Am 27. Oktober 2017, dem Erscheinungstag von »Super Mario Odyssey«, brach ich mir auf einer Party, als Sänger in »Rock Band 4«, den Mittelfuß. Drei Operationen (zwei davon mit Vollnarkose) und sechs Wochen auf Krücken später hatte ich nicht nur eine unbezahlbare Anekdote über die Gefahr von Musikspielen und Tanzschritten zu Progressive Rock, sondern etwas noch wertvolleres: Den Willen – nein, den Drang – meinen müden Körper zu bewegen, der seit dem Schulsport keine signifikante Aktivität mehr gesehen hatte. (Was jetzt nicht bedeuten soll, dass ich im Schulsport sonderlich aktiv gewesen wäre…)
Nach fast zwei Monaten, in denen ich vier Tage die Woche ans Sofa gefesselt war und an den restlichen drei Tagen durch Schnee und Eis zur Uni humpeln musste (die Uni kennt keine Krankmeldungen), lernte ich meine genesenen Beine auf ganz neue Weise zu schätzen: Es packte mich das Verlangen, zu rennen.
Schon ziemlich wild, dass wir rein theoretisch komplett aus eigener Kraft von Nordrhein-Westfalen bis zum Mitski-Konzert in Berlin laufen könnten – wenn wir uns nur genug Zeit nehmen. Solche Hirngespinste zeigen, dass ein kleiner Knochenbruch mehr Wunder tut als jegliche Pseudomotivatoren im Schulsport. Völkerball und Bundesjugendspiele haben meinem Interesse an Fitness eher geschadet, als es zu fördern. Da mein Körper Pizza und Pasta in lupenreinen Lauch verwandelt, hatte ich den Kalorienbrand auch nie allzu nötig… Der Wille, plötzlich mit dem Joggen zu beginnen – einer Sportart, die mir vor meinem Unfall stinklangweilig schien – war also in erster Linie ein Wollen und kein Müssen.

Was ihr vielleicht nicht wusstet: Essen liegt zwar im Ruhrgebiet, ist aber eine ziemlich grüne Stadt! Der Titel Grüne Hauptstadt Europas im Jahr 2017 war also nicht nur scheinheilige PR. Knapp südlich des Zentrums findet ihr hektarweise Wälder und verworrene Trampelpfade. Während deutsche Straßennetze rigide geplant sind, vermitteln diese Schotterwege durch Stadtwald, Gruga und Margaretenhöhe ein charmantes Freestyle-Gefühl. Da gibt es Schleifen, Knoten, Parallelen, Brücken, Abkürzungen – selbst wenn ich mir vornehmen würde, meine Routen zu planen, wären diese vielen Winkel zu verlockend, um sie nicht auszuloten. Google Maps kennt jedes Schlagloch der B224, aber im Wald versagt sogar die Minimap, die wir heute stetig mit uns tragen.

Wenn ich also schon sechs Kilometer gelaufen bin und mich wage, doch noch diesen einen unbekannten Umweg zu gehen – ohne zu wissen, wie viele Kilometer er auf meine Runde addieren wird – dann ist das ein wenig wie »Dark Souls«. Mein Estus ist fast leer. Eigentlich sollte ich zurück zum letzten Leuchtfeuer. Aber wenn ich doch schon mal so weit gekommen bin…
Genauso ist es »Dark Souls«, wenn dieser Schlenker plötzlich in einen Pfad mündet, den ich vorher schon dutzende Male gesehen habe. Es entsteht der berühmte »Ach, hier bin ich!“-Moment, der jede einseitige Tür und jeden Aufzug in »Dark Souls« begleitet – gepaart mit einer Last, die von meinen Schultern fällt.
Plötzlich ergibt topographisch alles Sinn. Natürlich würde ich hier landen, wenn ich dort links und dort hinauf und dann über diese Brücke gehe. Das sind die befriedigendsten Momente, sowohl im Spiel als auch beim Laufen. Und das Gefühl ist bei beiden Aktivitäten nahezu identisch. Genau wie »Dark Souls« besticht auch die Stadt Essen durch exzellentes vertikales Level-Design. Kaum ein Lauf zum Baldeneysee endet unter 150 Höhenmetern. Da hat der Orientierungssinn noch härter zu arbeiten.

