Vorbei die Zeiten, in denen jeder mittelprächtige Actionstreifen zur doppelt mittelprächtigen Videospielumsetzung verwurstet wurde. Ein »offizielles Spiel zum Film« ist inzwischen auch bei großen Hollywood-Blockbustern die Ausnahme. Ja sogar James Bond – einst als Videospiel-Held fast genauso etabliert wie im Kino – hatte seit sage und schreibe zehn(!) Jahren nicht einen einzigen Konsolenauftritt mehr. Wenn dann doch einmal ein ›Spiel zum Film‹ erscheint, das nicht in irgendeinem Disney-Universum angesiedelt ist, darf man schon mal hellhörig werden und im Best-Case mehr erwarten als 08/15-Lizenzmüll. Ein solcher Best-Case ist »John Wick Hex«.


Eine der besten Filmumsetzungen aller Zeiten? 

Der Einwand sei vorweggenommen, dass »John Wick Hex« gar keine Filmumsetzung ist: Statt der Handlung der Kinovorlage zumindest grob zu folgen – wie es sich für eine »echte« Filmumsetzung gehört? – bedient sich »Hex« des beliebten Kniffs, eine Neben- oder in diesem Fall Vorgeschichte zum ersten der mittlerweile drei John-Wick-Filme zu erzählen. Das verschafft den Entwicklern Bewegungsspielraum und die Möglichkeit, Gameplay und Erzählung aufeinander abzustimmen, statt eine bestehende Handlung in das Korsett einer Actionspielmechanik zwingen zu müssen oder umgekehrt.

Die Hintergrundgeschichte von »John Wick Hex« ist trivial, stellt dem Spielvergnügen allerdings kein Bein. Ein gewisser Hex hat die aus den Filmen bekannten Figuren Winston und Charon entführt, um sich gegen die Herrschaft des sogenannten ›High Table‹ aufzulehnen, eine Art Kriminellen-Dachverband. Auftragskiller John Wick wird losgeschickt, um dem Rebell den Garaus zu machen. Videospiel-typisch müssen zunächst eine Reihe von Untergebenen ausgeschaltet werden, bevor es zur Konfrontation mit Hex kommt. Da zumindest das Writing recht gelungen ist und die prominenten Sprecher – Ian McShane und Lance Reddick, sowie der stets umtriebige Troy Baker als Hex – einen guten Job machen, ist ein gewisser Unterhaltungswert gegeben.

Doch apropos Sprecher: John Wick selbst spricht im Spiel kein einziges Wort und erinnert auch optisch eher nur entfernt an Keanu Reeves. Sorry, Fans. Dafür fängt das Spiel den kühlen, ins Sakrale stilisierten Look der Filmvorlage gut ein, wobei es sich eines Comiclooks bedient, der mich an Telltales »The Wolf Among Us« erinnerte. Die Musikuntermalung – von »Journey«-Komponist Austin Wintory – trägt ihren Teil zur Atmosphäre bei. Einige Stücke würden sich auch »Hotline Miami« gut machen, allerdings ist der Soundtrack weniger wild.


Hotline: John Wick

Dass »John Wick Hex« dem Label ›Filmumsetzung‹ trotz eigenständiger Story gerecht wird, liegt daran, wie treffsicher es die charakteristische Action der Filmvorlage nachzubilden versteht. Auf diese Weise erreicht das Spiel eine Art von »Werktreue«, die weit über das hinausgeht, was andere Filmumsetzungen erreichen, die stärker um das Nacherzählen einer Handlung bemüht sind.

Eiskalt durchchoreographierte Gefechte einer gegen viele – ein Schuss hier, ein Schlag da, zwei Schüsse dort, ein Überwurf, schnell nachgeladen, Kopfschuss, Kniefeger, Kugel zwischen die Augen. Was im Film leicht ausschaut, wäre nicht nur in der Realität, sondern auch in einem Echtzeit-Kampfsystem im Videospiel kaum möglich. »John Wick Hex« tut deshalb gut daran, weder First- noch Third-Person-Shooter noch Brawler zu sein, sondern rundheraus ein Taktikspiel. Huch?

