Was haben Point-and-Click-Adventures und nordische Mythen gemeinsam? Deutsche lieben sie; mich lassen sie meine Herkunft hinterfragen. Wieso gefiel mir »Röki« dennoch so ausgezeichnet? In erster Linie macht es vieles anders als berühmte Repräsentationen nordischer Mythologie in der Popkultur. Wichtel statt Wikinger, Märchen statt Bärtchen – der Krawall der Äxte, Riesen und Drachen erstickt in einer molligen Schneedecke.


Genau wie »Röki« auf jegliche Anbiederungen ans erfolgreiche »God of War« verzichtet, reicht es mir die Hand beim kalten Krieg gegen die Klischees der LucasArts-Adventures. Streng genommen ist »Röki« nicht einmal Point-and-Click, da wir die Charaktere zu jeder Zeit selbst steuern. Allein dieser kleine Eingriff in die Bedienung verwandelt »Röki« vom Gemälde mit Sicherheitszaun zur 4D-Installation, bei der ich den Schnee zwischen den Fingern fühle. (Generell: Spiele, bei denen ich einzelne Charaktere durch Klicken steuere – wieso gibt es die heute noch? Sogar »Divinity: Original Sin 2« schlägt mir am PC den Controller als Standardsteuerung vor. Ich weiß genau, wieso ich »Disco Elysium« bis heute nicht durchgespielt habe.)

Auch die zahlreichen Rätsel von »Röki« trotzen der berühmten »Moon Logic« des Genres. Sie haben selbst in den schlimmsten Fällen noch einen Hauch von Logik. Dass es meist ums große Ganze statt um einzelne Baustellen geht, kommt der Rätselstruktur zugute: »Röki« reicht uns stets mehr als einen Rätselstrang zur Hand. Wenn wir bei einem Rätsel hängen, stolpern wir über einen Hinweis fürs andere und so weiter und so fort. Bei fünf offenen Rätseln liegt die Lösung zu mindestens einem meist um die nächste Ecke.

Ein letztes genre-typisches Problem bleibt dennoch bestehen: So sind einzelne Details in der Bildsprache noch immer sehr kritisch für unseren Fortschritt. Wenn wir die eine Glasscherbe übersehen, die am Rand des Monitors halb im Schnee versunken ist, hilft uns auch bei »Röki« nur ein Walkthrough, um dieses essentielle, zehn Pixel große Item zu finden.

Doch der eigentliche Polarstern von »Röki« ist ohnehin die Folklore, auf der die Geschichte basiert. Man mag es kaum glauben, aber nordische Fantastik hat mehr zu bieten als Trolle und Zwerge! Das Gros der Kreaturen in »Röki« war mir vorher kein Begriff. Die Fabelwesen sind in der breiteren, internationalen Popkultur nahezu unverbraucht. Dennoch müssen wir die kulturellen Hintergründe dieser Kreaturen nicht kennen, um sie zu verstehen. Ihr Wesen offenbart sich im Spielverlauf von selbst.

Nur weil »Röki« auf epische Gore of War verzichtet, ist es aber nicht minder packend; ebenso, wie die erschreckend düsteren Disney-Filme der Mitte des 20. Jahrhunderts rückblickend vielleicht nicht ganz so kindgerecht waren. Im Falle von »Röki« versprüht insbesondere die große Widersacherin Rörka exakt die Aura böser Märchenhexen, die es mir im Kindesalter verwehrt haben, allein in den Keller zu gehen.

Zur selben Zeit ist jedoch keine der Kreaturen wirklich böse. Sie alle haben ihre eigenen Probleme und Bedürfnisse – meist auf Kosten unseres Spielfortschritts, aber selten auf Kosten anderer. Da wäre zum Beispiel der Höhlentroll, der einen Frosch in Ketten hält. Als wir dem Frosch seine Freiheit schenken, ist der Troll nicht zornig. Er sagt, dass er den Frosch schon lange von seinen Ketten befreit hat und ist glücklich darüber, dass der Frosch endlich auch selbst den Mut gefunden hat, sich wieder seinem eigenen Leben zu widmen.

Bei so viel unbeschwerter erzählerischer Exzellenz ist es nur allzu ärgerlich, dass ausgerechnet das zentrale Spielziel versagt: Tove muss ihren kleinen Bruder Lars aus den Fängen der vermeintlich bösen Rörka befreien. Leider war Lars vor seiner Entführung im sehr frühen Spielverlauf ein äußerst flacher Charakter mit unliebsamen Eigenschaften – um nicht zu sagen: ein echter Quengelbengel. Dass wir diesen Bruder für den Rest des Spiels kaum zu Gesicht bekommen, ist deshalb eher Segen als Fluch. Nach drei Stunden hatte ich vergessen, dass Lars überhaupt existiert.

Das Ganze ändert sich schlagartig im letzten Kapitel, das immer mehr auf Familiendrama statt Folklore setzt. Ja, sogar mein Herz erweichte, als Lars in Gefangenschaft allmählich vom quietschenden Stressball zum schluchzenden Knäuel wurde. Dennoch versalzte dieses letzte Drittel – auch durch seinen erheblich komplexeren Rätselanteil – den Nachgeschmack dieses fabelhaften Märchens. [pg]


Röki
Polygon Treehouse / United Label, CI Games
PC / Mac [23. Juli 2020], Nintendo Switch [15. Oktober 2020]
Directors: Tom Jones, Alex Kanaris-Sotiriou

Quelle Screenshots: Promomaterial


Mehr zu ähnlichen Themen: