Ein Gastbeitrag von Mario Donick

Viele Computerspiele sind heute auf leichte Konsumierbarkeit und schnellen Erfolg ausgelegt. Auch in kurzer Spielzeit lassen sich teils große Erfolge erzielen. Doch wo uns eine Quest nach der anderen aufgedrängt wird oder die Spielmechanik ganz auf Wachstum ausgerichtet ist, fühlt sich Spielen bald wie Arbeit an. Folgt man den Vorgaben des Spiels, bleibt kaum Zeit, in Ruhe in die Atmosphäre der Spielwelt zu versinken. Wild umherrennende Spieler*innen in MMOs, die es offenbar nicht erwarten können, in kürzester Zeit zur nächsten Aufgabe zu stürmen, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Konsumierbarkeit, Schnelligkeit und Wachstum dominieren auch Singleplayer-Titel.


Christian Huberts hat vor Jahren vorgeschlagen, Marshall McLuhans Unterscheidung ‚heißer‘ und ‚kalter‘ Medien auf Spiele anzuwenden. Spiele, die detailreich sind, zahlreiche Aspekte modellieren, uns mit allem versorgen, keine Leerstellen offen lassen und daher leicht konsumierbar sind, wären demnach ‚heiße‘ Medien. Am anderen Ende der Skala stehen ‚kalte‘ Spiele, die nicht jede Kleinigkeit numerisch modellieren, nicht alles erklären, nicht alles schnell und leicht erschließbar machen.

Typische heiße Spiele sind etwa Rollenspiele, in denen sich alles nur um uns als Spieler*in dreht, in denen uns eine leicht ausführbare Quest nach der anderen vorgesetzt wird, und uns immer wieder eine Wachstumsspirale als Karotte vor der Nase baumelt. Erfolgreich abgeschlossene Quests belohnen uns mit Items, Erfahrung, Skillpunkten und so weiter, dank derer wir weitere Quests erledigen können, so lange, bis den Entwickler*innen keine plausiblen Anlässe mehr einfallen oder wir selbst der ganzen Sache überdrüssig sind. Heiße Spiele erhitzen und ermüden auf Dauer. Dagegen kalte Spiele: Sie sind schwer rezipierbar. Mal wirken sie sperrig, weil wir erstmal die Regeln lernen und verstehen müssen, ohne dass uns Tutorials bei der Hand nehmen. Mal braucht der Erfolg in ihnen Zeit und Übung. Und mal geht es überhaupt nicht um Erfolg, sondern um Atmosphäre.

Huberts‘ 2010 als Buch erschienener Essay „Raumtemperatur“ (seit 2019 in aktualisierter Form und kostenfrei) ist auch heute noch ein äußerst lesenswerter Text, der weiterhin große Aktualität besitzt. McLuhans Unterscheidung heißer und kalter Medien und Huberts‘ Anwendung dieser Unterscheidung auf Spiele bieten Anknüpfungspunkte für weitere Differenzsetzungen, die dasselbe Phänomen noch präzisieren können. Insbesondere schlage ich in meinem Buch „Let’s Play“ (2020) vor, mit Roland Barthes die ‚Lust am Spiel‘ von der ‚Wollust des Spielens‘ zu unterschieden, um so von einem (mit Erich Fromm gesprochen) Modus der Geschäftigkeit in einen Modus des Seins zu wechseln.

Der Psychoanalytiker Fromm meinte damit zwei grundlegende menschliche Existenzweisen, die er in seinem Buch „Haben oder Sein“ (1976) genauer erläuterte. Vereinfacht gesagt, ist die kapitalistische „Existenzweise des Habens“ von ständiger Geschäftigkeit geprägt, die letztlich dem Anhäufen (und Verteidigen) von Besitz und Macht dient. Unser Job, das Erreichen höherer Positionen darin, die dafür meist nur in Zahlen gemessene berufliche Leistung, das mit Beförderungen einhergehende Wachstum unseres Kontostands und unserer Befugnisse können uns völlig in Beschlag nehmen. Damit sind auch Ängste verbunden (unter anderem, den erreichten Status wieder zu verlieren), von denen wir uns aber durch Formen der Unterhaltung ablenken. Fromm stellt dieser „Existenzweise des Habens“ eine ganzheitlichere „Existenzweise des Seins“ gegenüber, die menschliche Kommunikation und persönliche Entwicklung in den Mittelpunkt rückt. Fromm geht davon aus, dass diese die natürlichere Existenzweise des Menschen ist, und erst als die Menschen sesshaft wurden, von der besitzorientierten Lebensweise verdrängt wurde.

