„Celeste“ war im Jahr 2018 ein Überraschungshit. Mit einer depressiven und von Panikattacken geplagten Heldin erregte der herausfordernde Pixel-Plattformer von Matt Makes Games viel Aufmerksamkeit. Kritiker und Publikum lobten neben den fordernden und gut durchdachten Levels auch die berührende Geschichte. Über die Protagonistin mit den feuerroten Haaren wurde dabei viel spekuliert: Madeline folgt einem inneren Ruf, den Mount Celeste zu besteigen. Vielleicht in der Hoffnung, ihrer Depression und ihren Panikattacken zu entfliehen?

Die Konfrontation mit dem Berg scheint allerdings das Gegenteil zu bewirken. Im Verlauf des Aufstiegs trifft die Heldin auf ein Spiegelbild ihrer selbst, das Madeline fortan verfolgt und ihre Panikattacken und Depressionen noch zu verstärken scheint. Es kursieren Interpretationen, in denen diese „Spiegelbild-Madeline“ als Personifizierung von Madelines Depression gedeutet wird. Überspitzt lautet die Botschaft dann in etwa: „Akzeptiere deine Schwäche – bzw. psychische Erkrankung – und du kannst alles erreichen.“ Aus einer tiefenpsychologischen Perspektive ist allerdings auch eine ganz andere Deutung denkbar – und sogar wahrscheinlicher.


Ein psychotherapeutischer Blick auf Madeline

Während des Spiels erfahren wir einiges über Madeline: Die junge Frau stellt hohe Ansprüche an sich selbst und rutscht bei Misserfolg häufig in große Selbstzweifel. Madeline scheint wenige soziale Kontakte zu pflegen und niemanden wirklich an sich heranzulassen. Das mit Depressionen häufig einhergehende niedrige Selbstwertgefühl beobachten wir auch bei ihr: Der Weg zum Gipfel führt durch ein heruntergekommenes Hotel, das vom Besitzer Oshiro nie ganz aufgegeben wurde. Unsere Protagonistin bietet dem schrullig-schrägen Hotelier ihre Hilfe an, obwohl sie sich dabei in Gefahr gibt – um zumindest dieses eine Mal etwas Gutes zu tun, wie sie selbst denkt.

Neben der Depression leidet Madeline an Panikattacken, die wir während einer Gondelfahrt über einen Abgrund eindrücklich miterleben. Die dünne Luft hatte Madeline bereits das Gefühl vermittelt, nicht gut atmen zu können. Als dann die Gondel abrupt hängen bleibt, gerät Madeline in Panik: Sie bekommt keine Luft mehr, die Umgebung verfärbt sich dunkel und Tentakel wabern über den Bildschirm. Theo, ein junger Social-Media-Fanatiker, den sie unterwegs kennengelernt hat, hilft ihr aus der Panikattacke heraus und die Gondel setzt sich wieder in Bewegung. Später erzählt Madeline Theo von zwanghaftem Grübeln, Perspektivlosigkeit und Schamgefühlen. Ihre bisherige Strategie zum Umgang damit sei das Trinken gewesen.

Wir erfahren also einiges über unsere Protagonistin und ihre inneren Kämpfe. Worüber wir hingegen nichts erfahren, sind die möglichen Ursachen für Madelines seelischen Zustand. Wieso stecken Selbstzweifel und Perspektivlosigkeit so tief in ihr? Weswegen zieht sie sich so sehr zurück? Ein paar Ansatzpunkte liefern womöglich die weiteren Ereignisse auf ihrem Abenteuer.


Madeline den Spiegel vorhalten

Der Weg zum Gipfel führt recht früh im Spiel zu einer „Old Site“ („alte Stätte“). Dort findet Madeline einen Spiegel, aus dem eine Art „Spiegelschwester“ bricht. Um zu verstehen, was es mit diesem „Zwilling“ auf sich hat, lohnt sich zunächst ein Blick auf die symbolische Bedeutung von Spiegeln:

Spiegeln haftet seit jeher etwas Mystisches an. In Märchen zeigen sie uns häufig Verborgenes oder Zukünftiges. Mal bringen sie eine ungekannte Wahrheit ans Licht und zuweilen sprechen sie zu uns. Schauen wir in einen Spiegel, verdoppeln wir uns auf gewisse Weise: Durch diese Gegenüberstellung ist es uns möglich, uns unserer selbst bewusst zu werden. Auch sehen wir im Spiegel das, was hinter uns liegt – er offenbart uns in dieser Hinsicht also mehr, als unsere eigenen Augen uns zeigen können [1]. Jedoch sehen wir ein seitenverkehrtes Abbild; wir betrachten also eine „andere Seite“ von uns.

