»Pikmin 3« landete bei meiner Liste der Top 500 Spiele der 2010er auf Platz neun. Stabiles Ergebnis für einen Wii U-Titel, den kein Schwein gespielt hat! Einerseits ist »Pikmin 3« – genau wie seine Vorgänger – schlicht ein exzellentes Spiel: Originell, unverbraucht und nahezu einzigartig im Spielprinzip. Das Zusammenspiel der einzelnen Spielelemente ist runder als das Endergebnis der Kreiszahl Pi.

Doch die Bedeutung von »Pikmin 3« in Nintendos Geschichte (und auch in meiner Geschichte mit Nintendo) ist viel größer als »das zweitbeste Nintendo-Spiel des vergangenen Jahrzehnts«. Nintendo und ich haben im Sommer 2013 zeitgleich unser Mojo wiederentdeckt und »Pikmin 3« war die Wünschelrute.

Sommer 2013. Klingt wie gestern, aber zwölf Monate vorher gab die Wii noch den Ton an. Zur auslaufenden Wii-Ära war Nintendo wie ein betrunkenes Kind, das gleichzeitig auf seine Oma aufpassen musste… und ab und an Geniestreiche wie »Xenoblade Chronicles« hat fallen lassen. Selbst potentiell großartige Spiele wie »Zelda: Skyward Sword« litten unter einem klaustrophobischen Ganzkörperkondom aus Handholding-Mechaniken. Allein der Gedanke, dass Nintendo »Super Mario Galaxy 2« eine DVD mit Tutorialvideos beilegte, um Neuzugängen den Einstieg zu erleichtern… Heutzutage besitzen die coolen Kids nicht einmal mehr einen DVD-Player.

Die Wii war also in mehr als einer Hinsicht anachronistisch, aber zu dieser Zeit war ich schon lange weg. Nintendo war immer ein essentieller Teil meines Lebens. Abenteuer in »Pokémon« und »Zelda« waren meine Geschichten vom Bolzplatz; GameCube und Nintendo DS meine wichtigsten Anlaufstellen für Eskapismus. Über die Jahre der Wii-Ära entfremdete ich mich aber zunehmend von Nintendo. Und das nicht, weil ich ein Jahr nach Wii-Launch »Halo 3« in HD spielen konnte.

Motion-Controls, dreistündige Tutorials, Super-Assistent, Touch! Generations – ich fand das alles gar nicht aktiv scheiße. Ich fand es aber auch nicht aktiv toll. Ich war einfach gleichgültig. Als nächstes entfremdete ich mich zur auslaufenden Xbox 360-/PS3-Generation von Videospielen im Allgemeinen. AAA gewann eine zunehmend dominierende Rolle, aber ohne die heute so starke Indie-Szene als Gegenwicht. Spiele wurden nicht nur gleichförmig; sie fühlten sich auch beschissen an, weil die alten Konsolen mit 80-Dezibel-Lüftereinsatz an den 29 fps kratzten.


Am dunkelsten ist die Nacht vor der Dämmerung

Leser*innen meiner Top 500 der 2010er mögen sich fragen: Wie hat dieser Typ in zehn Jahren 500 Spiele gespielt? Joke‘s on you, es waren sogar nur sieben Jahre! Denn ich habe in den ersten drei Jahren der 2010er so gut wie gar keine neuen Spiele gespielt! Ich war einfach bedient und steckte meine Zeit lieber in Musik oder die geradezu üppige Auswahl sozialer Aktivitäten in einem Abitur-Jahrgang mit mehr als 200 Personen, als die G8-Reform mit dem G9-Jahrgang kollidierte.

Im Sommer 2013 war die Abiturphase dann vorüber. Es folgten die berühmten Monate zwischen Abitur und was auch immer danach kommen mag. Freunde zogen für ihr Studium nach Nimwegen, Leipzig, Berlin, Mainz, Mannheim, in irgendwelche Dörfer an der Nordsee – von jetzt auf gleich hatte ich sehr viel tote Freizeit. Gut, dass sämtliche namhaften Xbox 360-Titel der letzten drei Jahre mittlerweile weniger als zehn Euro auf Ebay kosteten. Zeit, um moderne Klassiker wie »Red Dead Redemption« oder »Portal 2« nachzuholen.

