Unter den einhundert am besten bewerteten Spielen laut Metacritic sind exakt vier mit alleinigen weiblichen Protagonistinnen. Eines davon ist »Celeste«. Die drei anderen sind First-Person-Shooter oder Variationen des Ego-Shooter-Genres: »Perfect Dark« (2000), »Metroid Prime« (2002) und »Portal 2« (2011). Doch welche Relevanz haben Frauenfiguren in einem Genre, das, qua seiner Darstellungskonventionen, seine Heldinnen und Helden ›unsichtbar‹ macht?


Unter den zuvor genannten Titeln ist »Perfect Dark« der älteste. Im Anschluss an die Fertigstellung des enorm erfolgreichen James-Bond-Shooters »GoldenEye 007« (1997) erschien es Martin Hollis, einem von mehreren Directors von »Perfect Dark«, nicht nur »logisch«, im geistigen Nachfolger eine Frau in den Mittelpunkt zu stellen. Er bezeichnete es auch als unerhört: »Wir dachten, es wäre cool, eine Heldin in einem FPS zu haben, hinter der Kamera. Das würde alle Regeln brechen. Es wäre, als ob ›du‹ eine Frau sein würdest.«

Der Androzentrismus in Hollis’ Aussage ist unverkennbar, aber auch das aufgeschlossene Interesse an der (rollen)spielerischen Überschreitung von Geschlechtergrenzen. Offenkundig befürchtete man nicht, dass das (augenscheinlich als exklusiv männlich verstandene) Publikum sich von einer weiblichen Protagonistin abgeschreckt fühlen könnte. Im Gegenteil ging man davon aus, dass männliche Spieler die Möglichkeit, ein Videospiel ›im Körper‹ eines anderen Geschlechts zu erleben, als neu und reizvoll empfunden würden.

Im Spiel ist davon jedoch nur wenig zu spüren. Das Hindernis dabei ist nicht, dass Protagonistin Joanna Dark eine Frau ist, die »Männerdinge« tut (wie Cate Archer in »No One Lives Forever« und Lara Croft in »Tomb Raider«). Ebensowenig liegt es an ihrem eher androgynen Erscheinungsbild – das nur konsequent ist, wenn schon Jeanne d’Arc als Namenspatin dient, und damit eben jene historische Persönlichkeit, die in Männerkleidung kämpfte.


Das Problem ist vielmehr, dass es Joanna Dark an Körperlichkeit mangelt, wie fast allen FPS-Helden zu jener Zeit (auch den männlichen). Dass die Spielfigur weiblich ist, zeigt sich während des eigentlichen Spielgeschehens deshalb nur durch ihre feminine Stimmlage und vielleicht noch an ihren Händen, die auf einen schlanken Körperbau schließen lassen, wie er üblicherweise mit Frauen assoziiert wird. Ansonsten ist die Protagonistin nur in den Zwischensequenzen tatsächlich als Frau erkennbar – also dann, wenn wir gerade nicht spielen und den Körper unserer Spielfigur nicht selbst erfahren. Maßgeblich für Joannas Charakterisierung als Frau ist somit einmal mehr die Beobachterperspektive, der normgebende Blick eines Dritten, der auf der Basis äußerer Erscheinung ein Geschlecht zuweist – und nicht das innere Körpergefühl.

Besser machen sollten es Spiele, die an den Rändern des FPS-Genres zu Hause sind. Denn dorthin verschlug es weibliche FPS-Heldinnen im Verlauf der kommenden Dekade, während sie aus den unverfälschten Actionspektakeln, die seit jeher den Kern des FPS-Genres bilden, sukzessive wieder verschwanden. Eine der wenigen Ausnahmen ist »Perfect Dark Zero« (2005), das unter anderer Regie entstand und Joannas Geschlecht insofern betonte, als es die Heldin weitaus stärker sexualisierte. Im eigentlichen Spielgeschehen bedeutet das, dass Joanna nun lange, rosarot lackierte Fingernägel trägt – Geschlechtercodierung mit der Brechstange. Eine Amazon-Rezensentin erkennt darin das Highlight einer unbeeindruckenden Grafik:

»I was also unimpressed with the graphics. The best looking items in the game were Joanna’s pink fingernails.«


»Mirror’s Edge« (2008), »Portal« (2007) und »Metroid Prime« (2002) sind an vollkommen unterschiedlichen Rändern des FPS-Genre zu Hause. Gemeinsam ist den drei Spielen der erwachsene und selbstverständliche Umgang mit dem Geschlecht ihrer jeweiligen Protagonistin. Anders als »Perfect Dark Zero« und »No One Lives Forever« vermeiden sie es, das Geschlecht ihrer Heldinnen allzu sehr in den Vordergrund zu stellen und zum (aus männlicher Perspektive exotischen) Alleinstellungsmerkmal bzw. Kuriosum zu erheben. Sie verstecken es aber auch nie, sondern rufen es immer wieder ins Bewusstsein, auch während des eigentlichen Spielgeschehens.

