Es ist an der Zeit, einige Worte zum „Rad der Zeit“ zu verlieren, oder auf Englisch: „The Wheel of Time“. Der vom Amerikaner Robert Jordan erdachte Romanzyklus ist eine der großen Fantasy-Buchreihen der 1990er Jahre. Erst kürzlich haben sich Sony und Amazon der Reihe angenommen und den ersten Band als achtteilige Serie umgesetzt, die bei Prime Video mittlerweile vollständig verfügbar ist. In Buchform ist „The Wheel of Time“ unter anderem bekannt dafür, eines der umfangreichsten Werke der Literaturgeschichte zu sein: Fast viereinhalb Millionen Wörter zählen die 14 dicken Originalbände der Fantasy-Saga, die in 37 Bänden auf Deutsch erschienen sind. Nicht weniger als 2784 namentlich benannte Figuren tauchen auf.

Erst 2013 wurde die seit 1990 veröffentlichte Reihe abgeschlossen, allerdings nicht von Robert Jordan selbst: Der starb bereits 2007 an einer seltenen Blutkrankheit, hatte allerdings die Weitsicht besessen, den geplanten Fortgang der Geschichte mit seiner Familie zu teilen. So war es möglich, dass ein anderer Fantasy-Autor, Brandon Sanderson, die Saga entlang der Vorgaben ihres Schöpfers beenden konnte. Daneben ist es seit Jordans Tod vor allem seine Witwe, Harriet McDougal, die das literarische Erbe und damit auch die Vergabe von Filmrechten und Co. verwaltet. Als Lektorin hatte sie außerdem bereits zu Lebzeiten Jordans nicht unerheblichen Einfluss auf die Bücher.


In Anbetracht des enormen Umfangs verwundert es kaum, dass mehrere Anläufe notwendig waren, um „Das Rad der Zeit“ auf die Leinwand beziehungsweise den TV-Bildschirm zu bringen. Mehr als 20 Jahre lagen zwischen einer ersten Rechtevergabe an NBC und der schlussendlichen Umsetzung durch Amazon.

Sehr viel reibungsloser verlief die Umsetzung als Computerspiel, die dem Großteil des Serienpublikums vermutlich unbekannt sein (und leider auch bleiben) dürfte. Bereits 1999 – zu Lebzeiten Jordans und auf dem Höhepunkt der Romanreihe – kam das schlicht „The Wheel of Time“ betitelte Spiel in den Handel.


„Magie statt Magnum“: Das Computerspiel von 1999

Für die Entwicklung des ambitionierten Titels zeichneten Legend Entertainment verantwortlich, die sich mit Umsetzungen von Fantasy-Romanen bereits einen Namen gemacht hatten. Die technologische Basis bildetet die damals topaktuelle Unreal-Engine, die dem Spiel auch sein Genre vorgab. Dieses überrascht aus heutiger Sicht womöglich mehr als damals: „The Wheel of Time“ war bzw. ist ein First-Person-Shooter, wenn auch mit vielen Rollenspiel- und ein paar Strategiespiel-Elementen. In der deutschen Fachpresse bewarb Publisher GT Interactive das Spiel mit der obigen Werbeanzeige (die ich mir auch in einer künftigen Ausgabe der „Klassiker der Printreklame“ noch einmal vorknöpfen möchte).

Ganz anders als heute waren Ego-Shooter in Fantasy-Settings in den 90er Jahren, also in den Kindertagen des Genres, alles andere als ungewöhnlich. Einige der ersten „Doom-Klone“ waren Fantasy-Shooter, und sieht man genauer hin, ist offensichtlich, dass auch „Doom“ mit einem Bein in der Fantasy stand. Die heute dominierenden militärischen Settings – vor allem solche mit realhistorischen Hintergründen – wurden bis um die Jahrtausendwende sogar ganz bewusst vermieden: Als 1999 „Medal of Honor“ um die Ecke kam, löste dies auch und gerade bei US-Kriegsveteranen mittelschweren Widerstand aus, und ohne Steven Spielberg als prominenten Bürgen wäre dem Spiel möglicherweise ein anderes Schicksal beschert gewesen.