Ist auch diese Spiegelbild-Madeline eine andere, bisher verborgene Seite Madelines? Die Spiegelschwester handelt in vielerlei Hinsicht aggressiv und verletzend und konfrontiert Madeline mehrmals mit unangenehmen Wahrheiten. Insbesondere anderen Personen gegenüber handelt sie abwertend und aggressiv; so beispielsweise gegenüber Herrn Oshiro, als dieser Madeline nicht aus dem Hotel gehen lassen möchte. Während Madeline meist sehr zurückhaltend bleibt, konfrontiert die Spiegelschwester den Hotelier mit dem desolaten Zustand seines Hotels, beschimpft ihn sogar und bricht sich und Madeline den Weg aus dem Hotel mit roher Gewalt. Vergleichen wir das mit dem, was wir über Madeline erfahren haben, sehen wir tatsächlich eine „andere Seite“, eine Art Gegenstück, das sich selbstständig gemacht hat. Madeline verbrachte viel Zeit und Energie damit, Herrn Oshiros Hotel aufzuräumen und auf seine Angebote einzugehen, obwohl sie ihre Reise schon lange fortsetzen wollte. Erst das Eingreifen der Spiegelschwester sorgte dafür, dass Madeline das Hotel verlassen konnte – allerdings zu einem hohen Preis: Es folgt eine Sequenz, in der Herr Oshiro zu einem großen, verzerrten Wesen heranwächst und Madeline verfolgt, in der Absicht, sie zu fressen.

Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die Spiegelschwester nur als aggressives und verletzendes Anhängsel zu verstehen, das sowohl Madeline als auch andere schlecht behandelt. Wir erleben die Spiegelbild-Madeline an vielen Stellen deutlich kraftvoller und vitaler als unsere Protagonistin es selbst ist: So lässt sich die Spiegelschwester nicht vom „Dialog-Bilderrahmen“ einengen, wird laut, wehrt sich, lässt sich nicht einschüchtern und spricht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Madeline hingegen erleben wir häufig – nicht nur im inneren Dialog – als eher zurückhaltend, in sich gekehrt, manchmal sogar unterwürfig.


Das Problem: Unterdrücken eigener Persönlichkeitsanteile

Diese aggressive und kraftvolle Seite verbirgt Madeline auch vor dem abenteuerlustigen Theo, dem sie immer wieder begegnet. Ein gemeinsames Erlebnis scheint das Band zwischen den beiden allerdings so sehr zu stärken, dass Madeline sich ihm schließlich doch öffnet:

Auf dem Weg zum Gipfel kommen die beiden durch einen alten Tempel, der das Innere der Menschen, die ihn betreten, auf magische Weise in seine eigene Gestalt aufnimmt. Das gilt nicht nur für Madelines Inneres, das unter anderem durch rote Stacheln und aggressive Tintenfische zutage tritt, sondern auch für Theo. Dieser gerät in einen Spiegel und wird später von Madeline gefunden, gefangen in einem großen Kristall. Ihr gelingt es, Theo zu befreien und mit letzter Kraft aus dem Tempel zu ziehen. Am nächtlichen Lagerfeuer entspinnt sich zwischen den beiden ein tiefgehendes Gespräch über ihre Hoffnungen und Ängste. Dort berichtet Madeline beschämt von ihrer Spiegelschwester. Sie erzählt, dass sie nach außen den Eindruck macht, als ob sie alles ganz gut im Griff habe. Allerdings wisse keiner, welche Kämpfe sie in Wirklichkeit ausfechtet.

Was Madeline nach außen präsentiert, wird in der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs als „Persona“ bezeichnet. Damit ist der Teil der Persönlichkeit gemeint, den wir gerne anderen Menschen zeigen. Anteile, die wir vor anderen und vor uns selbst verstecken möchten, erhalten ihren Platz im sogenannten „Schatten“ – einem unbewussten Teil unserer Persönlichkeit. Wir könnten die Spiegelbild-Madeline daher als personifizierten Schatten verstehen. Sie vereint alle Anteile, die Madeline an sich nicht wahrnehmen möchte. Außerdem scheint es, als ob Madeline diese unangenehmeren, „kantigeren“ Seiten ihrer Persönlichkeit bis dahin verborgen waren.

