermeintliche einfache Landleben sowie die Härte und Monotonie landwirtschaftlichen Arbeitens, das körperliches Arbeiten ist. Die meisten technologischen Errungenschaften der Moderne (wie Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen) spielen in der Welt von Harvest Moon keine Rolle. Das ersehnte Ideal ist somit ein eher archaisches Landleben, in dem das Glück des Landwirts darin besteht, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen.

Tatsächlich fühlten sich Farmsimulationen gerade in den Kindertagen des Genres „wie Arbeit an“ und boten wenig Raum zur individuellen kreativen Entfaltung. Der Weg zum Erfolg in Harvest Moon (1996) und seinen ersten Fortsetzungen ist weitestgehend vorbestimmt und folgt gängigen sozialen Normen und Erwartungen. Der fortschreitende Ausbau der eigenen Farm wird begleitet von der gleichermaßen fortschreitenden Sozialisation des zugezogenen Protagonisten in der Dorfgemeinschaft, die im Idealfall in Heirat und der Geburt des ersten Kindes mündet, wobei die Frau – hat man ihre Gunst erstmal erworben – eine auffällig untergeordnete und passive Rolle einnimmt.

Dennoch vermittelt Harvest Moon ein Gesellschaftsbild, das nicht zuerst konservativ ist, sondern anti-urban und anti-modern. Bei aller Konformität auf der familiären Ebene stellt das Spiel deshalb auch und gerade einen eskapistischen Gegenentwurf zum beschleunigten Großstadtleben und den kapitalistischen Paradigmen im Japan der Mitt-1990er dar. Familiäres Glück, Naturverbundenheit und die simplen Freuden eines bescheidenen Lebens werden zum erstrebenswerten Idealzustand verklärt, wie auch schon die griechische Antike das verlorene Goldene Zeitalter mit dem Idyll des Schäferdaseins gleichsetzte. Dabei liegt es nahe, in Harvest Moon auch die nostalgischen Kindheitserinnerungen seiner Macher reflektiert zu sehen, die in den 1970ern oder früher aufwuchsen, und mindestens im Falle des Produzenten Yasuhiro Wada auch tatsächlich auf dem Land.


Zu den kodifizierten Merkmalen einer Farmsimulation gehört auch, dass Leben und Arbeit im Einklang mit den Jahreszeiten verlaufen (deren Simulation wir in Videospielen ansonsten eher selten erleben). Darauf deutet auch der spätere Name der Reihe hin: „Story of Seasons“. (Aus markenrechtlichen Gründen wird der frühere Name der Reihe heute von einer konkurrierenden Serie von Farmsimulationen genutzt.) Das virtuelle Leben im Rhythmus der Natur bedingt dabei zugleich ein gewisses Ausgeliefertsein und engt unseren landwirtschaftlichen Tätigkeitsspielraum ein.

Aufschlussreich ist jedoch, dass späteren Ablegern der Reihe (und ihren verschiedenen Nachahmern) immer mehr daran gelegen ist, die – gleichermaßen repetitive wie meditative – Monotonie der alltäglichen Landarbeit – die für das Genre zunächst typisch war – aufzubrechen, d.h. für mehr Abwechslung zu sorgen, mehr Kreativität zu erlauben, und spielerische „Leerstellen“ mit Inhalten zu füllen bzw. monotone Tätigkeiten zu automatisieren.

So wurde es zum Beispiel ziemlich bald schon möglich, bestimmte Feldfrüchte auch im Winter anzubauen. Dieser stellte im ersten Harvest Moon noch eine ausgewiesene Ruhephase dar und zwang geradezu dazu, sich anderen Dingen zu widmen: sich mit den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes zu sozialisieren, Holz zu hacken oder Steine zu klopfen, oder einfach nur zur Ruhe zu kommen und die Umwelt und das eigene Dasein zu reflektieren.


