Rutger Bregmans Buch »Im Grunde gut« belegt (so empirisch wie es geht), dass Menschen naturgemäß wohlgesonnen sind. Der oft beschworene Egoismus der Ellenbogengesellschaft ist laut Bregman nur ein Produkt der sozialen autoritären Strukturen, die über die letzten Jahrtausende gewachsen sind: Eine in Staaten gespaltene Welt, deren Bevölkerung auch heute noch in Unterdrückte und Unterdrückende geteilt ist.
JRPGs mit ihren klassischen Gut-Böse-Erzählungen hassen Rutger Bregman. Denn Bezüge auf die reale Welt sind im Genre meist dünn und abstrakt. Viele JRPGs schwimmen in einem Sud der Fantastik, der allenfalls religiöse oder philosophische Allegorien an die Oberfläche lässt. Für ein Franchise, das traditionell vor Fantastik nur so trieft, wagt »Tales of Arise« ungewohnt viele konkrete Bezüge zur Realität. Es vollzieht den Schritt zu einer strikt in der Fantastik verankerten Erzählung, die jedoch gleichzeitig das Einmaleins das realen Faschismus abbildet. »Tales of Arise« zeichnet die damit verbundenen sozialen Konstrukte platzsparend auf einen Bierdeckel, malt am Ende aber über die Ränder und versaut den ganzen Tisch.
Sadismus fördert das Bruttosozialprodukt
In der Welt der JRPGs traut sich sogar das moderne, urbane »Persona 5« nicht, einen hurrakapitalistischen Oberbösewicht zum Schlusspunkt zu machen – obwohl es so naheliegend war. Nicht umsonst gibt es mittlerweile das Meme, dass alle JRPGs denselben Oberbösewicht teilen: Gott.
Vor diesem Hintergrund erinnert jedes der ersten Kapitel von »Tales of Arise« geradezu auffällig an reale, gottlose Geschichte. Die Momente, in denen ich mit dem Finger auf den Fernseher zeigte (»Ah, das ist doch Nazideutschland!«) gehen über subtile Allegorien hinaus und nähern sich bereits der Referenz.


Was schnell plump hätte erscheinen können, schafft gerade noch die Biege und gefiel mir für die ersten zwanzig Stunden hervorragend. Vor allem die Momente, in denen »Tales of Arise« seine vorhersehbare Formel durchbricht, wirken unbeholfen schlau. Was in einem Kapitel zuerst aussieht wie unsere westliche Nine-to-Five-Gesellschaft, wie wir sie lieben und hassen, zeigt schnell: Auch hier findet Unterdrückung statt! Wer hätte es gedacht?


Die Held*innenreise führt von unterdrückter Stadt zu unterdrückter Stadt. Übermächtige Lords von einem anderen Planeten kolonialisieren die Regionen und bedienen sich einschlägiger Unterdrückungstaktiken der jüngeren Menschheitsgeschichte. Die Ressource, die sie exportieren, sind keine Brennstoffe oder Edelmetalle, sondern astrale Energie – eine Substanz, die durch die Körper der Lebewesen fließt und zum Beispiel durch zermürbende Arbeit freigesetzt wird. Das Leid des Volkes wird dadurch zum Selbstzweck; die eigentlichen Früchte der körperlichen Arbeit sind nur das Rosenblatt auf dem Tümpel aus Schweiß und Blut, die selbst zum wertvollsten Gut werden. Ein Fest für sadistisch veranlagte Herrscherinnen und Herrscher.
Doch mit ihrer Extraktion der astralen Energie verfolgen die Lords ein weiteres übergeordnetes Ziel, das sich der Lebensrealität Normalsterblicher komplett entzieht: Wer unter den Lords die meiste astrale Energie extrahiert – das eigene Volk also am qualvollsten und effizientesten ausbeutet – gewinnt am Ende die Ehre, eine noch höhere Führungsrolle im Gefüge der Planeten einzunehmen. Über einen einzigen Staat zu herrschen, reicht eben nicht.