In jedem Fall war 1999 – als „The Wheel of Time“ erschien – die goldene Ära der Fantasy-Shooter eigentlich schon vorbei. „ShadowCaster“, „Hexen“ und „Blood“ blieben ohne würdige Nachfolger, und auch „The Wheel of Time“ unterscheidet sich von den genannten Spielen ganz erheblich und unter anderem darin, dass es eine vergleichsweise lichte und eben keine mit Höllenkreaturen bevölkerte Dark Fantasy vertritt. Noch deutlicher sind die spielerischen Unterschiede: Zwei Jahre nach „GoldenEye 007“, eineinhalb Jahre nach „Unreal“ und ein Jahr nach „Half-Life“ war das FPS-Genre seinen auf schnelle, unkomplizierte Action getrimmten Kinderschuhen längst entwachsen. Spielmechaniken wurden komplexer, Sub-Genres und erste Genre-Mixes entstanden.

Die 40 sogenannten Ter’angreal, magische Objekte, die in „The Wheel of Time“ an die Stelle konventioneller Waffen treten, erlauben dann auch sehr viel mehr als einfach nur Ballern (vgl. diese Grafik). Hinzu kommen die schon erwähnten Rollenspiel- und einige Strategiespiel-Elemente, die dafür sorgen, dass die Kämpfe in „The Wheel of Time“ ziemlich komplex werden können.


Eine der ersten Ego-Shooter-Heldinnen

Seiner Zeit voraus war das Spiel auch mit seiner Festlegung auf eine weibliche Heldin: Deren Geschlecht braucht niemanden zu überraschen, der Buchreihe oder Amazon-Serie kennt, denn Frauen spielen in der Welt von „The Wheel of Time“ eine hervorgehobene Rolle. Ihnen allein ist der Gebrauch von Magie erlaubt (und meist auch nur möglich). Doch eine – alleinige – weibliche Heldin in einem Ego-Shooter – das war nicht nur in den 90er Jahren die Ausnahme. In meiner vierteiligen Reihe zur Geschichte weiblicher Protagonistinnen in First-Person-Shootern, die 2020 im GAIN Magazin erschienen ist, widmete ich dem Spiel deshalb die folgenden Zeilen:

1999 setzte sich fort, was 1998 begonnen hatte. Mit »The Wheel of Time« erschien ein weiterer Titel, der wie schon »Trespasser« (1998, DreamWorks Interactive) eine Frau zur alleinigen Spielfigur und Heldin macht.

Basierend auf der Fantasy-Buchreihe des amerikanischen Autors Robert Jordan ist »The Wheel of Time« ein zwar kaum bekannter, aber rundum kompetenter Fantasy-FPS mit Rollenspiel-Elementen. Legend Entertainment entwickelten den Titel auf Basis der Unreal-Engine, GT Interactive brachten ihn im November 1999 in den Handel.

Ungeachtet aller guten bis sehr guten Kritiken erwies sich »The Wheel of Time« als veritabler Flop. Vielleicht lag es an der zeitlichen Nähe zu »Unreal Tournament« und »Quake III: Arena«, vielleicht war die kurze Blütezeit der Fantasy-Shooter endgültig vorbei, vielleicht war das FPS-Genre auch einfach nicht die passende Wahl für die Versoftung einer Fantasy-Buchreihe mit ausgeprägtem femininen Gestus.

Sicher ist: »The Wheel of Time« und seine (nur bedingt charismatische) Heldin Elayna Sedai hinterließen im FPS-Genre – wie auch in der Spielegeschichte insgesamt – kaum Spuren.


Rezeption: Kritikerliebling und Ladenhüter

Ein schlechtes Spiel war „The Wheel of Time“ auf keinen Fall: GameRankings gab einen Wertungsdurchschnitt von 80 Prozent an. In der deutschen Fachpresse kam der Titel sogar noch besser weg: Wie die oben gezeigte Werbeanzeige erkennen lässt, hatten die damals maßgeblichen PC-Magazine dem Spiel eine ganze Breitseite von Awards verpasst, die Wertungen im hohen 80er- bis in den 90er-Bereich anzeigen. „The Wheel of Time“ als Computerspiel war somit nicht nur eine gelungene Lizenzumsetzung und für Fans der Vorlage interessant, sondern gemessen an den Standards seiner Zeit ein rundum hervorragendes Spiel.