Die Entwicklung weg von der fast schon asketischen Einfachheit der frühesten Harvest-Moon-Spiele wird in Stardew Valley aus dem Jahr 2016 auf die Spitze getrieben. Ohne die Grundidee zu ändern, revitalisierte das Ein-Mann-Indie-Projekt das seit Jahrzehnten stagnierende Genre. Ein „Harvest Moon“ für eine neue Generation von Spielerinnen war geboren. Vergleicht man es mit seinem Ahnen, hat man es fürwahr mit Spielen aus verschiedenen Generationen zu tun. Damit meine ich nicht die üblicherweise rund fünf Jahre währenden Hardwarezyklen, sondern tatsächlich eine neue Generation von Spielerinnen bzw. Entwicklerinnen. Bei aller Idylle – „cosy“ und „wholesome“ und insgesamt stärker auf ein soziales Miteinander ausgerichtet – ist Stardew Valley sehr viel stärker von modernen marktwirtschaftlichen Prinzipien durchdrungen als Harvest Moon es war. Während zeitgenössische Ideale wie „Selbstverwirklichung“ und kreative Entfaltung einen höheren Stellenwert eingeräumt bekommen, gilt dies analog auch für Optimierungs- und Wachstumsprinzipien. Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung und Angebote zur gedanklichen Zerstreuung gehen Hand in Hand und besetzen die spielmechanischen Nischen, die einst zur Kontemplation einluden.

Im Allgemeinen gilt: Das Landleben in Stardew Valley ist mit weniger Entbehrungen verbunden und erfordert weniger Genügsamkeit. Es ist allerdings auch komplexer geworden. Wie es im echten Leben mitunter auch der Fall ist, übersteigt die Palette der Möglichkeiten schnell die Grenzen des tatsächlich Machbaren. Hat sich das Genre vom ursprünglichen Ideal der Idylle also entfernt?

Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass eine vollständige Abkehr von den Errungenschaften der Moderne für die Spielergeneration der Digital-Natives nicht mehr wünschenswert oder auch nur denkbar ist – anders als für die Entwickler, die Mitte der 1990er Harvest Moon schufen und selbst in vordigitalen Zeiten aufwuchsen. Auch das kulturelle Umfeld wird eine Rolle spielen: Harvest Moon war ein Produkt des japanischen Großstadtlebens der 90er Jahre und stellte eine Art Verweigerungshaltung diesem gegenüber dar. Vermutlich deshalb wird „ehrliche“, körperliche Arbeit so sehr zelebriert, eine bescheidene Lebensweise (anders als in manchen neueren Farmsimulationen locken noch keine Luxus-Upgrades) und eine gleichmütige Akzeptanz der Härten. Ein – auch moralisch – kontrastierender Lebensentwurf zur schnelllebigen Dekadenz der kurz zuvor implodierten Bubble-Economy – ob gewollt oder nicht.


Auch sein aus heutiger Sicht konservativ anmutendes Familienbild muss im Kontext seiner Zeit gesehen werden: Als japanisches Spiel der Mitt-1990er reproduziert Harvest Moon die in seinem Entstehungsumfeld weitestgehend unangefochtenen Normen und Ideale lediglich. Zwar werden diese integrale Bestandteile der vermittelten Idylle, und damit potentiell verfestigt, aber eben auch nicht mehr als das. Als Produkt seiner Zeit darf Harvest Moon (1996) deshalb nicht als reaktionäres Vehikel zur Propagandierung reaktionärer Wertvorstellungen missgedeutet werden. Anders verhielte es sich, wenn das Spiel in identischer Form heute erst erscheinen würde.

Doch die populärste Farmsimulation unserer Tage ist anders. Stardew Valley entstand nicht nur 20 Jahre später, sondern entspringt seinerseits den linksliberalen, online-affinen Milieu der US-amerikanischen Westküste. Es sieht in der Naturidylle weniger eine Rückkehr zum vermeintlich Ursprünglichen und Einfachen, in dem es gilt, sich und seine Hartnäckigkeit zu beweisen, sondern einen fruchtbaren Sehnsuchtsraum im Hier und Jetzt, der angehende Agrar-Entrepreneure mit offenen Armen empfängt und zur Kultivierung nicht nur von landwirtschaftlichen Produkten, sondern auch der eigenen Persönlichkeit einlädt.

Anders als Harvest Moon stellt Stardew Valley die Systemfrage nicht: In einem Umfeld, in dem das Extrem „antikapitalistischer“ Vorstellungskraft der wöchentliche „Farmer’s Market“ ist, vollzieht sich die Rückkehr zur Natur in kapitalismuskompatiblen Parametern. Passend dazu ist die dörfliche Gesellschaft in Stardew Valley auch kein konservativ geprägter Raum der Hängengebliebenen, sondern die tolerante Spielwiese einer hippen, letztlich urban sozialisierten Jugend. Dass auch in Pelican Town nicht immer alles rosig ist, verleiht dem Idyll nur die notwendige Würze: „like an actual small town that has dark secrets hidden behind the charm“. Das Prinzip der harmonischen Verklärung ist also intakt und womöglich sogar ausgeprägter als im Farming-Urahn.