Die meisten Computerspiele reproduzieren jedoch die Existenzweise des Habens: Wir werden stärker, wir wachsen und wir kämpfen gegen allerlei Elemente, die entweder mit uns konkurrieren und dabei unsere Erfolge wieder wegnehmen wollen, oder unsere Existenz gleich ganz beenden wollen. Und das macht in der Tat oft eine ganze Weile Spaß, vor allem wenn die Spiele eher am ‚heißen‘ Ende des Spektrums angesiedelt sind und damit ihre Herausforderungen leicht konsumier- und verstehbar. Die ‚heiße‘ Spielweise des Habens bereitet Lust.


Den Begriff ‚Lust‘ nutze ich nach Roland Barthes‘ „Die Lust am Text“ (1973/2016). Darin unterscheidet Barthes den Text der Lust vom Text der Wollust, aber statt Text können wir allgemeiner von Medium sprechen und damit auch Spiele berücksichtigen. Ein Text (Medium, Spiel) der Lust tut uns nicht weh. In und mit ihm finden wir uns gut zurecht. Er ist leicht konsumierbar und lässt uns hinterher befriedigt zurück. Vor dem Text der Lust können wir uns auch als Kenner selbst bestätigen – wir erkennen seine Machart, die Methoden, die sein*e Autor*in verwendet, wir können ihn zu anderen Texten in Beziehung setzen, und wir erfreuen uns daran. Der Text der Wollust dagegen ist nicht so leicht zu haben. Es ist einer, „der in den Zustand des Sichverlierens versetzt, der Unbehagen erregt (vielleicht bis hin zu einer gewissen Langeweile)“ (Barthes 2016, 24) und der „un-sagbar“ (ebd., 32) ist. Er „erschüttert“ (ebd., 24) uns dadurch, denn er sät Zweifel an unseren alltäglich vertretenen Normen und Werten. Damit berührt er uns viel tiefer als ein Text der Lust es könnte, zumindest wenn wir uns darauf einlassen, wollüstig im Text zu versinken. Oder eben in einem entsprechenden Spiel.

Übermäßig heiße Spiele ‚erhitzen’ uns, ohne uns aber etwas dafür zu geben, das mehr als nur Lust ist. Ständig gibt es etwas zu tun und alles wirkt sehr dringend. Die Befriedigung, die wir dabei erlangen, ähnelt der, die wir im Job erleben, wenn wir eine Aufgabe erledigt haben. Umgekehrt sind zu kalte Spiele oft nicht zugänglich genug, zumindest nicht in der wenigen Zeit, die berufstätige Menschen mit Familie haben. Da gibt es kaum die Möglichkeit, so richtig im Spiel zu versinken. Die Folge: Der besondere Reiz kalter Spiele kommt nicht zum Tragen, weil man sie lieber nicht anfasst (nach dem Motto: Wenn ich schon mal Zeit zum Spielen habe, dann nehme ich kein Spiel, wo ich mich erstmal stundenlang einarbeiten muss) und weil auch die professionelle Spielekritik, die sich gern noch als Kaufberatung präsentiert, mit sperrigen Titeln oft wenig anfangen kann. Und auch heiße Spiele werden nicht als das Gesamtwerk wahrgenommen, das sie sind, weil man sich auf das Offensichtliche konzentriert – auf das, was das Spiel gerade von einem verlangt (die aktuelle Quest, die anstehende Bauaufgabe, die aktuelle ‚nur noch eine Runde‘), man Tutorials und Schnellreise-Möglichkeiten nutzt und dabei den Blick für das Schöne am Wegesrand vergisst. Beides ist schade.

Für manche Spiele gibt es Modifikationen, die beide Pole des Kontinuums einander annähern. So können die positiven Aspekte der Lust und Wollust eines Spiels (denn nie ist ein Spiel nur das eine oder das andere) akzentuiert werden. Ich möchte das im Weiteren anhand des Weltraumspiels X4: Foundations (Egosoft, 2018) zeigen, über das ich bei SPIELKRITIK bereits im März in Bezug auf Räume und Orte geschrieben hatte.