Während ich in »Dark Souls« auf Umwege gehe, um mehr Seelen zu sammeln, sammle ich beim Joggen per Fitness-App Kilometer, Schritte und verbrannte Kalorien. Kann ich diese Werte dann am Leuchtfeuer in mehr HP investieren? Nun, vielleicht erhöht sich meine Lebenserwartung zumindest ein wenig. Ein gewisses Level-Up habe ich aber letztens gespürt, als ich mein Auto in der Werkstatt (nun gut, es war der Abschleppdienst) abholen musste:
Ich war so optimistisch, mein Auto mit dem Fahrrad abholen zu wollen; mit dem Plan, das Fahrrad für den Rückweg in den Kofferraum meines popeligen VW Polo zu pressen. Das hat natürlich vorne und (vor allem) hinten nicht funktioniert. Der Nettoweg der ganzen Abholaktion war also: Hin mit dem Fahrrad, zurück mit dem Auto. Dann eine zweite Runde, um auch das Fahrrad abzuholen: Hin zu Fuß, zurück mit dem Fahrrad. Vor meinem Stamina-Level-Up hätte dieser Spaziergang mich meinen halben Feierabend gekostet. Plötzlich merkte ich, dass schnödes Rennen ein echter Life-Skill sein kann.
Im Winter bin ich sogar mehrmals ein paar Kilometer zum Einkaufszentrum gelaufen, um mich dort mit heißen Spiele-Neuerscheinungen zu belohnen. Atmungsaktive Kleidung ist zwar insbesondere bei Temperaturen um den Gefrierpunkt kein Fashion Souls, aber da muss man dann eben drüberstehen.
Seit Beginn der Pandemie ging es dann zwar nicht mehr ins Einkaufszentrum, aber Laufen bot sich durch den Verzicht auf öffentlichen Nahverkehr umso mehr an. Statt einer materiellen Selbstbelohnung reicht ohnehin ein gorgeous view – das naturalistisch-romantische Phänomen, bekannt aus »Dark Souls«-Spieler*innennachrichten. Und davon hat Essen mehr als genug. [pg]

Quelle Artikelbild 1: Google Maps
Boah, ich bin zwar noch nie gejoggt, und hab auch noch nie Dark Souls gespielt, aber ich kenne die von dir beschriebenen Gefühle trotzdem so gut! Vom Radfahren nämlich, früher im Erzgebirge. Ausgedehnte Wälder mit unzähligen Pfaden gibt’s da logischerweise auch (und elektronische Karten gab’s damals noch nicht) – und Berge und Täler sowieso. Und zwischen letzteren ist der Unterschied beim Radfahren vermutlich noch ausgeprägter als beim Laufen. Soll heißen: Auch wenn man mit dem Rad grundsätzlich erstmal flotter unterwegs ist und deshalb weniger schnell Gefahr „läuft“, sich mit einem vermeintlich kleinen Abstecher zu übernehmen, sollte jede Bergab-Fahrt ins Unbekannte doch wohl überlegt sein: 5 Minuten freudige Bergab-Fahrt können schnell bedeuten, auf dem Rückweg 30 Minuten mühsames Bergauf-Geschiebe vor sich zu haben, die sich noch länger anfühlen, wenn man gegen die hereinbrechende Dunkelheit anschiebt. Und generell ist die Motivation halt eine höhere, wenn man auf dem „Hinweg“ (in Anführungszeichen, weil ohne eigentliches Ziel) neue Pfade austestet, als wenn man auf dem Rückweg einfach nur nach Hause will. Anders gesagt: Wie viele Entdeckungen, wie viel Ferne kann ich mir zumuten, um es idealerweise noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu schaffen? Den Aha-Effekt, sich nach dem Befahren eines zuvor unbekannten Weges plötzlich an einem bekannten Ort wiederzufinden, kenne ich aber auch.
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