Wer kennt sie nicht, die Floskel »ein Spiel, das ihr an einem Abend durchspielen könnt«? Wie häufig sind es am Ende doch eher zwei, drei Abende oder ein sehr langer Abend, die sich hinter der Phrase verbergen? Das Indie-Stealth-Horror-Spiel »The Chameleon« hält das Ein-Abend-Versprechen und liefert alles, was ein Spiel von Welt braucht, in zwei Stunden.
»The Chameleon« verschwendet keine Zeit. Das Ziel ist von Beginn an klar: Irgendwer hat in einem Labor an dir herumgepfuscht, du musst entkommen! Trotz ihrer Kürze nimmt die simple Handlung einige Wendungen, die mit unseren Erwartungen spielen. Dabei erschlägt »The Chameleon« uns nicht mit Dialogen oder langen Erklärungen. Einige Lore-Brocken begegnen uns auf dem Weg aus der Gefangenschaft – den Rest übernehmen Bildsprache und Gameplay. Das sich verschiebende Kräfteverhältnis zwischen unserem Charakter und den Roboterwachen, die wir austricksen, führt subtil zu einem allmählichen narrativen Paradigmenwechsel.
»The Chameleon« erinnert damit stark an »Carrion«, ein anderes Horror-Spiel, das mit dem Verhältnis zwischen Flucht und wachsender Macht spielt. Im Gegensatz zu »Carrion« profitiert »The Chameleon« davon, dass es keine Marketing-Kampagne hatte, die die Machtfantasie über den Survival-Aspekt betonte und damit falsche Erwartungen weckte.

Sci-Fi-Horror als Gourmet-Fast-Food
Entgegen der Trends zum »cineastischen Spiel« haben es bisher nur wenige große Titel geschafft, den größten Vorteil einzufangen, den das Medium Film gegenüber Videospielen hat: Die rezeptionsbedingte Kompaktheit. Während Kinobesuche eher selten in mehrtägige Urlaube ausarten, fehlt vielen Spielen jegliche Selbstdisziplin, sich einfach mal kurz zu fassen. Das Ergebnis sind bombastisch inszenierte Schnitzeljagden jenseits der zwanzig Stunden wie »The Last of Us Part II« oder »God of War« (2018).
»The Chameleon« quetscht das komplette Progressionskonstrukt eines typischen semi-linearen Singleplayer-Spiels in zwei Stunden Spielzeit: Unser Charakter durchquert verschiedene offene Areale, die wir in einer vordefinierten Reihenfolge abklappern. Metroidvania-ähnliche Upgrades eröffnen neue Wege in der Spielwelt und neue Taktiken, mit Wachen fertigzuwerden. Optionale Energie-Upgrades sind ein sinnvoller Anreiz, jeden Winkel zu erkunden und machen gerade am Ende einen spürbaren Unterschied im Kräfteverhältnis.
Es entsteht ein Gefühl von stetigem und spürbarem Wachstum – sowohl durch spielinterne Upgrades als auch durch höhere Kompetenz in den Mechaniken. »The Chameleon« braucht dafür keine vier Skill-Bäume mit 120 Fähigkeiten, die jede Schultertaste fünffach belegen. Wild teleportierend in Zeitlupe Falcon-Punches zu verteilen fühlt sich genauso befriedigend an wie ein Gefecht nach sechzig Stunden in »Assassin’s Creed Valhalla«.

Endlich kommt die Texturwarp-Renaissance
Dass »The Chameleon« in seiner Kürze so vollkommen wirkt, ist auch der stilsicheren Ästhetik geschuldet. Selbst ohne die offensichtliche Retro-Stilisierung würde der Grindhouse-Horror mit 70s-Flair wunderbar funktionieren. Geschickte Beleuchtung sowie vertraute 70s-Sci-Fi-Architektur und -Ikonographie zeichnen eine stimmige Spielwelt, die Grusel und Beklemmung vertieft. Die naive Prämisse über Leben auf dem (Erd-)Mond verhindert dabei, dass »The Chameleon« zu ernst oder düster wird. Der Space-Italo-Western-Soundtrack und die Soundeffekte, die einem Kraftwerk-Album entsprungen sein könnten, tun ihr Übriges, um die Atmosphäre angemessen zu unterstreichen und gleichzeitig aufzulockern.
Die achteckige Polygonkirsche auf der Bitmap-Torte ist der Ur-PlayStation-inspirierte Look mit seinen wabernden, niedrig aufgelösten Texturen. Diese Phänomene im modernen technischen Korsett der Unreal Engine 4 zu sehen – mit exakt der richtigen Unschärfe auf einem 4K-Display – löst ein ganz eigenes, nostalgisches Kribbeln im Bauch aus.
»The Chameleon« ist solch ein vollkommenes Ein-Mann-Projekt, dass es geradezu traurig macht, nur knappe acht Euro dafür bezahlen zu dürfen. Doch das ist das Los der Zwei-Stunden-Spiele, die sich in einem Markt voller Endlos-Epen behaupten müssen. Der wahrgenommene Wert eines Spiels liegt zu häufig in einer Zahl, die viele ohnehin nie ausschöpfen. [pg]

The Chameleon
Merlino Games
Entwickler: Antonio Freyre
PC Windows (Steam / Epic)
Erstveröffentlichung: 13. Juli 2021
Quelle Bilder: Pressekit des Entwicklers
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Ein Horror-Spiel im PS1-Look, das nicht länger geht als ein abendlicher Akte X Binge, was gibt es nicht zu lieben?
Leider für mich wieder ein Fall von spannendem Indietitel, der zunächst exklusiv für PC erscheint, und den ich bis zum Konsolenport wieder vergessen habe.
Das Steam Deck kann gar nicht früh genug kommen.
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Das Spiel klingt überaus vielversprechend. Dein Beitrag hat mich überzeugt. Mein nächster Steam-Kauf steht damit fest.
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Ich finde es ja auch interessant, wie mir allein die Kombination aus dem Urteil „dieses Spiel ist gut“ und der Tatsache „es ist nur zwei Stunden lang“ große Lust auf das Spiel macht, obwohl mich Setting und Genre gar nicht unbedingt ansprechen. Ich würde sogar sagen, dass ich mittlerweile eher bereit bin, für kurze Spiele (mehr) Geld auszugeben als für (zu) lange:
a) Weil sich bereits die erforderliche Zeitinvestition wie eine „Bezahlung“ anfühlt, die ich zusätzlich zum Geldwert leisten muss. Lange Spiele „kosten“ mich also doppelt.
b) Weil es Tage oder Wochenenden gibt, da habe ich einfach Bock auf eine neue Spielerfahrung und dafür bezahle ich auch gern das Äquivalent eines Kinotickets oder Taschenbuchs. Wenn das, was ich dafür bekomme, aber 50 Stunden lang ist und erst nach 10 Stunden anfängt, Spaß zu machen (und mir somit nicht das freie Wochenende versüßt, sondern unter der Woche die Zeit raubt), dann erfüllt es nicht mein Bedürfnis, selbst wenn es für 8 Euro im Sale ist.
Es sind deshalb oft gerade die großen Spiele, bei denen ich am längsten zögere, sie zu kaufen, weil ich davon ausgehe, dass mir am Ende eh die Zeit fehlt, sie zu spielen, und ich sie genauso gut erst hätte kaufen können, wenn sie noch weiter im Preis gesunken sind.
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