Als Oligarch hat man nie frei

In der X-Serie fliegen wir durch ein fiktives Weltall, treiben Handel und mischen uns ggf. in militärische Konflikte ein. Riesige Raumstationen und im Vergleich winzige Schiffe vor teils dramatischen Weltraumnebeln und riesigen, aber unerreichbaren Planeten erzeugen eine eigentümliche Atmosphäre von Einsamkeit im All. Chillige Ambient-Musik unterstützt dies akustisch. Die Erdgebundenheit des Menschen, auf die unter anderem Hannah Arendt in „Vita Activa“ angesichts des Sputnik-Schocks 1957 hinwies, wird in Spielen wie der X-Serie, aber auch Elite Dangerous, Star Citizen, Evochron Legends und No Man’s Sky spielerisch verdeutlicht. Ohne örtlichen Bezugspunkt – ob nun Planet, Raumstation oder Schiff – kann es uns nicht geben.

Spielmechanisch handelt es sich bei der X-Serie um eine Mischung aus Wirtschaftssimulation und Weltraum-Shooter; in X4 sind auch Aspekte eines Echtzeitstrategiespiels enthalten, insofern wir auf einer Übersichtskarte ganze Flotten von Schiffen steuern können, ohne sie erst anfunken oder gar in ihnen anwesend sein zu müssen. So verdienen wir durch Handel mit Rohstoffen und Industrieprodukten Geld, mit dem wir eigene Raumstationen und Fabriken bauen, um noch reicher zu werden. Oder uns eine Flotte zu kaufen, die wir zur Eroberung oder zur Verteidigung unseres erreichten Wohlstandes einsetzen – Fromms wachstumsorientierte ‚Existenzweise des Habens‘ steckt im Kern des Spiels.

Das war schon in früheren Serienteilen so, aber X4 ist das bislang ‚heißeste‘ Spiel der Serie; das heißt Spielziele und Spielmechaniken sind einfacher erreichbar und bequemer nutzbar als früher. Während man im ersten Teil X: Beyond the Frontier (1999) einfach in das fremde Universum geworfen wurde und ohne Tutorial sehen musste, wie man zurechtkam, nimmt einen X4 sehr an die Hand und erste Erfolge sind viel schneller erreichbar.

Der Weltraum, in dem sich alles abspielt, ist in Sektoren unterteilt, die in früheren Teilen der Serie nur durch Sprungtore verbunden waren. Um die zu erreichen, musste man ganz schön lange fliegen – selbst mit „Singularitätszeitverzerrungsantrieb“ (SINZA), den man sich erstmal erspielen musste, konnte das dauern. Doch genau dieser Leerlauf im Gameplay passte zur einsamen Weltraumatmosphäre und machte überhaupt erst die majestätische Größe des Alls deutlich. In X4 jedoch kamen sogenannte Super Highways dazu – quasi galaktische Schnellstraßen, mit denen die großen Entfernungen innerhalb eines Sektors zusammenschrumpfen. Sie wurden aus dem Spin-off X-Rebirth (2013) übernommen. Außerdem wurde allen Raumschiffen ein Reiseantrieb spendiert, mit dem wir auch ohne Highway rasend schnell (also noch viel schneller als ohnehin schon) unterwegs sind und damit auch aus (vielleicht ungewollten) Kämpfen bequem fliehen können.

Was früher als sperrig kritisiert wurde – nämlich der ‚kalte‘ langsame Spielaufbau und Spielfluss – ist nun so ‚heiß‘, dass jederzeit alles erreichbar scheint und es auch ständig etwas zu tun gibt. Das Spiel ist so zwar leichter zu konsumieren, aber die besondere Atmosphäre früherer Serienteile, bei denen immer auch der Weg das Ziel war, ging so ein Stück weit verloren. Selbst wenn wir wollten, wir können gar nicht lange entspannt bleiben, denn irgendwie müssen wir ja reagieren, wenn schon wieder eines unserer Schiffe am anderen Ende der Galaxis zerstört wurde und so unsere Handelseinnahmen zum Erliegen kommen. Als Oligarch*in hat man eben ein stressiges Leben …


Ein heißes Spiel abkühlen

Doch hier kommen Mods ins Spiel, die von anderen Spieler*innen entwickelt wurden und mit denen wir Schritt für Schritt das Spiel ‚abkühlen‘ können. Einige machen das über die Spielmechanik:

  • Erstens gibt es Mods, die die meisten Highways abschalten. Schon dadurch werden die Flugzeiten länger und alles geht etwas gemächlicher vonstatten. Außerdem wirkt der Weltraum so weniger wie eine ins All verlagerte Großstadt (auch wenn dieser Effekt in X4: Foundations weniger ausgeprägt ist als noch im vollgestopften X-Rebirth).
  • Zweitens gibt es eine Mod, um die räumliche Ausdehnung von Sektoren vergrößern. Der Flug von Sprungtor zu Sprungtor dauert dann länger, und auch die Stationen liegen weiter auseinander. Das lädt zu mehr Erkundung ein.
  • Drittens schließlich deaktivert eine weitere Mod den schnellen Reiseantrieb aller Schiffe komplett. Der normale Reiseflug dauert nun viel länger. Der erwähnte SINZA kann das verkürzen, muss aber erstmal verdient werden. Auch die Boost-Funktion des Antriebs funktioniert nach wie vor, aber weil er durch die Energie der Schutzschilde gespeist wird, will sein Einsatz wohlüberlegt sein – vor allem in Kämpfen.