Harvest Moon und Stardew Valley spiegeln – bei allen oberflächlichen Gemeinsamkeiten – damit zwei sehr unterschiedliche Sehnsüchte und Lebens- bzw. Gesellschaftsentwürfe wieder. In beiden Fällen stellt die Hinwendung zur Natur einen Gegenentwurf zu den Zwängen einer der Natur entfremdeten, technologisierten und kapitalisierten Welt dar – in Harvest Moon jedoch als asketische Verweigerungshaltung mit allen damit verbundenen Entbehrungen (und damit letztlich sehr viel radikaler) und in Stardew Valley als behagliches Refugium: ein zeitgeistkompatibler Biedermeier, ein ökologisch nachhaltiger Rückzug ins Private. Mag die Welt auch vor die Hunde gehen, in meinem autarken Garten bin ich Mensch, dort darf ich’s sein.


Keine Farmsimulation, aber ebenfalls eine naturnahe Idylle ist Animal Crossing (seit 2001, bzw. seit 2003 in Europa). Die spielmechanischen Gemeinsamkeiten mit Harvest Moon sind überschaubar, da Animal Crossing keine landwirtschaftliche Produktion zum Ziel hat und es sich nicht um eine Wirtschaftssimulation handelt. Der Schwerpunkt liegt auf dem sozialen Miteinander, während direkte Interaktionen mit der umgebenden Natur auf wenige Tätigkeiten beschränkt bleiben. Gleichzeitig ist aber auch die Spielwelt von Animal Crossing in erheblichem Maße kapitalistisch durchdrungen: Zwar werden kapitalistische Prinzipien überspitzt dargestellt und ironisch gebrochen, jedoch nicht grundsätzlich infrage gestellt, sondern eher noch bekräftigt – was auch daran liegt, dass wir auf spielerische Weise an ihnen teilhaben. Für eine vermeintliche Idylle ist Geld in Animal Crossing auffallend allgegenwärtig.

Bei näherem Hinsehen ist dem Spiel außerdem sehr an der Vermittlung weniger von zwischenmenschlichen Werten als vielmehr von gesellschaftlich akzeptierten Normen gelegen, sowie an der Verinnerlichung und Einhaltung sozial konformen Verhaltens. Implizit oder explizit wird das Spielerhandeln immer wieder wertend betrachtet, seien es späte Schlafenszeiten, längere Abwesenheiten, oder die Möblierung unserer eigenen vier Wände. Mindestens implizit wird von der Spielerin erwartet, sich möglichst reibungsarm in die bestehende Gemeinschaft einzufügen – d.h. einen positiven Beitrag zu leisten und regelmäßigen Umgang mit den Nachbarn zu pflegen. Ein deutlicher Kontrast zum romantischen Einzelgängertum von Harvest Moon, wo wir auch innerhalb der Dorfgemeinschaft stets Außenseiter blieben.

Ein Untertitel wie „Wild World“ ist somit nicht mehr als ein bedeutungsloser Euphemismus für ein Habitat, in dem die Nachbarn stets ein Auge auf uns haben und maximal das Unkraut macht, was es will. Dass niedliche Tiere in Wäldern durchaus dazu taugen, romantische Vorstellungen kleinstädtischer Idylle zu dekonstruieren, kann man immerhin in Night in the Woods (2017) sehen.

Rein kosmetischer Natur ist die Idylle schließlich im deutschen Spiel Dorfromantik aus dem Jahr 2021. Vage nostalgische Sehnsüchte werden hier zum harmlos-milden Pastell-Exzess umgeformt. Ich für meinen Teil tue mich jedoch gerade in diesem Fall schwer, mich von der bedrohlich anmutenden Phalanx aus immer gleichen güldenen Kornfeldern, Seelandschaften und von Windmühlen gezierten Dörfern nicht an Zeiten erinnert zu fühlen, in denen Abweichungen von der gesellschaftlich akzeptierten „Norm“ auf entschieden weniger Verständnis stießen und „Lebensräume“ in gewisse Himmelsrichtungen erschlossen werden sollten. Das rebellische Element eines Harvest Moon fehlt in Dorfromantik genauso wie eine Entsprechung des Idyllischen im Gameplay. [sk]


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