Das Leid der Einzelnen, die Motivation unserer Truppe aus Hauptfiguren – alles entsteht organisch und glaubwürdig aus dieser Prämisse. Das Streben der Held*innen ist aufrichtig, wenn auch märchenhaft idealisiert. Nach kurzer Einführung in ein neues Areal motiviert die Erzählung jedes Mal erneut dazu, dutzende generische Kämpfe zu bestreiten, die selbst eines der besten Echtzeit-Kampfsysteme der jüngeren JRPG-Geschichte nicht vor der Monotonie rettet.
Spoilerwarnung für übergreifende und strukturelle Plotmerkmale und -wendungen von »Tales of Arise« – es werden keine Einzeldetails der Handlung besprochen. Falls es euch bei der Entscheidung hilft: ICH hätte diese Spoiler vor dem Spielen gerne gekannt.
Das System? Ich kenne nur »Kampfsystem«
Gemäß des Genre-Manifests, das Hironobu Sakaguchi und Yuji Horii Ende der 1980er (vielleicht) in einer dunklen Kammer bei Kerzenschein auf Pergament verewigt haben, befolgt auch »Tales of Arise« die goldene Regel: »Spätestens nach 66 Prozent muss dein Spiel so monoton werden, dass nur noch ein Gefühl der Verpflichtung zum Abspann treibt.« Genau an dieser Grenze verliert »Tales of Arise« sein Selbstbewusstsein, politische Dramen einfach für sich selbst stehen zu lassen. Der letzte Lord, der sein gesamtes Volk so radikal umerzogen hat, dass sie zu keinem eigenen Gedanken mehr fähig sind, war nur das erste Schlagloch vor der vollständigen Entgleisung in absurde Space-Fantasy.
Denn am Ende ist eben doch wieder #Gott der finale Endgegner. Dass »Tales of Arise« sich redlich Mühe gibt, dieses Hirngespinst über die letzten zehn bis fünfzehn Stunden im Detail zu erklären, macht es nur noch schlimmer. Eine zuvor selbsterklärende Handlung, die sich federleicht auf Referenzen zur Realität stütze, ertrinkt plötzlich in einer Lore-Deponie, auf die selbst die »Destiny«-Autor*innen neidisch wären.
Obendrein untergräbt das plötzliche Auftreten der höheren Macht sämtliche bisherigen Konflikte der Erzählung und rückt sie in ein anderes Licht. Sogar die Lords, die für dreißig Stunden als Oberbösewichte galten, entpuppen sich am Ende als die gelackmeierten Marionetten noch weiterer Unterdrückung. Im Zuge des Lore-Marathons werden auch diese Kolonialist*innen entmystifiziert und als Menschen gezeichnet. »Sie hatten eben eine schwierige Kindheit.«
In dieser Erkenntnis liegt eines der letzten Überbleibsel der eingangs angedeuteten Komplexität der Frage: »Was macht Menschen gut oder böse?« Bis zum großen Twist zeichnet »Tales of Arise« ein Weltbild, das Konflikte nicht vertikal und linear, sondern horizontal und global versteht. Durch das Eintreten der höheren Macht, die als Quell allen Übels dient, simplifiziert »Tales of Arise« rückwirkend sämtliche Konflikte im Spiel – und damit auch die nötige Komplexität, mit der dieses JRPG einer relevanten Aussage über unsere Welt kurzzeitig so nah war. [pg]
Tales of Arise
Bandai Namco
Director: Hirokazu Kagawa
Gespielt auf: Xbox Series X (auch für: Windows PC, PlayStation 4/5, Xbox One)
Erstveröffentlichung: 10. September 2021
Quelle Screenshots: Eigene, Quelle Header: Tales of Arise Promomaterial
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Ganz famoser Artikel.
Das erste Mal, dass ich am Ende eines JRPGs gegen Gott gekämpft habe, war in Grandia II, was allerdings auch eines der ersten JRPGs war, die ich je gespielt habe. Entsprechend war ich von diesem Finale damals auch ziemlich begeistert, zumal ich den vorbereitenden Twist in der Spielmitte – Welche Fraktion ist gut, und welche böse? – nicht hatte kommen sehen.
