„Wieso machen sie uns so menschlich, wenn sie solche Angst davor haben, dass wir uns wie Menschen verhalten?“, fragt einer der Androiden, die wir in Silicon Dreams verhören. Als Qualitätsmanager des weltweit größten Herstellers für menschenähnliche Androiden ist es unsere Aufgabe, Androiden zu beurteilen, die Geschäfts- oder Privatkunden zur Reklamation einreichen. Funktionieren die humanoiden Produkte einwandfrei oder ist die Recyclinganlage der letzte Weg, ihre psychischen Abweichungen zu beheben?

»Silicon Dreams« ist wie »Papers, Please« mit einer zusätzlichen Ebene: Die Charaktere, über die wir urteilen, sind keine Menschen – so schwierig es auch sein mag, die Roboter von tatsächlichen Menschen zu unterscheiden. Mittels dieser bewährten Prämisse spielt Silicon Dreams die gesamte Klaviatur der ethischen Konflikte um menschenähnliche Androiden von »Blade Runner« bis »Detroit: Become Human«. Noch mehr als seine großen Vorbilder nutzt Silicon Dreams die synthetisch-menschliche Ebene, um emotionale Noten zu betonen.


Träumen Androiden von Menschenrechten?

Dass die Verhörten zwar menschenähnlich, aber nicht menschlich sind, führt dazu, dass wir einigermaßen moralisch fundiert für eine sachliche Behandlung argumentieren können – also dafür, die Androiden als Produkte zu behandeln, obwohl sie nach einem langen Arbeitstag genauso geistig erschöpft sind wie wir.

Über seine gesamte Spieldauer nährt Silicon Dreams die Frage: Ist es angemessen, die Androiden als bloße Objekte zu behandeln, obwohl ihre emotionale Bandbreite der eines Menschen in nichts nachsteht? Zumindest, sofern keine expliziten Beschränkungen bestimmter Emotionen wie Wut oder Trauer für bessere Arbeitstauglichkeit einprogrammiert sind. Letzteres ist ein Eingriff ins (digitale) Persönlichkeitsrecht, der ganz eigene Konflikte birgt.

Der Kniff, der die Verlockung zur entmenschlichenden ethischen Distanzierung vollendet, ist, dass unsere Hauptfigur selbst ein Android ist. In diesem Fall ein Android, der spezifisch dafür optimiert wurde, andere Androiden zu verhören, sie zu bewerten und sachlich über ihre Zukunft zu entscheiden. Da die meisten Spielerinnen und Spieler (zumindest im Jahr 2022 noch) menschlich sein dürften, ist das Abweichen von dieser Programmierung der Hauptfigur schon im Kern der Interaktivität angelegt. Auf der Kehrseite verlockt Silicon Dreams zum Rollenspiel als kühl kalkulierender Androide, der die Karriereleiter erklimmt. Zwischen firmentreuem Stiefellecken und Widerstand von innen schafft das komplexe, aber einfach zu überblickende Dialogsystem Raum für Graustufen.


Das Verhör formt die Anschuldigung

Was hasst ein auf Effizienz gedrillter Cyber-Industriekonzern in seinen QA-Verhören am meisten? Natürlich, Empathie. Bereits nach meinem ersten Verhör erhielt ich meine erste Mahnung: Weniger unnötige Fragen stellen, mehr Customer Centricity Mindset. Anders als die Tinte dieser frühen Abmahnung verlaufen die weiteren Verhöre deutlich weniger schwarz-weiß. Silicon Dreams belohnt Diskretion und ermutigt dazu, gezielt Fragen zu stellen, um selbst die Geschichte zu formen.

Ob verschrotten, zurücksetzen oder freilassen – wieso wir am Ende welches Urteil treffen, überprüft die Mega-Corporation eher nachlässig. Sofern das automatisch aufgezeichnete Gesprächsprotokoll mit unserem Multiple-Choice-Nachbericht sowie unserer finalen Entscheidung halbwegs übereinstimmt, akzeptiert die gesichtslose Kontrollinstanz unsere Argumentation als schlüssig. Heikle Fragen gilt es zu umtanzen; im besten Fall finden wir eine Lösung für den Reklamationsgrund, der niemandem die Schaltkreise kostet. Solche Umwege gehen jedoch immer die Androiden, niemals die Kundinnen und Kunden.

