Die Ähnlichkeiten zwischen »Masters of Anima« und Nintendos »Pikmin«-Reihe sind kaum von der Hand weisen. In beiden Spielen befehligen wir eine Armee von bis zu hundert winzigen Kreaturen, die uns für Prügel und Puzzles begleiten. Auch wenn die übergreifende Spielstruktur sich unterscheidet, bleibt der Pikmin’sche Wuselfaktor (welch schöner deutscher Fachbegriff) in »Masters of Anima« bestehen.

Während das Hauptziel in »Pikmin« aus der allmählichen Erkundung weitläufiger, verschachtelter Areale und dem Sammeln von Schätzen unter striktem Zeitdruck besteht, geht »Masters of Anima« einen anderen Weg: Im Vergleich zu »Pikmin« ist »Masters of Anima« deutlich linearer. Somit bleibt auch das Mikromanagement von Einheiten und Ressourcen verschwindend gering. Pompöse Gefechte und der Weg zum Ziel am Ende des Levels stehen klar im Vordergrund.

An dieser eigenen Identität ist nichts auszusetzen. Ganz im Gegenteil – im Zweifelsfall sind neue Ideen immer spannender als exakte Kopien eines bestehenden Vorbilds. Rein mechanisch ist »Masters of Anima« auch äußerst ansprechend. Leider hat es die Chance verpasst, auf eine der größten Stärken von »Pikmin« aufzubauen. Ohne diese Stärke scheitert das »100-Minions-Spielprinzip« daran, sein volles Potential auszuschöpfen.


Hundert Köpfe, kein einziges Herz

Denken wir an »Pikmin«, schwirren uns unweigerlich die putzigen Pflanzenwesen vorm geistigen Auge herum. Es sind die Pikmin selbst, die der langjährigen Reihe ihren einzigartigen Charme verleihen. Die sogenannten Wächter, mit denen sich Protagonist Otto in »Masters of Anima« umgibt, haben hingegen den Wiedererkennungswert einer Einheit aus »Age of Empires«. Sie sind sparsam animiert und haben keine charmanten Stimmen. Sie sind überkompliziert designt und doch generisch. Es mangelt ihnen schlicht an Charakter.

Pikmin hingegen sind kleine Farbtupfer, die minimalistischer kaum sein könnten. Die meisterhafte Animation verleiht ihnen jedoch einen unvergleichlichen Charme. Pikmin stehen zu keiner Zeit still. Sie blicken wie neugierige Kinder in die Luft, watscheln aufgeregt umher, singen euphorische Lieder, schreien ihr energisches Kampfgeschrei – sie haben mehr Seele, als in jede fünf Zentimeter kleine Pflanze passen sollte.

Erschwerend zu ihrer stoischen Präsenz sind die Wächter in »Masters of Anima« so leicht zu erlangen, dass ihrer Geburt jegliche Bedeutung abhandenkommt. Pikmin sind ebenfalls im Dutzend billiger zu haben. Jedoch steht hinter jedem Pikmin ein Prozess, in den wir ein Mindestmaß an Arbeit stecken mussten. Anima-Meister Otto auf der anderen Seite muss nur seinen Stab schwingen, um aus dem Nichts eine Gruppe Wächter herbeizuzaubern. Die einzige Voraussetzung ist eine ausreichende Menge Anima – eine Ressource, die außerhalb von Kämpfen jederzeit im Überfluss zur Verfügung steht.

Ebenso konsequenzfrei wie die „Geburt“ eines Wächters ist sein Ableben im Kampf (oder als Opfer, das wir auf Knopfdruck zu seiner ursprünglichen Animaform recyclen). Stirbt ein einzelner Wächter im Kampf, geschieht dies nahezu unbemerkt. Selbst das Ausradieren größerer Wächtergruppen ist zwar ärgerlich, versetzt uns aber nicht den emotionalen Schlag in die Magengrube, den die »Pikmin«-Reihe so meisterhaft beherrscht. Während »Masters of Anima« mich für Kämpfe, in denen ich 91 Wächter verloren habe, noch mit einem S-Rang belohnt, lässt mich jeder einzelne Verlust eines Pikmin innerlich zusammenzucken. Jedes gefallene Pikmin verlässt das Geschehen mit einer herzzerreißenden Sterbeanimation. Das Pikmin wird schwächelnd zu Boden geworfen: Es bleibt noch für den Bruchteil einer Sekunde liegen, bis ihm unter einem den Audiomix zerschneidenden Winseln die bunt funkelnde Seele aus dem Leib fährt.

Doch nicht nur wir trauern um unsere gefallenen Kumpane. Auch Protagonist Captain Olimar schreibt nach Ingame-Tagen mit hoher Sterberate einen selbstkritischen und betrübten Logbucheintrag. Für Anima-Meister Otto jedoch scheinen die Wächter den Status von Nutztieren zu haben. Dementsprechend sind sie auch für uns nicht mehr als Wegwerfmaterial.