Heute würde ich vermutlich anders drauf blicken und könnte das Klischee nicht nichtsehen. Trotzdem finde ich, dass der Kampf gegen Gott, als Kulminationspunkt von Grandia II, mehr als gelungen war, aus dem einfachen Grund, dass die religiöse Thematik *die* zentrale Thematik des (relativen kompakten) Spiels ist und sich durch die gesamte Spielhandlung zieht. Das Ende ist so nur konsequent und ergibt sich organisch aus dem Rest der Handlung (was bei Tales of Arise ja offenbar nicht der Fall ist).
Schon beim zweiten großen JRPG meiner Spielerhistorie – Tales of Symphonia – wiederholten sich dann die ersten Story-Klischees, die mir seither wieder und wieder begegnet sind. Das Klischee, das mich mit Abstand am meisten nervt, ist vermutlich das der untergegangenen, aber technologisch höher entwickelten Zivilisation. Das ist mir zum ersten Mal in Skies of Arcadia begegnet, und damals fand ich es noch originell, aber mittlerweile kann ich es echt nicht mehr sehen. Zumal die visuelle Umsetzung dieser Ur-Zivilisationen fast immer gleich aussieht, sogar in Zelda: Breath of the Wild (und sich somit seit den Animes der 80er Jahre kaum etwas geändert hat).
Back to topic: Ich hab die Demo von Tales of Arise gespielt und fand die schon nicht so toll. Ich vermisste dann doch das altes Tales-of-Gefühl, das ich aus Symphonia und Vesperia kenne. Die neuartigen Character Designs finde ich ähnlich uninteressant wie die der jüngeren Fire-Emblem-Teile (aber ich sehe natürlich ein, dass die Reihe um entsprechende Modernisierungen nicht herumkommt). Wenn nun auch die (anderswo auch vielgelobte) Story einen Verlauf nimmt, bei dem man sich hinterher ärgert, wie egal das Vorangegangene durch den Twist wird, werde ich wohl auch diesmal passen (obwohl ich immer noch Sympathien für die Reihe hege).
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Bei mir war es damals Breath of Fire II, und die Enthüllung, dass Gott böse ist, hat mich als Zehnjährigen aus den Socken gehauen. Wobei ich im Nachhinein auch festgestellt habe, dass dieser Twist in keinem anderen JRPG, das ich gespielt habe (Grandia II steht noch aus), so gelungen eingefädelt war.
Klischees zu Umgehen ist vermutlich nicht immer ganz einfach, weil viele Fans bestimmte Dinge erwarten. Ich kann zum Beispiel nicht genug von untergegangenen technologisierten Zivilisationen in JRPGs haben :D
Mir gefällt dieses eher „erwachsene“ Anime Charakterdesign aus Fire Emblem: Three Houses oder Tales of Arise tatsächlich sehr gut. Ich bin allerdings inzwischen einfach schon froh, wenn der halbe Cast eines JRPGs nicht aus übersexualisierten Minderjährigen besteht.
Überhaupt fand ich romantische Bindungen in Tales of Arise angenehm „bodenständig“. Statt pupertären, für viele japanische Medienprodukte leider typische Haremsfantasien und „romantische Missverständnisse“ gibt es hier drei Paare mit einer nachvollziehbaren Annäherung.
Aber ich denke, du verpasst da jetzt nicht viel. Tales of sind eigentlich selten Must Have Spiele. Hab das selbst hauptsächlich zum Launch gekauft, weil für mich dieses Jahr sonst kaum interessantes herauskam :D
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Mich hat der spätere Verlauf in Tales of Arise auch sehr geärgert. Bis zu einem gewissen Punkt wäre es in vielen Aspekten für mich eins der besten JRPGs und Tales of gewesen, aber danach wird leider vieles egal, und auch ich habe mich gegen Ende (auch auf niedrigerem Schwierigkeitsgrad) durch den Rest gezwungen.
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