Mit seinem deutschen Titel »NÜSSE – Mysteriöse Überwachung« macht »Nuts« sogar deutschen Literaturübersetzungen Konkurrenz. Das narrative Überwachungsabenteuer mit Anleihen an »Firewatch« stammt von einem internationalen Indie-Kollektiv und passt perfekt in den aktuellen Zeitgeist rund um Umwelt- und Klimaschutz.

Bewaffnet mit Kamera und Fotokopierer dokumentieren wir einsam im idyllischen Melmoth Forest die Routen der ansässigen Eichhörnchen. Anlass unserer Forschung ist, die Abholzung des Waldes für ein kapitalistisches Großprojekt zu verhindern. Unsere einzige Partnerin ist die Aktivistin Nina Scholz, die selbst schon einmal im selben Wald auf einer ähnlichen Mission war. Per Telefon treibt sie die Rahmenhandlung voran und informiert uns über neue Entwicklungen im Hintergrund.

Einsam im Wald, eine Frauenstimme im Telefonhörer – was zuerst arg nach »Firewatch« klingt, offenbart schnell weitaus raffinierteres Gameplay. Neben regelmäßigen Telefonaten mit Nina Scholz verbringen wir die meiste Zeit damit, unsere Kamerastative tagsüber so zu platzieren, dass sie nach Einbruch der Nacht möglichst präzise zeigen, wie die Routine der Eichhörnchen aussieht. In jedem Zyklus kontrollieren wir also unsere neuesten Videoaufnahmen und verändern dann auf deren Basis die Kamerapositionen für die nächste Nacht, sodass sie (hoffentlich) die nächsten Meter auf dem Weg zum Eichhörnchennest einfangen.

Öffnen wir den Wikipedia-Artikel zum Thema »Tracking«, hat »Stealth« sogar einen dedizierten Unterabschnitt. Das schreit geradezu nach Gamification. Am Mangel an Vorzeigebeispielen sehen wir, wie schwierig es ist, eine originelle, gewaltfreie Spielmechanik zu erfinden – und dann auch noch eine, die nicht auf abstrakten Puzzles, sondern auf einer realistischen Aufgabe oder einem tatsächlich existierenden Job basiert.

»Nuts« lässt uns den Job der Wildtieruntersuchung mit vergleichsweise wenig Abstraktion nachspielen, ohne dass er sich anfühlt wie ein Job. Lediglich die 23,5 Stunden Warten pro Tag fehlen für eine noch authentischere Erfahrung. Was bleibt, ist die destillierte, voyeuristische Faszination, das Geheimnis der Eichhörnchen Nacht für Nacht, Kamerawinkel für Kamerawinkel aufzudecken. Ursprünglich plante das Team »Nuts« mit noch mehr Gamification, in Form von Highscores oder Belohnungen. Ohne diesen Ballast wirkt das Spiel jedoch weitaus meditativer. »Nuts« ist das Spiel für Leute, denen die Pandemie bei ihrer leidenschaftlichen Suche nach Big Foot einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.


Tracking zwischen Realität und Minimalismus

Die Kernmechanik des Tracking ist ursprünglich eine Technik aus der Jagd. »Nuts« verzichtet jedoch auf den eigentlichen Akt des Jagens. In seinen Grundzügen geht Tracking zurück bis in die früheste Menschheitsgeschichte; manche sagen sogar, die Kunst des Fährtenlesens sei die erste nachvollziehbare Anwendung wissenschaftlichen Denkens – damals jedoch noch ohne Gadgets wie Kamera oder Überwachungsmonitore. Die fünf Sinne reichten, um verschiedene Arten von Fußspuren oder Tierrufen einzuordnen und so die nächste Mahlzeit zu sichern.

