Eines der ersten Worte, die ich im Lateinunterricht gelernt habe, war forum. Das Wort existiert also schon ein paar Jahrtausende länger als das World Wide Web. Die Bedeutung hat sich dennoch von der Antike bis zum Cyberspace kaum verändert: Das Forum bleibt ein Platz der Öffentlichkeit und des Austausches. Mit der Geburt von Facebook endete zwar das goldene Zeitalter der digitalen Foren der Jahrtausendwende, doch selbst die heute so monolithische Plattform wirkte in ihren frühen Jahren rückblickend nahezu heimelig.


Zum Ende der 2000er war Facebook noch immer ein Reich für sich. Für Jugendliche und junge Erwachsene im deutschsprachigen Raum war es der gefühlte Nachfolger der Plattformen SchülerVZ und StudiVZ. Ein abgeschotteter digitaler Bereich, in dem Erwachsene praktisch nicht existierten. So konnten User ihre Fotos von geheimen Hauspartys noch öffentlich posten, ohne dass die Eltern mit Fake-Accounts eine Push-Mitteilung dafür bekamen.

Für Schüler*innen war das junge Facebook eine Erweiterung des Schulhofs, die in einem naiven Verständnis sozialer Medien bizarr intim erschien. Dass Privatsphäre und Datenschutz damals noch prekärer waren als heute, spielte mangels Aufklärung in Sachen Medienkompetenz keine Rolle. Facebook war wie ein radikal non-lineares Internetforum – mit dem Unterschied, dass das Publikum nicht aus Zelda- oder Star-Wars-Fans bestand, sondern aus dem eigenen, handverlesen selektierten und unrealistisch großen Freundeskreis.

Anders als im Jahr 2021 waren Desktop-Computer und Laptops anno 2008 die Hauptanlaufstelle fürs digitale Leben. Online chatten bedeutete damals: Ich gehe in mein Zimmer, starte den rappeligen PC mit Windows Vista und nehme mir dediziert Zeit, um dort mit anderen Personen zu schreiben. Komfortable Tastaturen bei Mobiltelefonen waren noch Luxusgut.

Vor diesem Hintergrund ist Facebook die perfekte Kulisse für eine Visual Novel, die in dieser Zeit spielt, wie »Emily is Away <3« zu beweisen versucht. Der dritte Teil der Reihe knüpft an seine Vorgänger an, die noch einige Jahre früher in Instant-Messaging-Services à la ICQ spielten. Alle drei »Emily is Away«-Spiele erzählen zwischenmenschliche Geschichten junger Menschen, die komplett digital am PC-Monitor stattfinden. Damit repliziert die Spieloberfläche am PC-Monitor der Spieler*innen exakt die diegetische Welt der Hauptfigur.


Nostalgietourismus für Millennials

Insbesondere Visual Novels kämpfen damit, realitätsnahe, augenscheinlich belanglose Interaktionen aufregend darzustellen. Beim A-Knopf-Drücken zu Standbildern ist alltäglicher Smalltalk schlicht zu langweilig. »Emily is Away <3« und seine Vorgänger bilden glaubwürdige Tür-und-Angel-Kommunikation organischer ab als jedes ausgefeilte RPG-Dialogsystem, weil die Spiele der tatsächlichen Online-Kommunikation so nahekommen. Sie verlangen sogar, dass wir unsere ausgewählten Antworten durch wahlloses Hämmern auf die Tastatur Buchstabe für Buchstabe eintippen.

Die Kommunikation geschieht dennoch so beiläufig, wie wir selbst damals mit ihr umgegangen sind. In einem Moment wird geredet, im nächsten klicken wir uns durch die YouTube-Playlists anderer Charaktere. Dafür öffnet sich in unserem 2021-Browser ein Fake-Retro-YouTube, in dem dann »Poker Face« von Lady Gaga oder »Psychosocial« von Slipknot eingebettet sind. Auch prähistorische virale Videos, die seit Jahren im Abfall unseres Gehirns schlummerten, rücken hier noch einmal ans Licht. Wie bei einer tatsächlichen Browsererfahrung mit Tab-Funktion driften wir schnell ab und vergessen, unseren fiktiven Facebook-Freund*innen zu antworten, weil Fake-YouTube von »Chocolate Rain« zu »Jizz in My Pants« überleitet.