Doch wie in der gerade zitierten Passage schon erwähnt: Ein Verkaufserfolg war „The Wheel of Time“ leider nicht; ganz im Gegenteil. Gerade einmal 30.000 Einheiten sollen bis April 2000 – also in den ersten sechs Monaten nach Release – in den USA verkauft worden sein. Für Legend Entertainment war das auch deshalb ein Schlag ins Gesicht, weil bereits die Verkäufe der Grafik-Adventures, für die das Studio in den 1990er Jahren hauptsächlich bekannt war, in den späten 90ern mehr und mehr zurückgingen, und die Fokusverschiebung hin zu den immer populärer werdenden FPS das Studio aus dieser Misere eigentlich hätte herausziehen sollen.

Legend-Mitbegründer Bob Bates erinnerte sich an die Neuausrichtung seines Studios mit den folgenden Worten: „On one hand it was hard to watch as adventure games became less popular. But it was exciting to take our expertise in storytelling and puzzle design into a whole new genre.“

Und tatsächlich war es nicht zuletzt die Story von „The Wheel of Time“, die viel Lob erhielt: „an engaging story arguably paced far better than any of the Jordan books on which it was based“, urteilte ein Artikel bei GameSpy.com (der „The Wheel of Time“ nebenbei auf Platz 10 der meistunterschätzten Spiele aller Zeiten setzt). Welches schönere Lob kann sich eine Computerspiel-Adaption einer Buchreihe wünschen? Allerdings ist die Verbindung zu den Romanen eher lose, da die Handlung des Computerspiels rund 150 Jahre früher angesiedelt sei. Und obwohl Robert Jordan zumindest beratend an der Story mitgewirkt hatte, gilt sie nicht als kanonisch.


Weitere Adaptionen und „The Wheel of Time“ heute

Die Adaption von Legend Entertainment war das erste und ist das bis heute einzige Computerspiel zur Romanreihe, sieht man von einem textbasierten MUD (Multi User Dungeon) einmal ab, der bereits seit 1993(!) und mit dem offiziellen Segen Jordans nahezu unterbrechungslos online läuft. Um 2009 (auf dem Höhepunkt des World-of-Warcraft-Hypes) hatte Electronic Arts die Rechte an einem MMORPG zur Reihe erworben, das von Obsidian Entertainment entwickelt werden sollte. Um 2014 sollen die Arbeiten an diesem Spiel jedoch eingestellt worden sein.

Leider lässt sich auch an das bis heute einzige The-Wheel-of-Time-Computerspiel nur noch mit Mühe Hand anlegen. Interessierte Spieler müssen entweder den Gebrauchtmarkt oder bedingt legale Wege bemühen, was ob der hohen Qualität des Spiels bedauerlich ist. Das Spiel wird als Abandonware gelistet, womit man sich bei einem entsprechenden Download mindestens in einer rechtlichen Grauzone bewegt; ansonsten bleibt nur der Griff nach einem Gebrauchtexemplar des physischen Originals. Die sind bei Ebay selten – das Spiel verkaufte sich ja kaum – aber (noch) zu moderaten Preisen zu kriegen.

Ob lizenzrechtliche Gründe einer Wiederveröffentlichung bei GOG.com, Steam und Co. im Wege stehen, oder ob die ehemals enttäuschenden Verkaufszahlen und der nach wie vor geringe Bekanntheitsgrad des Spiels eine Wiederveröffentlichung unattraktiv erscheinen lassen, vermag ich nicht zu sagen. Dabei wäre es natürlich toll, wenn die Amazon-Serie die Popularität der Franchise so sehr steigern könnte, dass auch das Computerspiel zurück an die Oberfläche – und zum Beispiel zu GOG – gespült würde. Fans der Reihe könnten an entsprechender Stelle ja mal anklopfen… Ob die Nightdive Studios das Spiel schon auf ihrer Shortlist haben?


Nachtrag vom 06. April 2022: Seit heute, exakt zwei Monate nach der Veröffentlichung dieses Artikels, ist „The Wheel of Time“ nach vielen Jahren wieder käuflich erhältlich. Als Download bei GOG.com. Für die Portierung zeichnen – wie hätte es auch anders sein können? – die Nightdive Studios verantworlich. 


Doch wie sehenswert ist nun eigentlich die Serie? Wenn es euch interessiert, werde ich dazu in einem kommenden Blog-Post ein paar Worte verlieren. Habt ihr „The Wheel of Time“ selbst gespielt, gelesen oder im TV gesehen? Dann würde ich mich freuen, eure Eindrücke im Kommentarbereich zu lesen. [sk]