Welche Tierart ist hier wohin gelaufen? Ob es sich bei Rehspuren um Rehbock, Geiß oder Kitz handelte, war damals zweitrangig. Heute hat der Zweck des Tracking eine Kehrtwende gemacht: Es geht nicht mehr ausschließlich darum, Tiere zu jagen, sondern sie zu erforschen oder zu beschützen. Die goldene Regel ist deshalb Sorgfalt: Exakt belegen, minutiös dokumentieren und am besten jedes Haar und jedes Exkrement hinterfragen. Trugschlüsse und Fehlinterpretationen machen Ergebnisse unglaubwürdig.

»Nuts« behandelt uns, gemäß seinem Minimalismus, weitaus großzügiger. Dass »Nuts« für Apple Arcade entwickelt wurde, lässt bereits darauf schließen, dass es nicht so kleinteilig werden durfte wie ein waschechter Hunting Simulator. »Nuts« bleibt bis zum Ende bei zwei Hauptaktionen: Kameras aufstellen und auswerten. Dieser Zyklus behält genug Tiefe und Variation, um ein Gefühl von Komplexität vorzutäuschen. Insbesondere vorm Hintergrund des narrativen Fokus ist ein solches Gefühl wichtiger als tatsächliche Komplexität.

Dass »Nuts« sich sofort von selbst erklärt, hilft der Verdaulichkeit. Generell ist Tracking im Sinne des Naturschutzes eine Praktik, von der die meisten Spieler*innen schon einmal gehört haben dürften. Schließlich gibt es weltweit etliche Organisationen, die sich dem Kampf für Artenschutz und Naturschutzgebiete verschrieben haben. Auch Tierdokumentationen drehen sich häufig darum, die Tierwelt genau zu untersuchen und ungestellt auf Film zu bannen. In beiden Situationen hat das Tracking mit Kamera eine große Bedeutung fürs Sammeln authentischer Belege. Wildkameras sind einer der effektivsten Wege, Populationsmengen und Aktivitäten im Wildleben glaubwürdig zu belegen.

»Nuts« spielt zu einer Zeit, in der wir unsere Ergebnisse noch per Fax an die Zentrale senden. Deshalb können wir die Eichhörnchen nicht einfach mit ferngesteuerten Bluetooth-Kameras oder Drohnen ausspionieren. Realistisch ist auch, dass wir in jeder Nacht nur wenige Sekunden Videomaterial aufnehmen. Denn auch im realen Tracking ist es üblich, nur bei Auslösen eines Bewegungssensors kurze Schnipsel zu filmen – allein aus Gründen der Sparsamkeit zu Zeiten des analogen Films.

Diese authentischen Limitationen verankern »Nuts« nicht nur tiefer in einer angenehmen Simplizität; sie machen es zu einem aufregenderen Spiel. Einmal platziert, müssen wir uns auf die Perspektiven verlassen. Unsere klobigen Wildkameras auf mannshohen Tripod-Stativen sind weniger subtil als übliche Wildkameras. Letztere werden häufig an Bäumen befestigt; die Stative in »Nuts« sind in der Interaktion aber deutlich komfortabler.


Lasst uns über Eichhörnchen reden

Im gesamten Spiel verfolgen wir nur eine Handvoll winziger Lebewesen – kaum ein Dutzend bis zum letzten Kapitel. Falls sich jemand gefragt hat: Wieso ausgerechnet Eichhörnchen? Das Spiel verrät es nur bedingt, deshalb an dieser Stelle: Für einen gesunden Wald sind Eichhörnchen eines der wichtigsten Tiere. Mehr als alle anderen Tiere verteilen sie großflächig Samen, die die Flora regenerieren. Eichhörnchen verhalten sich wie Kauffreudige im Steam-Sale: Knapp 96 Prozent aller Samen, die sie in die Finger kriegen, verstauen sie unter der Erde und etwa 30 Prozent holen sie nie wieder hervor.