Schon diese Mods nehmen Tempo aus dem Spiel. Sie lassen mehr Zeit zum Planen und zum Genießen der Atmosphäre. Daneben gibt es Mods, die ein langsameres Spielgefühl vermitteln, ohne die Spielmechanik zu ändern: Eine Mod entfernt etwa die hektische Kampfmusik, die sonst gespielt wird, wenn wir einem Raumkampf zu nahe kommen; eine andere Mod fügt die (teils noch ruhigeren) Musiktitel früherer Serienteile hinzu und ordnet sie den einzelnen Sektoren zu, sodass diese klanglich unterscheidbarerer werden und das Gefühl, am Ende einer längeren Reise wirklich woanders angekommen zu sein, ausgeprägter wird.

In der Kombination solcher Mods findet eine Abkühlung statt, bei der das Spiel eine gewisse Sperrigkeit zurückgewinnt und es länger dauert, messbare Erfolge zu erzielen. Denn die spielmechanische Folge der Abkühlung ist, dass auch alles andere langsamer abläuft. Nichts im Spiel geht ohne Weltraumreise von sich, und wenn diese Reisen statt fünf Minuten nun eine halbe, eine Dreiviertelstunde echter Zeit dauern, dann wächst oder schrumpft auch die virtuelle Wirtschaft langsamer und kriegerische Konflikte entwickeln sich gemächlicher.

Dies nimmt Druck aus dem Spiel, was der spielerischen Freiheit insgesamt guttut. Nicht nur haben wir mehr Zeit, uns zu überlegen, welche konkreten Spielziele wir wie erreichen wollen. Wir haben auch Zeit, die Schönheit des Gesamtwerks zu entdecken und zu würdigen. Das Herunterkühlen des Spiels sorgt für eine plausiblere Atmosphäre der Weite und Einsamkeit des Alls. Wer die X-Serie wie ich vor allem spielt, um eskapistisch in eine Science-Fiction-Welt zu reisen und sich von ihrer Melancholie und Schönheit umschließen zu lassen, ja geradezu ‚wollüstig‘ (Barthes) in sie hineinzutauchen, kann dies nun wesentlich entspannter tun. Es ist nun etwas Besonderes, nach einer langen Reise durch das All unser Ziel zu erreichen. Oder eine Flotte von Schiffen zu sehen, die langsam an einem schwarzen Loch vorbeizieht, während sie auf dem Weg nach Wohin-auch-immer ist. Oder einen Konflikt aus sicherer Entfernung zu beobachten, ohne durch dramatische Musik gleich zum Eingreifen animiert zu werden. Oder eben nicht einfach verschwinden zu können, sollten wir doch einmal in einen Kampf hineingeraten.

Sicher, in messbaren Zahlen erreichen wir so wenig im Vergleich zum unmodifizierten Spiel. Der schnelle, lustvolle Kick, wieder eine Million eingenommen oder wieder eine Flotte der „Xenon“ genannten bösen KI-Wesen erfolgreich zurückgeschlagen zu haben, stellt sich nicht so schnell ein. Aber wenn es dazu kommt, fühlen sich solche Erfolge viel nachhaltiger und verdienter an, eben weil sie sich vor dem schwelgerischen Eintauchen in die Welt als solche abheben. Die Spielweise des Habens drängt sich nicht so in den Vordergrund. Heiß und kalt, Weg und Ziel, Lust und Wollust – dank Mods in besserer Balance.


Der Autor: Mario Donick

20190329_092957 2Gastautor Mario Donick erkundet gerne Open-World-Landschaften, ob auf Fantasy-Planeten oder im Weltall. Ansonsten schreibt er Texte über Menschen und Technik. Am 9. November erschien in der Reihe »Über/Strom« (ueberstrom.net) sein neues Sachbuch »Let’s Play! Was wir aus Computerspielen über das Leben lernen können«.


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