Um die Verwirrung komplett zu machen: »John Wick Hex« ist wie »Hotline Miami«, nur ganz anders. Als Ein-Mann-Killerkommando räumen wir in Nachtclubs, Lagerhallen oder Kunstgalerien auf und erledigen mit einem Mix aus Nah- und Fernangriffen Heerscharen von Feinden. Der Unterschied: Wo »Hotline Miami« Reaktionsvermögen und Geschicklichkeit fordert, und deren Fehlen gnadenlos bestraft, haben wir in »John Wick Hex« alle Zeit der Welt, unseren nächsten Schritt zu planen.

Gleichzeitig ist ›Zeit‹ alles: »Hex« lässt sich als zeitstrahlbasiertes Taktikspiel beschreiben. Jede Aktion – ein Schritt, eine Ausweichrolle, ein Schuss, ein Überwurf, das Nachladen der Waffe – beansprucht eine gewisse Menge von Sekunden oder deren Bruchteile, was in einem Zeitstrahl am oberen Bildschirmrand visualisiert wird. Das gilt auch für unsere Gegner, deren Aktionen in parallel verlaufenden Zeitachsen unter unserer eigenen repräsentiert werden. Haben wir uns für eine Aktion entschieden, schreitet der Lauf der Zeit voran und sämtliche Zeitachsen bewegen sich bis zum Vollendung unserer Aktion fort – sofern sie nicht durch die parallele Aktion eines Gegners vorzeitig unterbrochen wird. Danach pausiert das Geschehen wieder. Eine neue Konstellation ist entstanden und die nächste Entscheidung möchte getroffen werden.

In der Regel kommt es also darauf an, ob unsere eigene Aktion – meist ein Angriff – schneller als der nächste Angriff des Gegners ausgeführt werden kann, und wie sich die Konstellation unserer Widersacher verändert, während John Wick mit dem Ausführen der gewählten Aktion beschäftigt ist. Spätestens im gleichzeitigen Kampf mit mehreren Gegnern erfordert das ein kluges Abwägen der unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten, wobei es gilt, die Positionen der Gegner im Raum, die zahlreichen Deckungsmöglichkeiten und die stets knappe Munition im Auge zu behalten.


Ein Beispiel: Gegner A hat bereits zum Schuss angesetzt und der Zeitstrahl macht mir unmissverständlich klar, dass ich im direkten Duell den Kürzeren ziehen werde. Schneller wäre ich, wenn ich – statt Kugeln auf den Gegner zu feuern – dem Widersacher den ohnehin fast leer geschossenen Revolver ins Gesicht werfe. Dass hätte allerdings zur Folge, dass ich nicht länger eine Waffe habe, um mich eines Gegners B zu erwehren, der seines Zeichens zwar ein unbewaffneter Nahkämpfer ist, aber auch schon auf mich zumarschiert und prädestiniert dafür wäre, aus sicherer Entfernung erschossen zu werden. Reicht die Zeit, um diesen Feind im Nahkampf auszuschalten, bevor Gegner A sich vom Schock des durch die Luft sausenden Revolvers erholt hat und erneut zum Schuss ansetzt? Oder sollte ich die Deckung suchen, zur Seite rollen, um mich mit der einige Meter entfernt liegenden Waffe eines zuvor getöteten Feindes erneut zu bewaffnen – Dinge, die ebenfalls alle Zeit kosten? Sollte ich möglicherweise doch direkt auf Gegner A schießen? Nur weil er schneller schießt als ich – wie der Zeitstrahl zuverlässig anzeigt – muss das nämlich noch nicht heißen, dass sein erster Schuss mich auch tatsächlich treffen wird. Und mein erster Schuss wäre allemal schneller als sein zweiter…

Das Spiel, das einst mit der Idee eines »John Wick Chess« begann, erinnert also tatsächlich ein wenig an Schach. Mit jedem »Zug« entsteht auf dem Spielfeld eine neue Konstellation aus Figuren, potentiellen Gefahren und möglichen Handlungsoptionen. Ein Unterschied zum Schach besteht allerdings darin, dass Spielfeld und Spielfiguren – und somit das Aktionsrepertoire unseres Gegners – in »John Wick Hex« nicht vollständig offen vor uns liegen. Ein dynamischer Fog-of-War verhüllt jene Teile des Spielfeldes, die John Wick – sichtbehindert durch Wände, Kisten und so weiter – nicht einsehen kann. Außerdem tauchen bisweilen zusätzliche Gegner auf, die aus angrenzenden Türen auf das Spielfeld treten, sodass wir uns nie sicher sein können, ob nicht auch von hinten neue Feinde ins Geschehen eingreifen.

