Ein Gastbeitrag von Todde
anlässlich des Specials: 20 Jahre GTA III
Als 2001 Grand Theft Auto III auf der PlayStation 2 erschien, hatte ich mich bereits 21 Jahre lang auf das Spiel „vorbereitet“. Gefühlt jeder zweite Film und jede dritte Serie aus den USA spielte in New York City, dem eindeutigen Vorbild von Liberty City.
Unzählige Male war ich mit Geisterjägern, Superhelden, Verbrechern, Cops oder ganz normalen Leuten im Big Apple unterwegs gewesen. Immer auf dem gefühlten Beifahrersitz. Immer in ihren Geschichten. Immer mindestens so sehr von der Stadt fasziniert, in der die Geschichten stattfanden, wie von den Geschichten selbst.
Little Italy, Chinatown, den Central Park, die Hochbahn, die U-Bahn, die charakteristischen Taxis… ich hatte alles schon gesehen. Nie im echten Leben, immer als fiktive Kulisse von Fantasiewelten und, wie schon erwähnt, immer als passiver Beobachter. All diese Klischeedarstellungen fasste Rockstar Games, damals noch als DMA Design, in Liberty City zusammen.
Ich sah Liberty City zum ersten Mal im Vorfeld der PlayStation-2-Veröffentlichung bei NBC GIGA. Kinder, fragt eure Eltern! Dort waren einige der Entwickler zu Besuch und stellten GTA III erstmals live vor. Zumindest erinnere ich mich nicht daran, vorher jemals etwas von dem Spiel gesehen zu haben.
Ich erinnere mich auch nicht daran, ob die Gäste die Rockstar-Gründer Dan und Sam Houser, unbekannte Praktikanten oder rosa Elefanten waren. Ich hatte nur Augen für dieses großartige Spiel, von dem immer noch behauptet wurde, ich würde es auf der PlayStation 2 spielen können. Ich konnte es nicht erwarten und noch viel weniger glauben.
Ich kannte das erste GTA vom Hörensagen und GTA II hatte ich auf der PlayStation einige Male gespielt. Dass GTA III nun aber dieses Erlebnis aus der Draufsicht in eine dreidimensionale Verfolgerperspektive transportieren sollte, und das dann auch noch auf einer Konsole, erschien mir unfassbar.
Heutzutage läuft das Spiel mit höherer Auflösung und stabilerer Framerate auf meinem Smartphone als damals auf der PlayStation 2. Aber 2001 war eine so unglaublich realistisch dargestellte Stadt wie Liberty City auf Sonys zweiter Konsole für mich eben genau das: Unglaublich realistisch!
Realistisch bezieht sich dabei nicht auf den Grafikstil. Der war angenehm comichaft gehalten. Zum einen wahrscheinlich aus technischen Gründen, aber sicherlich auch um die Distanz zur fast omnipräsenten Gewalt zu erhöhen.
Spielerisch war GTA III nicht sehr weit von den beiden Vorgängern entfernt, am ehesten machten noch die eingeschobenen Zwischensequenzen einen Unterschied, die die Story vorantrieben oder auch neue Missionen einläuteten.
Die vermeintlich oberflächliche Änderung der Perspektive krempelte das Spielerlebnis für mich aber komplett auf links. Als ich das Spiel endlich selbst in die heimische Konsole legen konnte, packte mich die Immersion direkt. Ich fühlte mich augenblicklich, als wäre ich in der Stadt, die ich seit Jahrzehnten aus dem TV kannte. Alles war auf eine spannende Art neu und doch seltsam vertraut.
Mir flogen lose Zeitungsseiten entgegen, ich konnte große Hauptstraßen und kleine, schummerige Gassen frei erkunden. Mit ein wenig Geschick konnte ich es auch auf das eine oder andere Hausdach schaffen und die pulsierende Stadt aus erhöhter Position bewundern.
Saß ich in einem der unzähligen Fahrzeuge, genoss ich die Radiosender als Soundtrack meines Abenteuers. Die waren wie die Stadt selbst eine Parodie realer Vorbilder, die aber nie die Liebe zum Vorbild vermissen ließen und sogar lizenzierte Musik nutzten. War ich zu Fuß unterwegs, war mein Soundtrack der Lärm der Stadt. Hupende Autos, pöbelnde Fußgänger und immer wieder die Sirenen der Streifenwagen des NYPD… äh, LCPD.
Ich fühlte mich nicht nur als Beobachter der Stadt, sondern als Teil von ihr. Am häufigsten nutzte ich deshalb den Cheat, mit dem der Spielerskin durch einen der Fußgänger ausgetauscht wurde. Meist war ich dann mit schwarzem T-Shirt über einem weißen Longsleeve, blauer Camouflage-Hose und dunkelgrüner Mütze unterwegs.
Das befreite mich vom letzten Rest des ohnehin überschaubaren „Storyballasts“ des profillosen Protagonisten Claude Speed, der bis zum Erscheinen von GTA: San Andreas nicht mal einen Namen hatte. Ich war einfach nur noch Todde, Bürger von Liberty City. Wenn auch nur bedingt gesetzestreuer Bürger.