So erlaubt »Portal« durch Portale hindurch den Blick der Heldin auf sich selbst, während »Mirror’s Edge« vielleicht als erstes Spiel einen weiblichen Körper tatsächlich fühlbar machte – in einem Medium, in dem lange Zeit die bloße Darstellung weiblicher Figuren fast ausnahmslos aus dem männlichen Blickwinkel erfolgte. Innerhalb von zehn Jahren ist so der diametrale Gegenentwurf zu Anne aus »Jurassic Park: Trespasser« (1998) entstanden, wo ähnliche Versuche, dem Körper der Protagonistin eine spielimmanente Präsenz zu geben, auf ganzer Linie (und unfreiwillig komische Weise) scheiterten.

Doch auch »Metroid Prime« gelang es, seiner Heldin eine deutlich spürbare körperliche Präsenz zu geben. Anders als »Mirror’s Edge« war es zum Erreichen eines ähnlich immersiven Körpergefühls allerdings auf ein außerkörperliches Hilfsmittel angewiesen: Samus Arans Helmvisier, das die Wechselwirkungen zwischen dem Körper der Heldin und ihrer Umwelt auf vielfältige Weise fühlbar macht. Effektiv war dies allemal. Noch immer bringen Spielerinnen und Spieler ihr Erstaunen über die damit verbundenen Effekte zum Ausdruck: »Man seeing samus‘ hand during the X-Ray mode is creepy, like it really makes you feel human, like you’re really just a woman in a powersuit against things that have no second thoughts in killing you«, heißt es in einem Kommentar unter einem YouTube-Video.

Interessante Fragen sind, ob oder wie sehr das Gefühl der eigenen Verletzlichkeit durch das vermeintlich »schwache« Geschlecht der Heldin verstärkt wird, und ob weibliche Spielerinnen in diesem Punkt anders empfinden als männliche.

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Körperbewusstsein in Metroid Prime: Samus‘ eigene Hand erscheint im Röntgen-Visor, als sie diese schützend vor sich hält

Die gerade genannten Positivbeispiele bedeuten nicht, dass eine stärkere Betonung des Geschlechts weiblicher Heldinnen schlecht sein muss, wie »No One Lives Forever« (2000) zeigt, dessen feministisches Potential gerade in dem Punkt zum Ausdruck kommt, dass seine Protagonistin einem sexistischen Umfeld Paroli bietet, das ihr die vermeintlich Schwäche ihres Geschlechts und ihre offen nach Außen getragene Femininität immer wieder zum Vorwurf macht.

Doch ebenso wichtig ist es, dass auch in Spielen Darstellungen existieren, in denen das Geschlecht weiblicher Heldinnen einfach nur das ist: eine Selbstverständlichkeit, und nicht das faszinierende Andere, wie es das für »Perfect Dark«-Director Martin Hollis – in einem zweifellos wohlwollenden Interesse an der (spielerischen) Überschreitung von Geschlechtergrenzen – noch gewesen ist.

Dabei überrascht nicht, dass bei »Portal« (Kim Swift) genauso wie bei »Mirror’s Edge« (Senta Jakobsen und Rhianna Pratchett) Frauen in leitenden Positionen an der Entwicklung beteiligt waren, wogegen die FPS-Heldinnen der vorangegangenen Ära (und durchaus auch die Positivbeispiele) zum überwiegenden Teil von Männern bzw. rein männlichen Teams geschaffen wurden. Die wenig überraschende Ausnahme bildet »No One Lives Forever« (Samantha Ryan). [sk]


Mehr über die Darstellungen weiblicher Heldinnen in »Portal« und »Mirror’s Edge« könnt ihr in der neuen Ausgabe des GAIN Magazins lesen. Dort erscheint der vierte und abschließende Teil meiner Reihe über »Die Geschichte weiblicher Protagonistinnen in frühen First-Person-Shootern«. Der erste Teil der Reihe erschien in GAIN Magazin #13 und beschäftigte sich mit den frühesten FPS-Heldinnen in den 1990er Jahren. Der zweite Teil ist dem Jahr 2000 gewidmet, mit Ausnahme von »Perfect Dark«, dem ich mich im dritten Teil der Reihe zuwende (zusammen mit seinem Nachfolger und »Metroid Prime«). Im vierten Teil diskutiere ich die Möglichkeit eines feministischen FPS und schlage den Bogen zur neuen Normalität der vergangenen Dekade. Alle vier Hefte, mit insgesamt 26 Seiten zum Thema, sind auf der Homepage des GAIN Magazins erhältlich.


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Quelle Titelbild: Promo-Screenshot Mirror’s Edge, Electronic Arts 2008.