Neben der visuellen Repräsentation des klassischen Facebook-Interface repliziert »Emily is Away <3« auch die sprachlichen Eigenheiten internetbasierter Kommunikation. Abkürzungen, Zeichendreher und klassische Emoticons, aber auch typische Missverständnisse textbasierter Kommunikation ziehen sich durch die Dialoge. Die größte Stärke der Reihe gegenüber anderen Visual Novels ist jedoch der fliegende Wechsel zwischen verschiedenen Gesprächen.

Jugendliche im Jahr 2008 waren einfach nicht bereit für die Verantwortung, unauffällig verschiedene Flirts jonglieren zu können; so auch der Protagonist von »Emily is Away <3«. Ungeachtet der Intentionen oder Chancen, die hinter solchem Verhalten stecken, dürfte auch dieses Element bei einigen Spieler*innen bittersüße nostalgische Erinnerungen wecken.

Bezüglich solcher Facebook-Zwickmühlen weiß »Emily is Away <3« auch, wie heilig Entscheidungen wie Event-Zusagen damals waren. »Du wolltest doch etwas mit mir unternehmen! Und jetzt habe ich gerade gesehen, dass du an dem Abend schon zur Geburtstagsparty deiner besten Freundin gehst!« Solche Streitereien überschreiten selten die Grenzen belanglosen High-School-Dramas. Mit seiner generischen Darstellung etlicher Jugend-Klischees garantiert »Emily is Away <3« aber, dass alle Spieler*innen früher oder später Anknüpfungspunkte an die eigene Jugend finden.

Das bedeutet leider auch, dass die organischen Qualitäten der Dialoge weit hinter denen der authentischen Facebook-Rahmung zurückbleiben. So aufregend der Nostalgie-Trip sein mag, so belanglos ist das, was wir tatsächlich in die Chat-Fenster tippen. Der Plot und die Gefühlswelten der Charaktere bleiben flach und austauschbar. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass für die Handlung, die »Emily is Away <3« erzählen möchte, letztendlich doch die Szenen außerhalb des sozialen Netzwerks fehlen. Plot-relevante Details, die zwischen den Facebook-Sitzungen stattfinden, werden so elegant wie möglich nacherzählt, entkoppeln uns dadurch aber nur noch mehr vom Protagonisten. Erinnerungen an Partys tauchen auf der Pinnwand anderer Figuren auf, ersetzen aber nicht die Party selbst.


Anonymität und Community – mehr als nur Fassade

»Emily is Away <3« nutzt die Darstellungsform sozialer Medien, erzählt aber eine Geschichte, die ebenso gut analog stattfinden könnte. Die distinkt digitalen Kniffe wie parallele Chat-Fenster oder die Kommunikation durch Pinnwände, Likes, Eventeinladungen und mehr modifizieren die Erzählweise, ändern aber wenig an der eigentlichen Geschichte.

In dieser Hinsicht bleibt es weit hinter vergleichbaren Spielen zurück, die ebenfalls in einem Computer-Interface stattfinden. Das beste Gegenbeispiel ist »Secret Little Haven« – ebenfalls eine Quasi-Visual-Novel, die einige Jahre früher als »Emily is Away <3« in der Forenkultur der Jahrtausendwende angesiedelt ist.

»Secret Little Haven« begreift die einzigartigen Potentiale rein digitaler Textkommunikation. Anders als in der »Emily is Away«-Reihe kommuniziert die Hauptfigur in »Secret Little Haven« überwiegend mit Kontakten, die sie nicht persönlich – also IRL – kennt. Das gesamte Spiel findet in einem AOL- oder ICQ-ähnlichen Instant Messager sowie einem Sailor-Moon-Fan-Forum statt. (Aus Copyright-Gründen ist es natürlich nicht wirklich »Sailor Moon«, aber die Hommage ist so eindeutig, dass das Original sich als Basis einer Interpretation geradezu aufdrängt.)

