»Latein brauchst du irgendwann fürs Studium!« Wegen dieses Mythos habe ich mich in der siebten Klasse dagegen entschieden, Französisch zu lernen. Doch wann sollte ich dieses Versäumnis beheben, wenn nicht während einer mehrjährigen Pandemie? Zeit, das é in Pokémon mit Stolz zu erfüllen!


Wer sich jemals in seiner Freizeit dazu entschieden hat, ernsthaft eine neue Sprache zu lernen, wird wissen: Es macht nicht nur mehr Spaß als in der Schule; die intrinsische Motivation und Freiheit im Lernprozess machen das Lernen auch viel einfacher. Obendrein sind fremdsprachige Medien heute so mühelos verfügbar wie nie zuvor. Im Gegensatz zu untertitelten Nouvelle-Vague-Filmen auf MUBI entschleunigen Videospiele mit Textboxen den Aufnahmeprozess und geben uns gerade anfangs die Zeit, dreimal pro Satz ins Wörterbuch zu schauen.


Wieso ausgerechnet Pokémon?

Pokémon als Reihe mit junger Kernzielgruppe ist die offensichtliche Wahl für erste Schritte mit einer neuen Sprache. Mit Ausnahme der Pokémon-Attacken und -Namen tauchen nur selten Wörter auf, die im normalen Sprachgebrauch wenig Verwendung finden. Auch komplexere Zeitformen oder Konjunktive sind rar. Die ersten Pokémon-Generationen für den Game Boy (Color) eignen sich besonders gut als Einstieg, da ihre bildschirmbedingt winzigen Textboxen verhindern, dass Sätze zu lang oder zu komplex werden. Auch der begrenzte Speicherplatz textintensiver Modulspiele der 90er förderte diesen sprachlichen Minimalismus. Eine weitere Eigenheit der früheren Pokémon-Spiele ist, dass SÄMTLICHE EIGENNAMEN und viele FIKTIVE BEGRIFFE in Großbuchstaben daherkommen. So kommt nie Verwirrung auf, ob eine unbekannte Vokabel eigentlich der Name eines Items ist.

Ein großer Vorteil gegenüber schriftlichen Medien ist, dass visuelle Formen ohne ausufernde Beschreibungen auskommen. Videospiele und Filme bieten für unbekannte Vokabeln eine visuelle Stütze, die neue Begriffe und Konzepte eindrücklich vermittelt und im Gedächtnis verankert. Für die 8-Bit-Iterationen der Pokémon-Reihe gilt dieser Vorteil weniger als für die neuesten Ableger mit Grafik auf Wii-Niveau; dafür haben eingefleischte Pokémon-Fans den Vorteil, dass sie besonders ikonische Dialoge ohnehin als Lernstütze im Kopf haben. (Gen-1-Boomer-Modus deaktiviert.)

Ganz gleich, welche Pokémon-Generation als Lerneinstieg dient – alle Generationen teilen sich Themen, Phrasen und Sätze, die sich häufig wiederholen und dadurch besonders leicht einprägen. Allem voran die Begriffe im Kampfbildschirm: Gewinnen, verlieren, besiegen, sinken, steigern, treffen, verfehlen, verwirrt sein… In der Summe sammeln sich selbst in diesen banalen Sätzen einige hilfreiche Vokabeln.

Die Namen der Attacken selbst bestehen oft aus Begriffen, die im alltäglichen Sprachgebrauch (oder in Sprachkursen) selten vorkommen. Der wiederholte Einsatz der Attacken inklusive Animation führen trotzdem dazu, dass Wörter wie rugissement (Heuler, bzw. Tiergebrüll) schnell hängenbleiben – auch wenn sie eigentlich nicht zum Wortschatz auf A2-Niveau gehören.


Linguistische Kuriositäten

Deutsche Bücher sind häufig dicker als ihre englischen Gegenstücke. Wer deshalb denkt, Deutsch sei eine platzfressende Sprache, hat noch nicht die umständliche Wortbildungsmorphologie des Französischen gesehen. Während Deutsche den Donaudampfschifffahrtskapitän ohne Leerzeichen schreiben, brauchen französische Komposita zum Beispiel oft Präpositionen, die einzelne Elemente miteinander verbinden. Solche Wortketten überschreiten häufig das 12-Zeichen-Limit für Attacken der ersten Pokémon-Spiele. Als Notlösung entstanden linguistische Kuriositäten wie Pistolet à O (statt Pistolet à Eau; Aquaknarre), die bis in die aktuelle Pokémon-Generation überlebt haben. Viele Attackennamen, wie Ecras’face (›zermalme Gesicht‹; Pfund), nehmen außerdem unübliche Apostrophierungen vor, um die für Pokémon übliche Formulierung der Attacken als Eigennamen statt als Verb-Objekt-Phrasen einzuhalten.

