Mein 80-jähriger chinesisch-britischer Hacker infiltriert eine private Militärbasis und vereitelt tödliche Drohneneinsätze rund um die Welt. Fünf Maschinengewehre zerlöchern ihn auf dem Rückweg. Kein Game Over; weiter zur nächsten Freiheitskämpferin, einer Spielejournalistin im knallgelben Regenmantel. Permadeath in einem Ubisoft-Spiel? Bei solchen Fallhöhen frage ich mich unweigerlich, ob ich mein eigenes Leben opfern würde, um internationale Kriegsverbrechen zu vereiteln. Die Ubisoft-Open-Worlds 2020 haben mehr Biss als sonst. Jedes Spiel auf seine eigene Weise.


Angeblich noch immer nicht politisch

Für Musikenthusiasten gibt es drei Stadien der Hipsterness: Indie-Acts entdecken; ausschließlich Indie-Acts hören, die weniger als 1.000 Fans auf Bandcamp haben; aus der Nische transzendieren und Carly Rae Jepsen als neue Queen des Pop erklären. »Watch Dogs: Legion« hat ein dickeres Marketingbudget als die letzten beiden Carly Rae Jepsen-Alben zusammen, aber ich habe trotzdem das Gefühl, bei »Watch Dogs: Legion« für einen Underdog in den Ring zu steigen. Die Menschen, die diese verkappte Immersive Sim lieben würden, schauen »Watch Dogs: Legion« mit dem Hintern nicht an. Kein Wunder; nachdem das erste »Watch Dogs« – angefangen beim berüchtigten E3-Trailer-Downgrade – Spieler*innen weltweit enttäuschte, hatte die Reihe einen schwierigen Stand. Noch mehr als die anderen beiden (überraschend guten) Ubi-Worlds 2020 kämpft »Watch Dogs: Legion« mit dem Ruf der Stangenware.

Bereits »Watch Dogs 2« war ein großartiger Sprung mit viel Ambition, litt aber unter einer Überdosis ludonarrativer Dissonanz. Der mutmaßliche Versuch, Bro-Gamer durch exzessive Gewaltoptionen von den quirligen Protagonistinnen zu überzeugen, war ein Griff in den Junk-Ordner. Dennoch war der herzliche Hackertrupp aus »Watch Dogs 2« der richtige Schritt nach Edgelord Aiden Pearce, mit dem »Watch Dogs« sein Debüt feierte. Das »Play as Anyone«-Feature von »Watch Dogs: Legion« entfernt sich wiederum von dieser Idee des liebevoll definierten Ensembles. Dutzende Sprecher*innen und Animationsvarianten für potentiell tausende Ingame-Bürger*innen Londons, die wir am Straßenrand zu Mit-Hacker*innen machen können – das ist technisch beinahe beeindruckender als erzählerisch.

Dass »Watch Dogs: Legion« bei solchen Ambitionen hin und wieder strauchelt, ist kein Wunder. Warum hat jeder Opa im Pub krasse Hacking-Skills? Wieso pflegen so viele Personen – trotz stimmlicher Varianz – eine äußerst ähnliche Art zu sprechen? (Gibt es überhaupt Charaktere, die nicht in jedem zweiten Satz fluchen?) Auch die spielerischen Implikationen dieses Systems beschränken sich größtenteils darauf, für die raueren Missionen von der Krankenschwester zum Elitesöldner zu wechseln. Wir müssen unseren Emergent-Storytelling-Spaß ein wenig selbst suchen. Ist das System deshalb ein Fehlschlag?

»Watch Dogs: Legion« zeigt die Fantasie einer Welt, in der jede Person auf der Straße ihr Herz am rechten Fleck trägt und nach kurzem Smalltalk der antifaschistischen Revolution beitritt. Und auch wenn diese Idee eine Prise »suspension of disbelief« erfordert, bleibt sie unterm Strich ein Erfolg. Die viel größere Hürde ist die Glaubwürdigkeit der faschistischen Unterdrückung selbst. Große Demonstrationen und Plakate an jeder Ecke – so sehr scheint die liberale Verfassung in »Watch Dogs: Legion« noch nicht zu wackeln. Im öffentlichen Radio laufen sogar Shows, die den schleichenden Einfluss von Rechtspopulismus oder reale politische Streitthemen erklären. Doch auch wenn der Faschismus manchmal unglaubwürdig ist, entlarvt »Watch Dogs: Legion« die beliebte Phrase »unser Spiel ist nicht politisch« endgültig als PR-Lüge… als hätte es noch einen weiteren Beweis gebraucht.

