Nein, es war nicht alles schlecht im sommerlichen Tokyo. Doch selbst der größte Olympia-Enthusiast wird zugeben müssen, dass die Olympischen Sommerspiele 2020 nicht die Olympischen Spiele waren, die wir uns gewünscht hatten. Dass die Wettkämpfe ohne Publikum ausgetragen werden mussten, raubte den Tokyoter Spielen einen Teil der Atmosphäre und war natürlich nicht abzusehen, als die Jungs und Mädels von SEGA »Olympische Spiele Tokyo 2020 – Das offizielle Videospiel« entwickelten, das in Japan bereits im Sommer 2019 erschien. In den digitalen Stadien des familienfreundlichen Spektakels ist die Olympiawelt noch in Ordnung. Die Zuschauerränge sind brechend voll und einen »Mundschutz« brauchen allenfalls die Kampfsportler. Und auch sonst ist alles ziemlich wholesome.
Keine Ecken, keine Kanten
Ich war nicht überrascht, als die Schauspieler im Intro von Olympische Spiele Tokyo 2020 semi-realistisch proportionierten Figuren im Comiclook wichen. Dass Tokyo 2020 keine trockene Simulation ist, sondern ein zugängliches Spektakel für die Generation Fortnite, war mir nämlich schon im Vorfeld klar. Und tatsächlich finde ich die Figurendesigns des Spiels recht ansprechend. Es ist nicht der typisch japanische Manga-Look, doch er hat alle Vorzüge, die eine stilisierte Darstellung mit sich bringt: Die Emotionen der Athleten lassen sich klar in ihren Gesichtern ablesen, ihre leicht überzeichneten Muskelpartien vermitteln Sportlichkeit und Energie. Es sind kleine, knuffige Kraftbündel, die nicht einmal in die Nähe des Uncanny Valley geraten. Was mich überraschte war, dass Olympische Spiele Tokyo 2020 nicht nur bei der visuellen Gestaltung der Figuren, sondern auch in anderen Aspekten auf Realismus pfeift.
Körperkult ade!
Ganz klassisch versuchte ich mich zuerst am 100-Meter-Lauf und war nicht wenig erstaunt, als ich sah, dass unter den Kontrahenten meiner Spielfigur nicht nur Männer und(!) Frauen waren, sondern auch Athleten, die ich anhand ihres Körperbaus eher im Ringen, Gewichtheben oder Kugelstoßen vermutet hätte, nicht aber in einem Sprintwettbewerb. In der Tat pfeift Olympische Spiele Tokyo 2020 auf jegliche Korrelation zwischen Körperbau und sportlichem Können. Ob dick oder dünn, hochgewachsen oder klein, muskulös oder schmächtig – ein jeder darf in allen 18 Disziplinen antreten und hat exakt die gleiche Aussicht auf Erfolg.
Real existierende nationale Stärken werden genauso wenig reflektiert: Einem computergesteuerten Tischtennisspieler aus Angola ist nicht weniger zuzutrauen als einem aus China. Und auch die Trennung zwischen den Geschlechtern wird von Sega nicht nur aufgehoben – es wird noch nicht einmal von Geschlechtern gesprochen: „Style“ nennt sich die Option im Charaktereditor, mit der wir zwischen eher männlichem und eher weiblichem Körperbau wählen dürfen.
Das alles ist einerseits wunderbar inklusiv und einladend. Andererseits geht es so weit an der Realität des Leistungssports vorbei, dass ich mir nicht sicher bin, ob dem Ideal eines respektvollen Umgangs mit unterschiedlichen Körpertypen tatsächlich gedient ist, wenn die verschiedenen sportlichen Leistungspotentiale real existierender körperlicher Differenz kurzerhand negiert werden. Ein olympischer Wettstreit ist kein Deckchenstricken, er wird nicht allein durch Können und Wollen gewonnen, sondern auch durch eine Hochspezialisierung des menschlichen Körpers, bei der die Grenzen dessen, was gesund ist, nicht selten überschritten werden. Da kann man schon einmal die Frage stellen, ob Segas Ansatz die Härten des Hochleistungssports nicht einerseits verharmlost und andererseits Respekt vermissen lässt, gegenüber den Leistungen der Athleten, auch in Sachen Körperoptimierung.