Die Anonymität der Plattformen und somit ein absolutes Alleinstellungsmerkmal des Settings Internet, dient als essenzielle Prämisse der gesamten Erzählung. Denn die Anonymität des Forums und des privaten Chats mit Kontakten aus diesem Forum ermöglicht der jugendlichen Figur, ihre authentische Genderidentität im Netz auszuloten. Etwas, das selbst extrovertierten Personen mit hohem Selbstbewusstsein in der analogen Welt nicht derartig zwanglos gelingen kann.

Die Wahrnehmung der meisten Charaktere basiert einzig darauf, wie unsere Hauptfigur im Netz kommuniziert und sich dort präsentiert – zum Beispiel mit ihren Profilbildern oder ihrer generellen Affinität fürs weiblich (und aus heutiger Sicht auch queer) konnotierte Franchise »Sailor Moon«. Der genderneutrale Name Alex trägt zur Ambivalenz bei, mit der unterschiedliche Charaktere die Genderidentität der biologisch männlich geborenen Hauptfigur interpretieren.

Ein Kontakt im Instant-Messenger, den Alex tatsächlich aus dem analogen Leben kennt, driftet im Spielverlauf zunehmend in unangenehme »Männergespräche« voller pubertärer Maskulinität. Die Gespräche mit diesem Charakter gipfeln schließlich im Versuch, Alex‘ Männlichkeit zu »reparieren«. Die Anonymität des Internets ermöglicht Alex jedoch, solche Erwartungen an Maskulinität in den Interaktionen mit reinen Online-Kontakten komplett zu ignorieren. Einige der Online-Kontakte lesen Alex deshalb, ohne ihre Annahmen zu hinterfragen, als weiblich.

Die Anonymität des Internets wird zum Auslöser und zum Mittel der Selbstfindung sowie zum einzigen sicheren Hafen, in dem Alex authentisch kommunizieren kann. Umso bedrohlicher wird Alex‘ frustrierter Vater, der sich um die »Bildschirmsucht« seines Kindes sorgt. Der Vater fühlt seine eigene Bindung zum Kind schwinden und versucht während des Spielverlaufs immer wieder, Computerverbote durchzusetzen. Dabei verkennt er die unersetzliche Funktion, die der Computer für Alex zu diesem Zeitpunkt hat.

Neben der Anonymität zeigt das Sailor-Moon-Forum auch die Eigenschaft des Internets, Interessengruppen zu vereinen. So findet Alex im (vergleichsweise) queer-freundlichen Forum eine Person, die aus eigener Erfahrung wertvolle Informationen zum Leben als trans Person und dem Weg dorthin geben kann. Eine fremde Person im Internet erklärt also Dinge, von denen Alex als Kind der späten 90er noch nie gehört hat.

Im Kontrast zu »Emily is Away <3« erzählt »Secret Little Haven« damit eine Geschichte, die so nur im Internet möglich ist. Die Form Computerspiel holt die Spieler*innen dabei näher an die Wirklichkeit der Hauptfigur als jede andere Erzählform es ermöglichen würde. Im direkten Vergleich wirkt »Emily is Away <3« wie oberflächlicher Nostalgietourismus, während »Secret Little Haven« zeigt, welche Potentiale Instant-Messenger und andere Online-Plattformen als Schauplatz für interaktive Erzählungen bergen, wenn Erzähltes und Rahmung im Einklang stehen. Beide Spiele versuchen jedoch gar nicht, die Web- und Messaging-Kultur der 2000er ganzheitlich abzubilden. Denn zur ganzheitlichen Online-Erfahrung dieser Zeit gehörte auch, einfach mal offline zu leben – etwas, das heute nur noch bedingt möglich ist. [pg]


Emily is Away <3
Kyle Seeley
PC / Mac
Erstveröffentlichung: 16. April 2021

Secret Little Haven
Hummingwarp Interactive
PC / Mac / Linux
Erstveröffentlichung: 27. Februar 2018

Quelle Screenshots: Emily is Away <3: eigene, Secret Little Haven: Steam Store Page


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