Spielerisch folgt »Watch Dogs: Legion« von allen drei Ubi-Worlds 2020 am engsten den etablierten Formeln. Es hat die rigidesten Quest-Strukturen und spielt in einer verwinkelten Großstadt. Fortbewegung ohne Auto grenzt an Zeitverschwendung; bis auf ihre Hacking-Objekte bleibt die Stadt starr. Und selbst Hacking lohnt nur, wenn ein Missionsziel in der Nähe ist.

In dieser Hinsicht ist »Watch Dogs: Legion« als Evolution des Urvaters »GTA 3« der ideale Kontrastpunkt zu »Assassin’s Creed Valhalla« und »Immortals Fenyx Rising«, die unverkennbar modernere Einflüsse vorweisen.

Dennoch bleibt »Watch Dogs: Legion« zumindest in seinen mechanischen Versatzstücken kreativ. Ein solch wilder Mix verschiedener Genre-Einflüsse in einem einzigen Spiel ist selten. Je nach Mission, Situation und Hacking-Strategie wird »Watch Dogs: Legion« blitzschnell vom Stealth-Spiel zum 3D-Platformer zum Drohnenflugsimulator zum Puzzle-Spiel bis hin zum – und nur, wenn man es wirklich will – Third-Person-Shooter.


Entspannung statt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

»Assassin’s Creed Valhalla« ist die Optimierung der altgedienten »Assassin’s Creed«-Formel, die so altgedient gar nicht ist. 2020 wirken die großen, weitläufigen Welten Ägyptens, Griechenlands oder Englands als wären sie immer da gewesen. Dabei spielte die Reihe bis »Syndicate« vor fünf Jahren vornehmlich in städtischen Gebieten.

Mit den Welten wuchs auch die Spielzeit. »Origins« und vor allem »Odyssey« litten unter chronischem Hang zur Zeitverschwendung. »Assassin’s Creed Valhalla« eliminiert aufgeblähte Sidequests und harte Level-Begrenzungen für neue Regionen. Im Austausch drängt es die Spielzeit der Hauptquest in noch absurde Sphären als die Odyssee des Vorgängers.

Aber ist ein Spiel zu lang, wenn ich jede Stunde mag? (Wenn auch nicht jede Minute…) Die Sidequests sind weg, aber ihre Masse steckt nun gebündelt in der Hauptquest. Das Ergebnis ist ein fusseliger, zerrupfter roter Faden, der seine Stabilität primär im Ankerpunkt sucht: der Eroberung Englands und sämtlichen Schritten, die dafür notwendig sind.

»Assassin’s Creed Valhalla« zeigt, dass Ubisoft zumindest das Geld für handwerklich erfahrene Autor*innen hat. Plot und Skript der episodenhaften Regionskapitel folgen etablierten Formeln, die häufiger ins Schwarze treffen als viele andere 60-stündige Geschichten. »Valhalla« hat den Geschmack eines guten Historienromans, verstärkt durch das mitreißende Charisma der englischsprachigen Eivor. Sogar der männliche Eivor umschifft hypermaskuline Wikingerklischees, da beide Geschlechter sich ein Skript teilen.

Die Mikro-Events am Wegesrand, die noch am ehesten an typische Sidequests erinnern, sind qualitativ deutlich wechselhafter. Viele Kritiker*innen bemängelten den albernen Humor, der nicht zur Tonalität der Hauptquest passe Wieso sollte Eivor ein Haus anzünden, nur weil ein NPC darauf geil wird? Dieser Humor erinnert an spätmittelalterliche Fabliaux – Geschichten über Sex und Exkremente, wie sie auch in Geoffrey Chaucers »Canterbury Tales« auftauchen. Vor diesem Hintergrund passen selbst die absurdesten Randnotizen der Open-World organisch ins Konzept.

Wie viel Substanz braucht »Assassin’s Creed Valhalla« überhaupt? In den düsteren Herbstabenden des »Lockdown Light« spürte ich den Wert einer gigantischen Reise durch die Natur des mittelalterlichen Englands. Jeder Ritt durch dicke, goldene Sonnenstrahlen wärmte durch den Bildschirm mein Gesicht. Allein dafür hat sich die Erfindung der HDR-Technologie gelohnt. Im Kern ist »Valhalla« immer noch »Assassin’s Creed«. Eine längere Straße mit weniger Schlaglöchern.

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen weichen in den Hintergrund und Entspannung tritt an ihre Stelle. Statt hunderter Banditenlager finden wir »Breath of the Wild«-inspirierte Mikroherausforderungen in Dörfern und Ruinen. Bedingt durch den Realitätsanspruch bleiben diese Puzzles zwar konservativ, aber immer noch deutlich frischer als die Checklisten der Vorgänger. Der wichtigste Schritt für inneren Frieden in »Valhalla« ist, das HUD zu deaktivieren. Die Spielwelt und die Vogelperspektive unseres Adlers liefern sämtliche Informationen, die wir brauchen. Darin ist »Assassin’s Creed Valhalla« sogar eleganter als das häufig für HUD-loses Erkunden gelobte »Ghost of Tsushima«.