Gerade das bunte Nebeneinander der Disziplinen bei Olympia ist in meinen Augen immer ein faszinierender Beleg für die Kostbarkeit körperlicher Diversität, der „Normschönheit“ auf die Plätze verweist und zeigt, wer und was „sportlich“ sein kann; und der durch die vollendete Gleichheit in Segas Tokyo 2020 zumindest nach meinem Empfinden eher sabotiert als reproduziert wird. Olympische Spiele Tokyo 2020 hätte zeigen können, dass die Statur eines Supermodels zum Hammerwerfen nicht unbedingt taugt, vermittelt aber das Gegenteil. So stellt der Zyniker in mir fest, dass in einem Spiel, in dem jeder Körper alles kann, unterm Strich ja doch nur eines zählt: das Aussehen.
18-Disziplinen-Freistil
Doch lassen wir die Kirche im (olympischen) Dorf: Tokyo 2020 möchte ganz offensichtlich keine Simulation sein und will gar nicht, dass wir in die Körper realer Sportler schlüpfen. Es ist „nur“ ein Spiel. Ein Schauspiel. Ein naives Spektakel für Jedermann. Stellen wir uns eine Schar Grundschulkinder vor, die mit großer Faszination ihre ersten Olympischen Spiele im TV gesehen und jede Menge zuvor unbekannte Sportarten kennengelernt haben, und die das Gesehene nun nachstellen: „Kommt, wir ’spielen‘ Olympiade!“ [sic!]
In Olympische Spiele Tokyo 2020 darf beinahe jeder und jede einmal Olympionike sein, sich unter gleichen Voraussetzungen mit allen anderen messen und vom Sieg in der Disziplin der Wahl träumen, ungeachtet der eigenen körperlichen Veranlagungen (oder besser: denen der eigenen Spielfigur). Hat man diese naive Prämisse einmal akzeptiert, ist es nicht schwer, Tokyo 2020 grundsympathisch zu finden und zu erkennen, wie die einzelnen Teile seiner Design-Philosophie ineinander greifen.
Es ist nämlich nicht nur die Botschaft, die vermittelt wird, und die man gutheißen oder eben auch problematisieren kann, sondern auch die Tatsache, dass die Spielerfahrung von Olympische Spiele Tokyo 2020 – ganz den aktuellen Trends folgend – um einen selbst erstellten Charakter gestrickt ist. Nur durch den Prinzip der großen Gleichheit wird die Fokussierung auf einen Charakter, der den Spieler oder die Spielerin durch alle Disziplinen und in den Online-Modus begleitet, schließlich erst möglich und Tokyo 2020 erhält den Grad an Individualisierbarkeit, den manche Spieler fast schon als selbstverständlich empfinden.
Mich persönlich kann man mit Charaktereditoren allerdings jagen. Statt eine eigene Figur oder gar ein Abbild meiner Selbst zu erstellen, wählte ich daher zunächst den weniger larryhaften (sprich den weiblichen) der beiden Default-Charaktere, der deshalb auf den meisten Screenshots dieses Artikels auch zu sehen ist, ohne ihn bzw. sie auch nur einen Deut anzupassen. Das hinderte mich nicht daran, im Verlauf der Spielstunden eine gewisse Zuneigung für meine Spielfigur zu entwickeln, wie ich sie für die (metaphorisch) gesichtslosen Athleten anderer Mehrsportspiele nie empfunden hatte. Mein kleines Energiebündel begleitete mich durch die Disziplinen: Auf den Sprint folgte der Hürdenlauf, und im Hammerwurf errang ich bzw. sie mit lautem Schrei die erste Goldmedaille. Im Judo bestritt ich mein erstes Online-Match und gewann, ohne zu wissen, was ich tat; und im Tennis verfluchte ich die Spielmechanik, weil es vielleicht die schlechteste Umsetzung des Sports ist, die ich je gespielt habe, und das aus dem Hause, in dem einst (sicherlich von anderen Leuten) Virtua Tennis entwickelt wurde.