Gerade der letzte Punkt könnte Frustpotential bergen, doch ist es den Entwicklern gelungen, die richtige Balance zu finden: zwischen Faktoren, die sich präzise bestimmen lassen, Faktoren, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben, und Faktoren, die sich nicht vorhersehen lassen, mit denen aber gerechnet werden muss. Beispiel: Es ist sicher, dass mein Schuss vor dem Schuss meines Gegners abgefeuert werden wird; es ist wahrscheinlich, dass ich den Gegner mit der gegebenen 70-Prozent-Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich treffen werde; und es ist möglich, dass währenddessen ein weiterer, mir bislang unbekannter Gegner um die Ecke kommt, für den ich im Falle des Falles ein paar Kugeln übrig haben sollte. Nun liegt es an mir, wie offensiv und risikofreudig ich in solchen und ähnlichen Situationen agieren möchte.


Faire Konfrontation

Doch auch in anderer Hinsicht erscheint »John Wick Hex« als faires Spiel: Weder sind wir unseren Feinden auf allzu übermenschliche Weise überlegen, noch muss das Spiel auf unfaire Tricks zurückgreifen, um uns vor eine Herausforderung zu stellen. Stellen wir uns klug an, so ist Mister Wick (wie in den Filmen) einer Übermacht an Gegnern gewachsen, auch ohne offensichtliche Superkräfte. Stellen wir uns weniger klug an, kann bereits eine einzige selbstverschuldet ungünstige Konstellation zwischen zwei oder drei Feinden unseren Tod bedeuten.

Ich fand sogar, dass die Spielmechanik von »Hex« den Fertigkeiten des Auftragskillers eine bizarre Art von Glaubwürdigkeit verleiht: John Wick ist hier kein Übermensch mit Superkräften, sondern ein klug agierender Mann, für den dieselben Regeln und Naturgesetze gelten wie für seine Gegner. Seine Überlegenheit speist sich aus mathematischem Kalkül und daraus, dass er in Sekundenbruchteilen die richtigen – die besseren – Entscheidungen trifft. Zugegeben, wo einem »realen« John Wick Sekundenbruchteile blieben, die den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten würden, dürfen wir in »Hex« auch gern mehrere Minuten nachdenken, ob wir gleich den Abzug drücken oder doch erst einen Schritt zur Seite machen. Und einen zweiten, dritten, vierten Anlauf braucht es oftmals auch, um tatsächlich lebend aus einer der ungleichen Konfrontationen hervorzugehen. Aber ich denke, ihr versteht, welche Art von ›Glaubwürdigkeit‹ ich meine. Wer sich der harten Realität als Auftragskiller weiter annähern möchte, der darf optional auch einen Modus wählen, in dem für jede Entscheidung maximal sieben Sekunden Bedenkzeit zur Verfügung stehen.

Ein erfolgreicher Level-Durchlauf lässt sich anschließend als Replay betrachten, in dem sämtliche Aktionen abzüglich unserer Bedenkzeiten aneinander geschnitten sind. Diese Wiederholungen hätten eine wirklich tolle Belohnung sein können, doch gerade hier verschenkt das Spiel viel Potential und lässt am stärksten erkennen, dass es tatsächlich nur eine bescheiden budgetierte Indie-Produktion ist: Spätestens in der Nahaufnahme erscheinen die Animationen abgehackt, und die automatisch erzeugten Schnitte und Kameraperspektiven wirken dilettantisch bis vollkommen random. Hollywood-Feeling will sich deshalb gerade in den Replays am wenigsten einstellen.