Jeder Wächter ist genauso schnell wieder vom Bildschirm verschwunden, wie er ihn betreten hat. Auch in »Pikmin« bauen wir in der Regel keine emotionale Beziehung zu einzelnen Pikmin auf. Allerdings nutzt »Pikmin« den cleveren Kniff, besonders langlebige Einheiten – quasi die Veteranen – dadurch zu kennzeichnen, dass die Blätter auf ihrem Kopf mit der Zeit erst zu Knospen und später zu Blüten werden. Durch dieses Symbol erkennen wir, dass wir womöglich bereits mehrere Ingame-Tage mit derselben Gruppe Pikmin verbracht haben. So werden wir außerdem unser Bestes geben, diese Blütenpikmin mit ihren erhöhten Attributen nicht leichtfertig in den Tod zu schicken. Es entsteht ein Gefühl von Verbundenheit und Vertrautheit zwischen uns und unseren zuverlässigen Kameraden. Eine bemerkenswerte Leistung angesichts der uniformen Armee, die Olimar befehligt.


Kreuzzug statt Überlebenskampf

Viele der oben genannten Kritikpunkte gelten ebenfalls für die Widersacher von »Masters of Anima«. Die Golems, mit denen Otto sich im Spielverlauf messen muss, sind uninspirierte Steinwesen ohne den Hauch eines eigenen Charakters. Captain Olimars Feinde sind raubtierähnliche Wesen in ihrem natürlichen Habitat. Sie legen individuelle Verhaltensweisen an den Tag und ihr Design spielt mit unseren Erwartungen an eine irdische Fauna. Vor allem aber haben sie eine interne Motivation. Sie kämpfen ums nackte Überleben, wollen entweder ihr Habitat verteidigen, ihre Jungen schützen oder sich durch das Verzehren der Pikmin ihre tägliche Mahlzeit sichern. Es ist ein Kampf um Leben und Tod – für beide Parteien. Und dennoch verspüren wir Mitleid, wenn der aus dem Hinterhalt attackierte Punktkäfer unter dem Gewicht von 40 Pikmin zu Boden geht, die Augen schließt und ihm unter einem letzten Ächzen der Geist entfährt.

Wenn es um Liebe zum Detail geht, spielt »Pikmin« in der obersten Liga. Dementsprechend wäre es utopisch, von jedem Konkurrenztitel ein ähnliches Maß an Hingabe zu erwarten. Dennoch mangelt es »Masters of Anima« schon auf einer fundamentalen Ebene an Detailverliebtheit. Die Bildsprache des Spiels ist – vor allem im direkten Vergleich zu »Pikmin« – äußerst chaotisch. Einzelne Wächter sind im Kampfgewimmel kaum voneinander zu unterscheiden. Während Pikmineinheiten einem klaren Farbschema folgen, fließt in den Kampfarenen von »Masters of Anima« alles ineinander. Hier ist der Grund, weshalb Nintendo keine grünen Pikmin in Spiele mit so vielen Wald- und Wiesengebieten integriert.

»Masters of Anima« ist durch sein (übrigens ziemlich generisches) Fantasy-Setting von Natur aus weniger farbenfroh als die üppigen Gartenwelten eines »Pikmin«. Doch gerade deswegen ist es für ein Spiel mit bis zu 100 spielergesteuerten Charakteren auf dem Bildschirm essentiell, das Geschehen so übersichtlich wie möglich zu gestalten. Diese Ungenauigkeit der Bildsprache betrifft auch das Weltendesign. Zudem zwingt »Masters of Anima« uns eine rigide Kameraperspektive auf, während die »Pikmin«-Spiele über eine Kamera verfügen, die uns nach Belieben schwenken sowie rein- und rauszoomen lässt.

Immerhin sind die Wächter in »Masters of Anima« intellektuell kompetenter als Pikmin – vor allem, wenn es darum geht, auf eigene Faust ihren Weg durch Areale zu finden. Es kommt nur selten vor, dass Wächter abgehängt werden, an Ecken hängenbleiben oder seitlich von Brücken fallen. Auch das Benutzen hunderter Einheiten pro Kampf als Wegwerfmaterial, mit dem Gegner regelrecht bombardiert werden können, hat durchaus seinen Reiz. Letztendlich ist diese Faszination aber keine, die über Stunden und Tage bei der Stange halten würde, wie es das Aufbauen einer liebenswerten Armee in »Pikmin« zu schaffen vermag. [pg]


Masters of Anima
Passtech Games / Focus Home Interactive
Xbox One, PS4, Nintendo Switch, PC [10. April 2018]
Lead Developer / Lead Programmer: Silvain Passot