Und viel mehr will ich zur Spielmechanik auch gar nicht sagen, einfach weil sie keinen Deut bemerkenswert ist: Olympische Spiele Tokyo 2020 zeigt genau die Qualitätsschwankungen, unter denen Spiele dieser Art eigentlich immer leiden. Es hat ein gewisses Maß an Polish, das garantiert, dass die meisten der 18 Disziplinen reibungslos spielbar sind, und ist gleichzeitig eben „nur“ ein Lizenzspiel, in seinen Möglichkeiten limitiert durch eine mutmaßlich kurze Entwicklungszeit und die Bürde der Lizenzkosten. Pi mal Daumen lässt sich sagen, dass die Disziplinen, die auf Zeit ausgeübt werden und in denen keine direkte Interaktion mit den Kontrahenten stattfindet – also Disziplinen der Leichtathletik oder im Schwimmen – eher gelungen sind. In der Mehrzahl misslungen, weil unterkomplex, schlecht ausbalanciert oder schwammig steuerbar, sind insbesondere die Mannschaftssportarten. Aber überrascht das jemanden?
Spannender ist der Charaktereditor, den ich mir schlussendlich doch ansah, weil ich ja diese Kritik schreiben wollte. Und siehe da: Er wusste zu gefallen. Sega hat einen Editor entwickelt, der sich ähnlich einfach bedienen lässt wie Nintendos Mii-Editor, und der doch komplex genug ist, um eine breite Variabilität zu ermöglichen und die Charakterköpfe umzusetzen, die einem vorschweben.
Das beste Beispiel für kluges Design ist die zweistufige Option für die Statur der Figuren. Hier wird zunächst einer von drei Körpertypen ausgewählt, in etwa muskulös, schmächtig oder dick. Ausgehend von diesen drei Grundtypen können Feineinstellungen in den Kategorien Größe, Gewicht und Muskelmasse vorgenommen werden. Eine dicke Figur sieht nicht automatisch unsportlich aus und eine schmächtige Figur mit hoher Muskelmasse gerät „anders“ muskulös als eine Figur auf Basis des muskulösen Figurenmodells. Nur im letzten Fall erhält sie die ausgeprägte Schultermuskulatur, die für manche Disziplinen charakteristisch ist, die für einen drahtigen Langstreckenläufer allerdings untypisch wäre.
Es ist somit nicht erforderlich, ein Dutzend Parameter zu jonglieren, um den eigenen (Wunsch-)Körper zu formen und ich war überrascht, wie unkompliziert die einzelnen Attribute ineinander greifen. Ein weiteres Beispiel: Bei vielen Editoren ist die Wahl des Geschlechts allen anderen Optionen vorgeschaltet. In Tokyo 2020 ist es ein Parameter unter vielen, das sich ebenso leicht ändern lässt wie wie die Haarfarbe des Athleten. Ein Knopfdruck genügt und mein weiblicher Charakter bekommt einen eher männlichen Körperbau verpasst. Und das Resultat sieht nicht etwa „falsch“ aus: In Kombination mit den eher weiblichen Gesichtszügen ergibt es einen schönen androgynen Mann. Wo bei manchen Editoren viel Zeit und Können erforderlich wären, ergeben sich überraschend attraktive Figuren mit dem Editor von Tokyo 2020 manchmal wie von selbst.
Everything Is Wholesome?
Spätestens nachdem ich mich mit den Charaktereditor auseinandergesetzt hatte, wandelte sich mein erstes Befremden in Sympathie und ich verstand, was Olympische Spiele Tokyo 2020 erreichen wollte. Es verfolgt einen eigenwilligen, aber runden Ansatz, den es konsequent durchzieht. Sogar die kindischen Blödsinnskostüme erschienen mir auf einmal nicht mehr so fehlplatziert, wie ich im Vorfeld erwartet hätte. Im Piratenkostüm auf dem Beachvolleyball-Platz? Why not, why not? Meine Kontrahentin eine dicke Frau im Bikini? Und ich dachte, ich wäre der Anarchist!