Die Namen der Pokémon selbst folgen jedoch auch im Französischen den dominanten Mustern der deutschen und englischen Beispiele. Grob überschlagen scheinen Blendings (deutsch umgangssprachlich »Schachtelwörter«) wie Bulbizarre (bulbe + bizarre) oder Dracofeau (draco + au feu) die Überhand zu haben. In meiner wissenschaftlichen Arbeit zur Wortbildung der englischen Pokémon-Namen (kleiner Flex) habe ich herausgefunden, dass ganze 73 der ersten 151 Pokémon-Namen Blendings sind. Dass Blendings bei französischen Pokémon-Namen auf den ersten Blick noch dominanter scheinen, dürfte auch daran liegen, dass sie die zuvor erwähnten umständlichen Regeln für gewöhnliche Komposita umgehen.

Während die eingängige Morphologie der Pokémon-Namen für Sprachvertraute einer der Gründe ist, wieso Pokémon als Markenobjekte so schnell im Kopf bleiben, sind sie für diejenigen, die neu in eine Sprache einsteigen, eine der größten Hürden. Die verwendeten Bestandteile sind selten Teil des Alltagswortschatzes und insbesondere bei Blendings wird nicht immer sofort deutlich, wo ein Begriff aufhört und der andere beginnt. Nach einem Blick in die Etymologien in der französischen Poképédia haben jedoch auch die immer wieder auftauchenden Pokémon-Namen denselben verstärkenden Effekt wie die Attacken.


Endlich macht Pokémon wieder Spaß!

Der schönste Nebeneffekt des Sprachenlernens mit Pokémon ist, dass die Spiele selbst endlich wieder Spaß machen! Spätestens mit »Sonne und Mond« hat das Dialogvolumen der Pokémon-Spiele einen ertränkenden Pegel erreicht. Das Gros der Dialoge ist stilistisch eintönig geschrieben oder schlicht hirnbetäubend sinnlos. Nur jede zehnte Textbox, die wir wegklicken, ist relevant für den Spielinhalt.

Für Neulinge in einer Fremdsprache sind stilistische Banalität und ausuferndes Geschwätz der ideale Idiotenhügel. Plötzlich freue ich mich, wenn in »Pokémon Schwert« eine Cutscene endet und mich drei Schritte weiter sofort der nächste NPC anquatscht, um mir den Standort des Pokécenters zu zeigen. Doch auch die ausgelutschten alten Pokémon-Generationen für den Game Boy entblößen in einer Fremdsprache noch einmal ungeahnte Qualitäten.

Für diejenigen, die Pokémon im Grundschulalter gespielt haben, dürfte das Neuerleben der alten Klassiker in einer Fremdsprache eine interessante Rückkehr darstellen. Plötzlich müssen wir uns erneut Zeile für Zeile durch die Texte hangeln. Zuweilen übersteigt der sprachliche Intellekt eines Käfersammlers den unseren so sehr, dass wir uns mit halbem Verständnis seiner Aussage zufriedengeben.

Die erste Aufgabe in »Pokémon Rot« ist, für Professor Eich das Item »Eichs Paket« im Supermarkt von Vertania City abzuholen. Einer meiner Schulfreunde hat damals in seiner Lesefaulheit nur „Eichs Parkett“ gelesen und daraufhin stundenlang jeden Quadratmeter des Labors in Alabastia abgesucht. Solche groben Fehler bleiben mir zwar weiterhin verwehrt; dafür war meine persönliche Erfahrung mit »Pokémon Rouge« sogar noch interessanter.

Auch ich habe »Pokémon Rot« damals zur Einschulung bekommen; zu diesem Zeitpunkt konnte ich aber bereits fließend lesen. (Das Resultat eines kinderlosen Milieus, einer eifrigen Oma und früh einsetzenden Wissensdurstes.) Mit meinem anfangs gebrochenen Französisch konnte ich endlich nachempfinden, wie die anderen Kinder sich damals gefühlt haben, denen ich vorlesen musste, welche VM sie im Felstunnel zu verwenden haben.


Das fehlende Feature für Babbel

Selbstlernplattformen wie Babbel, Duolingo und Co. fehlt die Funktion, uns schnell mit großen Mengen fremdsprachigen Texts zu bombardieren, der unserem Sprachniveau angemessen ist. Pokémon ist in dieser Hinsicht die ideale Ergänzung zu trockenen Lernanwendungen. Im Falle der älteren Generationen ist es umständlich, eine andere Sprachversion zu spielen (jede Sprachversion ist im 3DS-eShop für 9,99 Euro pro Stück gelistet), doch auf den Modulen neuerer Generationen sind etliche Sprachen enthalten.

Der größte Minuspunkt beim Sprachenlernen mit Pokémon ist, dass Nintendo bis heute auf Sprachausgabe zu den Textboxen verzichtet. So lernen wir nur die sprachlichen Regeln und erweitern unser Vokabular, vertiefen aber nicht unser Verständnis der (gerade im Französischen oft undeutlichen) Artikulation. Leider gibt es insgesamt schockierend wenige Spiele, die französische Sprachausgabe und langsame Textboxen zum Wegklicken vereinen. Das nächste Ziel auf der didaktischen Skala ist also gleich »Assassin’s Creed Unity« in Paris.

Bis dahin muss es reichen, den Text in Pokémon selbst laut vorzulesen, um die eigene Artikulation zu trainieren. Dank der EXP-Zahlen am Ende jedes Kampfes sitzt sogar das seltsame französische Zahlensystem jenseits der Achtzig im Nu. [pg]


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Quelle Screenshots: Eigene