Der Oasis-Beatles-Vergleich

Ironischerweise ist »Assassin’s Creed Valhalla« sogar mit HUD-Geflacker weniger aufdringlich als das himmelschreiend »Breath of the Wild«-inspirierte »Immortals Fenyx Rising«. Wer von »Immortals« (ehemals »Gods and Monsters«) die größte laissez-faire Open-World seit März 2017 erwartet, wird allerdings enttäuscht. »Immortals Fenyx Rising« imitiert die Details des »Zelda«-Vorbilds, missversteht aber das Gesamtkonzept. »Breath of the Wild« sagt nach seinem Tutorial: Hier sind vier Ziele. Ab jetzt bist du frei. »Immortals« packt an diesem Punkt die listigste Checkliste aller Ubi-Worlds 2020 aus.

Mit einer aufgedeckten Karte voller Symbole und rigiden Hauptquests von A nach B nach C ist die Formel plötzlich nicht mehr so breath-of-the-wild. Viele der Puzzles ähneln den Physik-Experimenten aus »Zelda« – bis hin zu den unterirdischen Schreinen, die auch hier allesamt gleich aussehen. Wahrhaft wild ist an dieser Kopie aber nur, dass wir viele der – ohnehin recht formelhaften – Schalterrätsel später durch gewonnene Skills aushebeln können. Schalterrätsel sind keine Rätsel mehr, wenn wir jederzeit einen beschwerten Klon unserer eigenen Figur beschwören können; oder einen gigantischen Stahlblock, statt ihn zu schieben, flugs mit unseren Magnetarmbändern durch die Luft tragen.

Ungeachtet dieser fragwürdigen Schlenker ist »Immortals Fenyx Rising« frischer Wind für Mainstream-Open-World-Spiele. Nur kommt dieser Wind weiter aus der Vergangenheit als vielleicht beabsichtigt. Wenige moderne Titel großer Publisher pfeifen so sehr auf Realitätsanspruch und suhlen sich in ihrer Freiheit. Die Welt ist bunt, die Aufgaben absurd und das Kampfsystem ist einen »Enemy Step« entfernt von »Devil May Cry«. Die PS2-Unschuld ist so markant, Ubisoft hätte »Immortals« einfach als »Beyond Good & Evil 2« vermarkten sollen und alle wären glücklich. Nur hätte es dafür mehr erzählerische Substanz benötigt – oder komplett die Klappe halten sollen. Die Rahmung zweier göttlicher Erzähler aus dem Off ist bestenfalls albern und schlimmstenfalls peinlich.

»Immortals Fenyx Rising« ist qua seines Standes als einsamer Farbklecks im AAA-Markt noch immer ein buchstäblich herausragendes Werk. Umso beeindruckender, dass es als neue Franchise aus dem Stand so viel richtig macht. Die Makel stören in erster Linie im viel zu naheliegenden Vergleich mit dem monolithischen »Breath of the Wild«, den »Immortals« sich selbst eingebrockt hat. Es ist wie in der Musik: Oasis sind ja auch keine schlechtere Band, weil sie häufig mit den Beatles verglichen werden.

Doch egal ob »Immortals«, »Watch Dogs« oder »Assassin’s Creed« – Ubisoft beweist 2020 Mut zu verspielteren Open-Worlds. Alle drei zeigen, dass die berüchtigte Ubisoft-Formel ihre Stärken hat, wenn sie als Ausgangspunkt statt als Ziel fungiert. Jedes der Spiele weicht auf eigene Weise vom Gewohnten ab. Im Vergleich zu wirklich wegweisenden Spielen ist dieser zusätzliche Biss zwar allenfalls ein Sprung von ungetoastetem Weißbrot zu getoastetem Weißbrot. Aber wenn es das ist, was Großproduktionen brauchen, um den verfestigten Massenmarkt aufzulockern, waren es zumindest drei Schritte nach vorne. [pg]


Watch Dogs: Legion
Ubisoft Toronto / Ubisoft
Xbox One, Series X/S, PS4, PS5, Windows PC, Stadia, Luna (29. Oktober 2020)
Directors: Clint Hocking, Kent Hudson

Assassin’s Creed Valhalla
Ubisoft Montreal / Ubisoft
Xbox One, Series X/S, PS4, PS5, Windows PC, Stadia, Luna (10. November 2020)
Directors: Ashraf Ismail, Eric Baptizat

Immortals Fenyx Rising
Ubisoft Quebec / Ubisoft
Xbox One, Series X/S, PS4, PS5, Windows PC, Stadia, Luna, Switch (3. Dezember 2020)
Director: Scott Phillips

Quelle Headerbilder und Screenshots: Promo-Screenshots, Ubisoft 2000.


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