Forscher*innen fanden außerdem heraus, dass Eichhörnchen echte Connaisseurs sind: Sie erkennen gesunde und ungesunde Samen besser als menschliche Wissenschaftler*innen. Neben ihrem Faible für Samen beschützen Eichhörnchen Pflanzen und Bäume, da Schädlinge wie Larven und Insekten zu ihrer (ansonsten überwiegend vegetarischen) Ernährung gehören. Grund genug also, um ein hurrakapitalistisches Großprojekt inmitten ihrer Lebenszone zu verbieten.

Auch wenn »Nuts« seinen Teil zur Repräsentation von Eichhörnchen in Videospielen leistet, schert es sich nicht, ob wir im Spiel nun graue oder rote Eichhörnchen verfolgen. Welche Art hier durch welche Region flitzt, ist irrelevant. Denn allein spielerisch sind Eichhörnchen die perfekten Ziele für ein packendes Katz- und Mausspiel. Sie sind klein, schnell, wendig und springen aus dem Stand ein Vielfaches ihrer eigenen Körperlänge. Gegen diese Parkour-Skills sehen sogar »Assassin’s Creed« und »Mirror’s Edge« alt aus.

Die stilisierte Optik trägt dazu bei, das Wesentliche im Blick zu behalten. Wälder in modernen Spielen neigen dazu, visuell unruhig und chaotisch zu sein. Je mehr überflüssiges Gestrüpp durch die Level wuchert, desto schneller sehnen wir uns zurück zum Nintendo 64, bei dem ein Busch nur aus einer Bitmap bestand. »Nuts« unterscheidet in seiner Farbgebung zwischen statischen und interaktiven Elementen. Alles, was wir sehen müssen, sticht aus dem Rest hervor. Durch die starken farblichen Kontraste sind sogar die winzigen Eichhörnchen auf dutzende Meter klar zu erkennen – wenn auch nur pixelgroß.

»Nuts« nutzt noch nicht einmal Licht und Schatten und lässt entferntere Objekte einfach im Nebel verschwinden. Es gibt nichts, was im Bild Unruhe stiftet. Gleichzeitig gelingt »Nuts« die Illusion eines dichten, üppigen Waldes. Die Lücken lassen Raum für die eigene Fantasie. Natur in Spielen muss nicht natürlich aussehen, um als natürlich wahrgenommen zu werden.

Zudem peitscht die beeindruckende Soundkulisse die Fantasie voran. Die Geräusche des Waldes gehen in die entgegengesetzte Richtung der nahezu monochromen Grafik: Die Laute sind extrem realistisch und detailverliebt. Sogar Untergründe, die auf den ersten Blick ähnlich aussehen, klingen anders, sobald wir auf ihnen laufen. Die Umgebungsgeräusche sind abwechslungsreich, umhüllend und glasklar. »Nuts« gelingt audiovisuell im großen Stil, was letztes Jahr »In Other Waters« reduzierter gelang.

Entgegen aller Abstraktion und Destillation entführt »Nuts« uns so in eine beruhigende Naturerfahrung, deren subtile, aber effektive Rahmenhandlung das Geschehen mit erzählerischer Gravitas auflädt. In seinem Minimalismus ist »Nuts« auch ganz ohne Highscores und Quests schamlos gamey. Und doch wirkt es so organisch, dass wir jetzt sofort ein paar Wildkameras kaufen und das Spielgeschehen im nächsten Wald nachstellen könnten. [pg]


Nuts
(dt. auch: NÜSSE – Mysteriöse Überwachung)

Joon, Pol, Muutsch, Char & Torfi / Noodlecake
Apple Arcade (iPhone, iPad, Mac, Apple TV), Windows PC / Mac OS (itch.io, Steam, Humble), Nintendo Switch
Erstveröffentlichung: 22. Januar 2021

Design & Development: Joon Van Hove
Art: Pol Clarissou
Sound: Almut Schwacke
Writing: Charlene Putney
Level Design: Torfi Ásgeirsson

Quelle Bilder: eigene Screenshots (gespielt auf iPad Air 4 mit DualShock 4 Controller)

Quellen / mehr Infos:

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