Das liegt auch daran, dass die Kostüme liebevoll gestaltet und wirklich hübsch sind. Das Freischalten geht schnell von der Hand und auf Microtransactions verzichtet Tokyo 2020 so vollkommen, dass man es auch (oder gerade) Kindern an die Hand geben kann.
Ein paar Einschränkungen gibt es aber doch und bei einem Spiel, das so viel erlaubt, fällt das, was es nicht zulässt, umso stärker ins Auge. Mit Vollhelm ins Schwimmbecken? Kein Problem! Einen männlichen Charakter in einen Bikini oder Badeanzug kleiden? Leider gar nicht, leider nein. Nun würde ich nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich das unverständlich oder schlimm fände, oder den Entwicklern vorwerfen würde. Die Frage nach dem Warum kann man aber schon mal stellen, wenn man gleichzeitig die Möglichkeit hat, mit Ritterrüstung oder Raumanzug ins Becken zu steigen.
Dem Gedanken der maximalen Inklusion zuwider läuft auch, dass Olympische Spiele Tokyo 2020 „nur“ aus 80 Nationen wählen lässt. Ja, das sind schon eine Menge, aber es sind eben längst nicht alle 205. Bedenkt man, dass sich die Repräsentation von Nationen im Spiel einzig auf die Flaggen und die Farbcodes ihrer Dresses beschränkt und (mit Ausnahme eines speziellen Modus) Fantasieathleten antreten, wäre es dann zu viel verlangt gewesen, ein paar mehr oder alle 205 real teilnehmenden Nationen ins Spiel einzubeziehen? Ich darf selbstverständlich für Deutschland antreten; als ich jedoch gegen meine Frau im lokalen Zweispielermodus spielen wollte, blieb ihr die Wahl des eigenen Heimatlandes verwehrt, obwohl es bei den echten Olympischen Spielen natürlich vertreten ist.
Schließlich sollte auch nicht vergessen werden, dass der Charaktereditor – so vielfältige Kreationen er auch erlaubt – einige Körper ausschließt: Ja, Olympische Spiele Tokyo 2020 ist kein Spiel zu den Paralympics, aber warum eigentlich nicht? Wenn schon Männer und Frauen jeglicher Statur unter exakt denselben Voraussetzungen antreten dürfen, ist das Fehlen derjenigen Körper, deren „Normabweichung“ ein unbequemes Maß überschreitet, umso augenfälliger. Hier zeigt sich, dass auch eine bis ins Naive übersteigerte Interpretation des „Together“ – das seit diesem Jahr das „Faster, Higher, Stronger“ des olympischen Mottos ergänzt – noch immer Grenzen kennt. [sk]
Olympische Spiele Tokyo 2020 – Das offizielle Videospiel
(engl. Olympic Games Tokyo 2020 – The Official Video Game)
Sega / Sega
Director: Hitoshi Furukubo
Producer: Nobuya Ohashi
Gespielt auf PlayStation 4 (auch für: Nintendo Switch, Xbox One, Windows PC, Stadia)
Erstveröffentlichung: 22. Juni 2021 (Japan: 24. Juli 2019)
Quelle Screenshots: eigene Screenshots der PlayStation-4-Version.
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Mir gefällt der fiktionale Ansatz eines realistischen Sportspiels. Die monotonen Feinjustierungen in der alljährlichen FIFA- und PES-Simulation sind einfach nur noch ermüdend. Doch der Sport holt mich zurzeit weder im realen noch im virtuellen Leben ab. Trotz meiner andauernden Sportlethargie, wurde ich immerhin mit der diesjährigen Fußball-EM passabel unterhalten. Der Beitrag war übrigens auch sehr spannend.
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