Bei einem Studentenjob im Büro hatte ich einen Kollegen, der eine komplette Wiki mit »Dark Souls«-Lore gefressen hatte. Jeden Tag saß ich dort, hämmerte monoton auf die Tastatur und lauschte, welcher vergessene König welchen verwunschenen Geist ins Reich der Tiefe verbannt hat. Wer sich mit »Dark Souls«-Lore auskennt, wird nun gemerkt haben: Der letzte Satz war kompletter Unsinn.

Arbeitskollegen, die »Dark Souls« spielen, sind echt 1A. Jegliche aufgesetzte Lore durchfliegt meine Ohren jedoch, als befände sich dort kein Hirn in der Mitte. Lore ist für mich nur spannend, wenn das Spiel »Mass Effect« im Namen trägt… dachte ich zumindest immer.

Solch verdrossene Pauschalisierungen zeigen, dass ich in diesem Gebiet voreingenommener bin, als ich es gerne wäre. Doch was passiert, wenn es in einem Spiel primär darum geht, möglichst viel Wissen über Charaktere, Welt und vergangene Ereignisse anzuhäufen? Wenn Lore also zum Dreh- und Angelpunkt des Spielgeschehens wird.


»Paradise Killer« verkauft sich selbst als Detektivspiel. Hinweise zu finden und Täter zu stellen, war mir schon in »Ace Attorney« zu trocken. Wieso sollte es mir also hier gefallen? Bevor der Release-Trailer zu »Paradise Killer« erschien, hatte ich noch nie von dem Spiel gehört. Die Vaporwave-Ästhetik, gepaart mit dem extravagantem Charakterdesign, spülte mein Herz jedoch sofort an eine rosarot verpixelte Küste mit Palmen. Ich habe einigen Leuten den Trailer geschickt. Deren Reaktionen könnte man mit einem einzigen Satz zusammenfassen: „Wie fresh sieht das denn bitte aus!?“

»Paradise Killer« ist das Detektivspiel, das sogar eure Freunde in der siebten Klasse als cool befunden hätten. Es ist die Visual Novel für Menschen, die schon im Kindergarten Acid Jazz gehört haben. Ich spiele aktuell »Shin Megami Tensei IV« und »Paradise Killer« fühlte sich mehr nach »Shin Megami Tensei« an als »Shin Megami Tensei IV«.

Die Welt von »Paradise Killer« ist komplett abgefahren. Ein Dämonen- und Totenreich in einem Paradies, in dem der Hyperkapitalismus den Klassenkampf neu erfunden hat. Alles, was ich hier zusammenfassen könnte, würde »Paradise Killer« nicht gerecht werden.

Fantastische Welten ohne ausgelutschte Klischees sind selten; noch seltener sind welche, die auch ohne diese Formeln funktionieren. »Paradise Killer« ist bahnbrechend originell und whack, schafft aber dennoch die meisterhafte Gratwanderung, den Spieler*innen nicht versehentlich den Kauderwelsch-Glossar von »Final Fantasy XIII« ins Gesicht zu werfen. Es ist, als hätte Hideo Kojima gelernt, eine Geschichte zu schreiben, die wir auf Anhieb verstehen.

Dabei sollte ich gar nicht verstehen, was hier passiert. Diese Welt gehört mir nicht und ist komplett bizarr. Dennoch wächst mein Durchblick stetig und ich kann nicht aufhören, mehr und mehr Informationen zu verschlingen. Unsere Ermittlerin, Lady Love Dies, ist ebenfalls nicht ganz up-to-date. Sie erwacht zu Beginn des Spiels als unsterbliche Bad-Ass-Frau aus einem drei Millionen Jahre andauernden Schlaf, in den sie als Exil verbannt wurde. »Paradise Killer« erspart uns so die Protagonistin mit Amnesie. Lady Love Dies kennt ihre Pappenheimer – sie müssen ihr nur kurz auf die Sprünge helfen und die letzten drei Millionen Jahre im Paradies auffrischen

Die First-Person-Perspektive in der – für eine Detektiv-Visual-Novel – gigantischen Open-World verleiht »Paradise Killer« ein Immersionsgefühl, das ich diesem Genre nie zugetraut hätte. Die Paradiesinsel trifft die perfekte Balance aus offen und verwinkelt. Die visuelle Prägnanz der Architektur erleichtert die Orientierung in der raffiniert vertikalen Struktur. So verlaufe ich mich bei jedem Trip von A nach B gerade genug, um einige aufregende Punkte C, D, E, F, G zu finden. Und in dieser wirren Schnitzeljagd finden wir die Geheimwaffe von »Paradise Killer«: Während ich bei anderen Detektiv-Visual-Novels zwei Kannen türkischen Kaffee bräuchte, um auch nur den ersten Fall abzuschließen, hält das Sprinten und Springen durch die Welt von »Paradise Killer« mich nicht nur wach; es führt mich organisch an Orte, die ich ohne die Möglichkeit, mich zu verlaufen, nie freiwillig erkundet hätte. Da »Paradise Killer« sich vom Titelbild bis zu den Credits nur um einen (monumentalen) Mord dreht, ist alles auf der Insel unmittelbar relevant für unseren Fall – oder aber offenkundig als nice-to-have Worldbuilding markiert.

Jede Minute, die ich in »Paradise Killer« gesteckt habe, gab mir etwas zurück. Die Welt, das Mysterium, die Charaktere – alles geht so fließend ineinander über, dass es mir lange nicht mehr so schwerfiel, den Controller wegzulegen.

Ich liebe »Outer Wilds« und »The Witness«. In beiden Spielen geht es primär darum, durch Wissen über die Spielwelt konkrete Probleme zu lösen. In »Paradise Killer« wird das Anhäufen von Fakten und Wissen zum Selbstzweck. Es stillt einen Durst nach skurriler, esoterischer Fantastik, von dem ich nie erwartet hätte, ihn in mir zu spüren.

Das soll jedoch nicht bedeuten, dass der spielerische Wert der Fakten – das Auflösen des Mordes – minder befriedigend wäre. Die Charaktere sind gerade so arrogant und überheblich, dass man sie aus intrinsischer Motivation überlisten will, sie aber nie zu nervtötenden Pappschildern werden. Dutzende Stränge verschlingen sich und überlagern einander. Am Ende entsteht dennoch ein klares Gesamtbild.

Nach ausgiebiger Ermittlung wird das finale Tribunal beinahe zum Schlachtfest. Doch sagt dies vielleicht mehr darüber aus, wie akribisch ich jede Ecke der Insel erkundet habe. Und dabei kann ich Spiele sonst nie schnell genug beenden. Die einzige Schwäche von »Paradise Killer« ist, dass ich es – ähnlich wie »Outer Wilds« und »The Witness« – nie wieder so erleben können werde wie beim ersten Mal. [pg]


Paradise Killer
Kaizen Game Works / Fellow Traveler
PC, Switch [4. September 2020]
Concept and Design: Oli Clarke Smith
Programming: Phil Crabtree

Quelle Screenshots: Eigene
Titelbild: Press Kit