Warum taucht die Spiegelschwester überhaupt auf Madelines Reise auf? Rückkehrer von Pilgerreisen berichten häufig, dass die körperliche Anstrengung gemeinsam mit dem Losgelöstsein vom Alltag ganz neue innerseelische Prozesse anstößt. Der herausfordernde Aufstieg zum Mount Celeste lässt sich durchaus als eine solche Pilgerreise betrachten. Die besonderen Umstände scheinen also einen (innerseelischen) Raum zu schaffen, der die Manifestation und die Bewusstwerdung der Schatten-Anteile von Madeline begünstigt. Durch die im Spiegel stattgefundene Verdopplung kann Madeline nun diesen Anteilen gegenübertreten und sich ihrer bewusst werden. Allerdings vermeidet sie weiterhin eine direkte Konfrontation und flieht vor der Spiegelschwester, von der sie verfolgt wird.


Depression und Fall

Bis zum Besteigen des Mount Celeste scheint Madeline in der Lage gewesen zu sein, diese Schattenseite in Form ihrer Spiegelschwester von ihrem Bewusstsein fern zu halten. Mit diesem Fernhalten, das in der Psychoanalyse auch als „Abwehr“ bezeichnet wird, unterdrückte Madeline auch ihre aggressiven Seiten. Eine solche Abwehr aufrecht zu erhalten, kostet viel Energie. Tiefenpsychologische und psychoanalytische Modelle zur Entstehung von Depression beinhalten häufig die Annahme, dass Depressionen unter anderem durch Abwehr von aggressiven Impulsen entstehen können. Damit geht häufig eine Art innerer Rückzug einher, sozusagen eine “Stilllegung des Selbst“ [2]. Ein Grund für Madelines Depression könnte also die Abwehr ihrer aggressiven und kraftvollen Anteile sein. Auch die Panikattacken können so erklärt werden: In ihnen manifestiert sich die Angst vor dem unkontrollierten Einbrechen des Schattens (bzw. der Spiegelschwester). Madeline erleidet ihre Panikattacke in der Gondel übrigens genau in dem Moment, in dem die Spiegelbild-Madeline auftaucht.

Madeline vermeidet nicht nur die Auseinandersetzung mit ihren Schattenseiten, im Verlauf des Spiels schmiedet sie sogar den Plan, sich ganz von ihnen zu trennen. In einer Art Traum erklärt sie ihrer Spiegelschwester, sie habe nun endlich verstanden, dass sie sie hinter sich lassen muss. Madeline plant also an dieser Stelle vermutlich eine Art Abspaltung ihres Spiegelbilds. Die Spiegelschwester wird rasend vor Wut; ein Tentakel-Arm taucht auf und hält Madeline gefangen. Schlussendlich fällt Madeline – nicht nur im Traum, sondern auch in der Realität. Sie bricht durch den Boden und stürzt tief. Es scheint, als ob die Spiegelschwester Madeline zu Fall gebracht hat: Ihr gesamter zurückgelegter Weg scheint verloren, sie fällt wieder zurück an den Fuß des Berges.

Dort – räumlich wie psychisch am Tiefpunkt angekommen – taucht „Großmütterchen“ auf, dem Madeline schon zu Beginn des Abenteuers begegnete. Die alte Dame verkörpert den Archetyp der „Alten Weisen“ – mit einer Portion schrulligem Humor. Sie bringt die entscheidende Wende, indem sie Madeline auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit ihrem Spiegelbild hinweist. Sie vermutet hinter dem Verhalten der Spiegelschwester Angst. Diese Angst ist vermutlich recht vielschichtig und kann einerseits die Angst vor dem Verlassenwerden beinhalten, also vor ihrer Abspaltung durch Madeline. Naheliegend ist auch, dass das gesamte aggressive Verhalten der Spiegelbild-Madeline in Madelines Angst begründet liegt, beim Besteigen des Bergs – und vielleicht auch ganz grundsätzlich im Leben – zu versagen. Also lieber sich selbst sabotieren und deswegen scheitern, als damit konfrontiert zu werden, dass die eigenen Fähigkeiten womöglich nicht ausreichen.