Einer der zu verhörenden Androiden reinigt jede Nacht die gesamte Wohnung seiner Besitzerin, während sie schläft. So steht sie ihm nicht im Weg herum und pünktlich zum Frühstück glitzert der Boden. Klingt nach Win-Win, oder? Schade nur, dass die Besitzerin ihren Roboter so nie beim Putzen sieht. In ihrer subjektiven Wahrnehmung sitzt der Androide den ganzen Tag über vorm Fernseher und genießt seine verdiente Auszeit mit Filmen. Auch, dass der Roboter gerne singt, stößt ihr und der Herstellerfirma als abweichendes Verhalten auf. Dem augenscheinlich faulenzenden Roboter empfehlen wir, zukünftig seine Filme besser direkt in seine Schaltkreise zu streamen, statt sie am großen TV der Besitzerin zu schauen. Auch sollte er lieber im nicht hörbaren Frequenzbereich singen und ab und an tagsüber arbeiten, damit die Besitzerin nicht nur die Sauberkeit sieht, sondern auch, wie diese Sauberkeit entsteht. So ließe sich doch sicherlich ein Zurücksetzen des Speichers des Androiden vermeiden.


Der Feind im eigenen Büro

Im Vergleich zu den bekanntesten Werken, die menschenähnliche Androiden behandeln, agiert Silicon Dreams thematisch breiter. Viele der Konflikte entfalten sich zwischen den Zeilen, greifen alltägliche Situationen auf und lassen sich mit wenig Gedankenakrobatik auf unser menschliches Leben im kapitalistischen System übertragen. Geduldmodule für Androiden in der Altenpflege sind wie Tesafilm auf einem leckenden Öltank und erinnern an die Grenzen der Menschen, die schon 2022 arbeiten müssen, als seien sie Roboter.

Zuweilen dürfen wir in Silicon Dreams sogar Menschen verhören. Zum Beispiel den Ethikprofessor, der daran beteiligt war, den Androiden ursprünglich ihre Emotionen zu verleihen. Sein Grundgedanke ist schlüssig: Intelligente Wesen benötigen Emotionen, um Situationen besser beurteilen zu können und somit effizienter zu arbeiten. Welche Emotionen der Professor als notwendig betrachtet und welche anderen Emotionen – zum Beispiel Angst – nachträglich auf Firmengeheiß implementiert wurden, steht auf einem anderen Blatt.

Silicon Dreams gelingt es, selbst für oberflächlich fragwürdige Entscheidungen überzeugende Pro-Argumente anzuführen. Dadurch entsteht eine authentische Welt, deren Geschichte weit über unseren Schreibtisch, an dem fast das gesamte Spiel stattfindet, hinausgeht.

Die grundlegende Motivation unserer Hauptfigur zu Beginn des Spiels ist, erfolgreich zu arbeiten, um buchstäblich aufzusteigen. Ist die Firma zufrieden, ziehen wir schnell von einem fensterlosen Apartment in ein schönes Penthouse. Genau so schnell kann es aber auch wieder hinabgehen. Ich kam nicht umhin, traurig zu sein, wann immer ich merkte, dass ich meinen Blick auf die neonfarbene Skyline verwirkt hatte – so sehr ich mich auch moralisch auf der richtigen Seite fühlte.

Wie in der realen Welt wird das Leben der Hauptfigur – wenn auch nur abstrahiert – lebenswerter, sobald wir nach oben buckeln und nach unten treten. Meine Strategie im späteren Spielverlauf war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen; nur, um der Firma, deren Vertrauen ich so erlangt hatte, zum kritischen Zeitpunkt den Dolch in den Rücken zu rammen. Dieser Ritt auf Messers Schneide ist die spannendste spielerische Herausforderung in Silicon Dreams.

Leider bedeutet Loyalität zum außerhalb der Bürowände aufkeimenden Widerstand meist lediglich, weniger Fragen zu stellen – also schlampiger zu arbeiten. Kritische Alternativen, Winke mit dem Zaunpfahl, um Androiden zu signalisieren „Ich bin auf deiner Seite“, gibt es nur selten. Schnell wird außerdem deutlich: Was die Hand, die uns füttert, verlangt, ist absolut niemals die moralisch richtige Option. Auch wenn Silicon Dreams auf dieser mechanischen Ebene mit weniger Grauzonen arbeitet als seine Erzählung, bleibt dieses innere Sträuben gegen das System das, was die Geschichte von Anfang bis Ende mitreißend macht. [pg]


Silicon Dreams
Clockwork Bird
PC / Mac / Linux
Erstveröffentlichung: 20. April 2021

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