Der kreative Wahnsinn, dem andere vor dieser Stadtkulisse verfielen, war für mich eher uninteressant. Ich nutzte die Freiheiten, die das Spiel mir bot, um meine Ziele zu erreichen. Nicht mehr und nicht weniger. Meistens waren diese Ziele einfach Missionsziele. Selten ging es dann auch mit mir mal durch und ich kachelte mit schwerem Gefährt durch die Straßen, ohne Rücksicht auf Verluste und irgendwann durch die Polizei ausgebremst, die mir bei Fahndungslevel 5 dann doch zu nahe auf den Pelz rückte.
Aber die größte Faszination übte das Spiel auf mich immer dann aus, wenn ich einfach in Liberty City „leben“ konnte. Die Stadt, die sich, genauso wie ich, Jahrzehnte lang darauf vorbereitet hatte, die Klischees von New York City zu erfüllen, die uns Filme und Serien immer präsentiert hatten.
Dieses Gefühl konnte trotz grafischer Fortschritte danach nie wieder ein Spiel in mir wecken. Vielen Dank dafür, GTA III, und alles Gute zum Zwanzigsten!
Der Autor:
Todde
Gastautor Todde ist seit mehr als 30 Jahren begeisterter Gamer und genießt neben aktuellen Spielen auch das Abtauchen in die Spielwelten von früher. Für gewöhnlich veröffentlicht er seine Meinungen, Erinnerungen und Ansichten bei „Toddes Nerdcast“ und „Grundgütiger! Der Schundfilm Podcast“. Überall wo es Podcasts gibt.
Ich hätte gerne selbst deine im Artikel beschriebene Städtekulisse im Jahr 2001 erlebt. Es war damals sicherlich einzigartig, auf vertikaler Ebene eine ganze Stadt zu erkunden. Das von DMR-Design zuvor entwickeltete Spiel Body Harvest konnte zwar auch mit einer großen Open World auftrumpfen – die Landschaften und Städte wirkten aber viel zu plastisch und vermittelten daher nur wenig Authentizität.Das grandiose Missionsdesign und die enorme Fahrzeugauswahl haben im N64-Spiel dafür umso mehr überzeugt.
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Ich glaube von Body Harvest hab ich zum ersten Mal erfahren, als ich Jacked – The Outlaw Story of Grand Theft Auto von David Kushner gelesen habe.
Gäbe es da ein Remake in Unreal 4 Engine, würde ich das Spiel auch sofortnachholen.
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Ich glaube, das erste Spiel, bei dem ich mich so richtig fühlte, als sei ich an einem realen Ort, war für mich Shenmue II. Während mich beim ersten Durchspielen die Story noch so sehr packte, dass ich relativ zielstrebig durchs Ziel marschierte, genoss ich bei einem späteren Spieldurchlauf meinen quasi touristischen Aufenthalt in allen Zügen.
Später dann waren es aber auch bei mir die Erben von GTA III, die mir eine tiefe Immersion in quasi reale Orte ermöglichten. Scarface: The World Is Yours ist ein unheimlich gutes Spiel, das sich hinter Vice City nicht zu verstecken braucht, und vermittelt nicht zuletzt durch seinen Soundtrack ein wunderes Gefühl für das Miami der 80er Jahre. Und GTA V hat mich zwar spielerisch nicht begeistern, schafft es aber ebenfalls ganz fantastisch, die US-Westküste nachzubilden, wie man sie aus Filmen kennt. Allein schon die Liebe zum Detail, die dort in die Beleuchtung geflossen ist. Es gibt da Momente, die sehen halt eins zu eins so aus, wie Szenen, die man aus Filmen kennt.
Das ist auch eine Stärke von Rockstar, die Activision mit True Crime: Streets of LA nicht begriffen hatte. Die wollten das „reale“ LA so realistisch wie möglich nachbilden. Das Ergebnis war graue Tristesse, die die „Magie“ der Stadt nicht einmal im Ansatz vermitteln konnte. Das war damals natürlich auch eine Frage der Technik, aber was Rockstar so gut macht, das ist, dass sie nicht die Realität zum Vorbild nehmen, sondern die fiktionalisierten Darstellungen dieser Realität, Filme usw.
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Oh ja, das Scarface-Game hab ich damals auch geliebt und wie du richtig anmerkst: es musste sich echt nicht hinter Vice City verstecken.
Und auch beim Rest kann ich dir nur beipflichten. Rockstar bietet uns Städte und Erlebnisse wie wir sie erwarten und nicht wie sie wirklich sind. Dadurch wird das Spielerlebnis vielleicht unrealistischer, aber besser nachvollziehbar, fokussierter und dadurch letztlich unterhaltsamer.
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Dazu ist mir noch eingefallen, dass ich vor ein paar Jahren mal einen interessanten Beitrag bei Lesenswert verlinkt hatte, der sich wissenschaftlich mit der Art der Darstellung realer Städte in der GTA-Reihe auseinandersetzt (und damit, wie diese Darstellungen rezipiert werden).
Das war hier: https://spielkritik.com/2018/12/07/lesenswert-psychische-erkrankungen-gta-pokemon-lets-go-tattoos-diablo-iii-kirby-swag-sehenswert-soul-calibur-yakuzas-maenner-punch-out-hoerenswert-egx-entwicklerinterviews/
Und direkt zum Artikel von Sören Schoppmeier geht’s hier: https://spielkult.hypotheses.org/2096
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