Diese Ängste zeigen sich nun in der Flucht der Spiegelschwester vor Madeline. Nach dem Sturz ist Madelines Spiegelbild verschwunden und unsere Protagonistin muss es zuerst aufspüren. Sie findet ihre Spiegelschwester recht bald und möchte sich mit ihr aussöhnen, allerdings scheint diese an einer Aussöhnung nicht interessiert und droht, Madeline werde es bereuen, wenn sie sich ihr nähert. Daraufhin ergreift sie die Flucht. Hier konstelliert sich die umgekehrte Dynamik zum Beginn des Spiels: Anfangs verfolgte die Spiegelschwester Madeline. Nun ist es Madeline, die ihr Spiegelbild verfolgt.

Dabei strebt Madeline allerdings die Auseinandersetzung an, während die Spiegelschwester glaubt, nun endgültig verlassen zu werden und deswegen von sich aus den Rückzug antritt. Wenn Menschen Angst vor dem Verlassenwerden haben, wenden sie sich manchmal lieber selbst ab, weil sie dadurch subjektiv die Kontrolle behalten. Sie sind es also nicht, die unwürdig sind und deswegen verlassen werden müssen, sondern sie entscheiden, selber zu gehen. Das kann eine selbstwerterhaltende Maßnahme sein.

Nachdem Madeline ihr Spiegelbild endgültig eingeholt hat, entfaltet sich nochmals die destruktive Seite der Spiegelschwester. Aus den empfundenen Bedrohungen des möglichen Scheiterns und des Verlassenwerdens heraus droht diese Madeline mit Vernichtung. Die abschließende Konfrontation endet zur Überraschung der Spiegelschwester allerdings mit einer Versöhnung statt Verbannung. Madeline und ihr Spiegelbild vereinigen sich! Das resultiert in einer neuen (pinken) Haarfarbe für Madeline und der Fähigkeit, einen Luftsprung mehr zu vollführen.


Die Lösung: Integration

Psychodynamisch gesehen geschieht hier also eine Integration des Schattens. Der zuvor von Madeline so gefürchtete aggressive Anteil stellt sich als gar nicht zwingend destruktiv heraus! Das lateinische Verb „aggredi“, von dem sich das Wort „aggressiv“ ableitet, kann mit „sich daranmachen, etwas zu tun“ oder „ans Werk gehen“ übersetzt werden. Es muss nicht ausschließlich im Wortsinn des „Angreifens“ verstanden werden [3]. Das bedeutet, dass die Energie in der Aggression durchaus konstruktiv genutzt werden kann, wenn sie in die richtigen Bahnen gelenkt wird. An dieser Stelle geschieht genau das: Durch die Integration des aggressiven und vitalen Persönlichkeitsanteils steht Madeline zusätzliche Energie für einen zweiten Dash zur Verfügung!

Mit diesem zweiten Luftsprung gelingen ihr Kletterpartien, die sie zuvor nicht geschafft hätte. Außerdem katapultiert die Spiegelschwester Madeline oft über weite Strecken Richtung Gipfel, sodass der tiefe Fall schnell wieder wettgemacht ist. Psychodynamisch kann auch so argumentiert werden, dass durch die nicht länger notwendige, energieraubende „Deckelung“ der Schattenanteile neue Energie für den Lebensvollzug frei wird.

Nach der Vereinigung der beiden Anteile erlebt Madeline im Übrigen keine Panikattacke mehr. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass sie nun nicht mehr fürchten muss, von unbewussten, „dunklen“ Anteilen ihrer Persönlichkeit übermannt zu werden? Außerdem wirkt sie weitaus weniger depressiv. Womöglich deswegen, weil sie ihre Kraft nicht mehr darauf aufwenden muss, gegen ihre Spiegelschwester – und damit sich selbst – anzukämpfen. Die kraftvolle Seite, die Madeline so lange als bedrohlich erlebt und unterdrückt hat, konnte sie nun in ihre Persönlichkeit aufnehmen. Damit steht ihr mehr Energie und mehr Lebendigkeit zur Verfügung – also genau das, was in der Depression fehlt. So verstanden erzählt „Celeste“ also gar nicht so sehr davon, eine psychische Erkrankung anzunehmen, sondern vielmehr davon, sich mit sich selbst auszusöhnen und verschüttete Kraftquellen wiederzuentdecken. [jk]


Quellen / Links:

[1] Symbolonline, Eintrag „Spiegel“.
[2] Vgl. z.B. Menzos, S. (2015). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Vandenhoeck & Ruprecht.
[3] PONS Online-Wörterbuch: „aggredi“ (abgerufen am 3.10.2019).

Quelle Screenshots: eigene. Titelbild: Promo-Artwork, Matt Makes Games 2018.

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