Doch so grandios Titel wie »Dead Space 2« oder »Bayonetta« auch waren – Videospiele begeisterten mich nicht mehr so sehr wie sie es einmal getan hatten. Nicht, bis ich im Sommer nach dem Abitur meinen ersten Nebenjob begann. Genau der Zeitpunkt, zu dem »Pikmin 3« erschien!

Ich bin eine von zehn Personen auf der Welt, für die »Pikmin 3« als Wii U-Systemseller fungierte. »Pikmin 3« allein war für mich der Auslöser, 229 Euro in eine Wii U Basic zu investieren. Ich hatte die Bestellung im Italienurlaub aufgegeben und freute mich wie ein kleines Kind, als ich zwei Tage später zu Hause ankam und die Nachbarn das Paket bereits in unserer Küche abgelegt hatten.

»Pikmin 3« war das erste Nintendo-Spiel seit Jahren, das sich wieder wie ein Nintendo-Spiel anfühlte – so, wie Nintendo sich auf NES, SNES, Nintendo 64 und GameCube angefühlt hatte und wie es sich auch heute noch anfühlt, wenn Nintendo will. Nach acht Jahren Fliegengitter und Milchglas funkelten die Sterne im Intro von »Pikmin 3« in gestochen scharfer HD-Auflösung über den Bildschirm. Die Reaktion, die dieser Hochglanz in mir auslöste, war kein oberflächlicher Technik-Fetischismus. HD im Jahr 2013 war schlicht die Gegenwart; und dort war Nintendo endlich wieder angekommen.

Gleichzeitig war »Pikmin 3« so kompromisslos nicht wie die Wii, dass ich komplett vergaß, dass seit »Pikmin 2« neun düstere Jahre vergangen waren. »Pikmin 3« ist in vielerlei Hinsicht komplexer als viele Spiele, die Nintendo in der Wii-Ära entschlackt hat. Dennoch benötigt es keinerlei ausufernde Tutorials oder sonstigen Schnickschnack – weil »Pikmin 3« einfach zu elegant ist. Es ist, als hätte Nintendo eine magische Zeile Code wiederentdeckt, die 2007 am Ende von »Super Mario Galaxy« in ein schwarzes Loch gefallen ist. Gleichzeitig war es erfrischend anders als alles, was es zu dieser Zeit in vergleichbarem Prunk auf Xbox 360 und PS3 zu spielen gab.

So grandios viele Wii-Klassiker rückblickend sind – sie hatten einfach nicht denselben unbändigen, komplett fettfreien, entgifteten Astralkörper eines »Pikmin 3« oder vieler anderer Nintendo-Spiele ab Sommer 2013. Denn Titel wie »Donkey Kong Country: Tropical Freeze« oder »Zelda: A Link Between Worlds« folgten »Pikmin 3« in seinem veganen Verzicht auf die gelatinehaltige Kaumasse der Wii-Ära. Sogar eine vermeintliche Pflichtarbeit wie »Mario Kart 8« erstrahlte in einem gänzlich anderen Licht als seine beiden direkten Vorgänger.

Nach einem Wochenende mit »Pikmin 3«, an dem 72 Stunden vergingen wie eine einzige Minute, war meine Liebe für Videospiele erneut entfacht. Nur deshalb dürft ihr euch heute mit Blogs wie diesem oder einer Liste der besten 500 Spiele der 2010er herumschlagen. Es wäre wahrscheinlich gesünder gewesen, »Pikmin 3« nicht zu spielen. [pg]


Pikmin 3
Nintendo EAD / Nintendo
Nintendo Wii U [13. Juli 2013], Nintendo Switch [30. Oktober 2020]
Directors: Shigefumi Hino, Yuji Kando

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Quelle Screenshots / Artwork: Presskit