Sollte »John Wick Hex« irgendwann eine Fortsetzung erhalten, böte sich hier das Potential, dem Spieler nach einem erfolgreich abgeschlossenen Level die Möglichkeit in die Hand zu geben, selbst Kameramann bzw. Regisseurin zu sein, Perspektiven, Schnitte und Filter zu wählen. Das erscheint so naheliegend, dass man sich fragt, warum es nicht zumindest in rudimentärer Form implementiert wurde.


Entschleunigung im Action-Genre

“Do you believe that my being stronger or faster
has anything to do with my muscles in this place?”
– Morpheus zu Neo, ›The Matrix‹

»Hex« ist allerdings nicht nur eine ausgesucht intelligente Filmadaption, sondern tut auch dem Action-Genre in Videospielen einen Gefallen. Denn ja, »John Wick Hex« ist ein Action-Game – behaupte ich. Es fühlt sich nämlich ganz wie eines an.

Es ist ein schönes Paradox, dass wir einerseits alle Zeit der Welt haben, unseren jeweils nächsten Schritt zu planen, und dass uns andererseits das Verstreichen der Sekunden stets im Nacken sitzt – unser Handeln bestimmt und uns mitfiebern lässt. So fühlt sich »Hex« nach kurzer Eingewöhnungszeit tatsächlich nicht viel anders an als ein »Hotline Miami«. Man vergisst geradezu, dass John Wicks Reaktionsschnelligkeit auf dem Bildschirm in keinem Bezug zu unserem eigenen Reaktionsvermögen steht, und dass seine Gewandtheit nicht mit unserer eigenen Fingerfertigkeit korrespondiert; sondern dass es allein unsere taktisch klugen Entscheidungen sind – und vielleicht ein bisschen Glück – die den Mann im maßgeschneiderten Anzug zum tödlichen Killer machen.

Das ist nicht nur ein interessanter Twist für Action-Veteranen, die der immer selben Spielkonzepte müde sind. »John Wick Hex« öffnet das Action-Genre auch für ein Publikum, dem der Zugang bislang erschwert war, weil es auf Geschicklichkeit und Reaktionsvermögen basierende Herausforderungen entweder nicht mochte oder schlechthin nicht bewältigen konnte. Variable Schwierigkeitsgrade lösen dieses Problem nur bedingt und hinterlassen nicht selten einen unbefriedigenden Beigeschmack, wenn die Essenz einer Spielmechanik auf der Strecke bleibt. »John Wick Hex« braucht solche Kompromisse nicht zu machen: Es darf ebenso knallhart sein wie »Hotline Miami« und Fehler fast genauso rigoros bestrafen; doch die Skills, die wir brauchen, um seiner Herausforderung gewachsen zu sein, sind andere. So stehen etwaige Defizite in Sachen Fingerfertigkeit oder Reaktionsvermögen unserem Erfolg als Actionheld nicht mehr im Weg.


Mit ungefähr zehn Stunden Länge hatte »John Wick Hex« für mich genau den richtigen Umfang. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass die spielerischen Möglichkeiten sich zum Ende hin erschöpfen, doch in kleineren Dosen hatte ich bis zum Finale meinen Spaß. Sehr viel mehr Zeit möchte ich mit dem Spiel zwar nicht verbringen, lediglich den optionalen 7-Sekunden-Modus werde ich wahrscheinlich noch ausprobieren. Im Falle einer Fortsetzung wäre ich allerdings sofort wieder dabei. Angekündigt ist eine solche bislang nicht und auch sonst sieht es nicht so aus, als habe »Hex« eine Schar von Nachahmern inspiriert. Was schade ist. Doch ein Spielkonzept, das einmal in der Welt ist und erwiesenermaßen funktioniert, das wartet eigentlich nur darauf, kopiert und adaptiert zu werden. [sk]


John Wick Hex
Bithell Games / Good Shepherd Entertainment
Erstveröffentlichung: 08. Oktober 2019
Gespielt auf PlayStation 4. Auch erhältlich für PC, Mac, Xbox One, Nintendo Switch
Director: Mike Bithell
Producers: Ben Andac, Amanda Kruse
Musik: Austin Wintory

Quelle Bilder: eigene Screenshots der PS4-Version.


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