Im Juni 2017 war ich zum großen Post-E3-Event im Frankfurter Nintendo HQ eingeladen. Mein erster Einblick als Hobby-Redakteur ins Reich der Profis. Einige mögen sich erinnern, wie die Nintendo Switch in ihrem ersten Jahr senkrecht in den Himmel schoss. »Splatoon 2« und »Super Mario Odyssey« standen auf der Agenda! Wenn das kein Grund war, abends im Frankfurter Bahnhofsviertel zu feiern!
Rund um mich herum blickte ich jedoch in müde, zynische Gesichter. Der professionelle Spieleredakteur von Welt hat das alles schon mal gesehen. Hoffentlich werde ich nie so, dachte ich mir.
Über die letzten Jahre schlitterte ich selbst immer tiefer in diesen Abgrund. Versteht mich nicht falsch. Ich bin froh, nicht bei jeder News zu »Cyberpunk 2077« in blinde Euphorie zu verfallen. Aber manchmal würde ich mich gerne nicht so fühlen, als hätte ich jedes Spiel schon einmal erlebt.

»Desperados III« habe ich Monate vor Release als unspektakuläres Alman-PC-Geklicke abgewatscht. Ich mag keine Computer-RPGs, bin sehr eigen bei Echtzeitstrategie und hasse es, eine Spielfigur durch Klicken zu steuern. »Desperados III« sah nach alldem aus. Spätestens seit 1995 steht auch der Titel »Desperados« für immer im Schatten von Antonio Banderas. Nicht gerade ein Zeichen von Originalität.
Kennt ihr den krassesten Life-Skill, den man sich im Internet-Zeitalter aneignen kann? Ich rede von folgendem Satz: „Wow, ich hatte Unrecht, ich werde meine Meinung überdenken.“
Nach »Celeste« und »Outer Wilds« könnte »Desperados III« mein drittes GOTY in Folge sein, von dem ich bis eine Woche vor Release nicht gewusst habe, dass es überhaupt erscheint.
»Desperados III« ist wie Picross. Oder Sudoku. Am Anfang schweift unsere Kamera über ein unergründliches Schlachtfeld voller Variablen. Jeder Feind, den wir meucheln, klärt leise das Gesamtbild. Und mit jeder Schneise, die wir in die Verteidigung schlagen, wird es einfacher, die nächste Wunde aufzureißen.
Abenteuerspielplatz für Assassinen
Mit Stealth verbinden wir eisiges Kalkül. Bedacht und Präzision könnten ebenso gut im Quest-Log stehen. Ich habe für sowas keine Geduld und sollte »Desperados III« deshalb hassen. Denn es ist sogar noch systematischer, noch kalkulierter als jedes Stealth-Spiel, das ich je gespielt habe. Gleichzeitig ist es brandheiß.

Wer kennt es nicht? Third-Person-Stealth, wir lauern in einer Ecke und warten, bis unser Ziel zum dritten Mal seine geskriptete Route abklappert. Wir sind uns sicher – DAS ist der Moment, in dem wir zuschlagen! … und Fehlschlag. Im toten Winkel, zwanzig Meter entfernt, hinter einem Dixi-Klo stand noch eine weitere Wache. Der letzte Checkpoint liegt fünf Minuten zurück; unsere Zeit auf Lauer war komplett vergeudet.
In »Desperados III« hatte ich keinen einzigen solchen Moment. Zu Beginn des Spiels reicht es uns alle Fäden der Puppenkiste und macht uns zu Göttern im Western-Diorama. Und wie viele Fäden das sind! Ein Knäuel so dick wie hundert Lassos. »Desperados III« platzt vor verschiedenen Möglichkeiten, diesen Heuballen aus mikroskopischen Konflikten auseinander zu zupfen.
Es legt alle Karten offen; wie ein ekelig arroganter Poker-Spieler, den wir nur zu gerne in seine Schranken weisen wollen. Wie schon bei »Into the Breach« tut diese gnadenlose Ehrlichkeit der Spannung keinen Abbruch. Dass wir dem Spiel ins Hirn schauen können, macht sein Genie nur faszinierender.

In den Standardeinstellungen erinnert uns »Desperados III« alle 60 Sekunden daran, einen Quick Save anzulegen. Es will dass wir es spielen – im eigentlichen Sinne des Wortes Spiel. Die geringe Fallhöhe motiviert uns zu tollkühnen Manövern, die wir uns in keinem anderen Stealth-Spiel trauen würden. Hier ein Schuss, da eine Bärenfalle, die eine Wache mit Parfüm abgelenkt – blitzschnelle Action belohnt ausgiebige Kalkulation. Das Ergebnis: Reinste Akrobatik am Controller.
Moment. Am Controller? Richtig! Trotz der RTS-ähnlichen Perspektive ist »Desperados III« wie für Controller gemacht. Wir verlieren ein wenig Geschwindigkeit und auch Multitasking ist ohne Maus und Tastatur schwieriger. Im Austausch erhalten wir direkte Kontrolle über unsere bunten, charismatischen Figuren, die wir per Stick durch Busch und Bach steuern. Trotz omnipotenter Vogelperspektive wirkt das Geschehen dadurch unmittelbar und packend.

Wer beim High Noon zögert…
Selten stürze ich mich blind in ein mir unbekanntes Spiel und tauche mit so viel Gold im Mund wieder auf. Liegt es an meiner jungfräulichen Erfahrung mit dieser Art von Stealth-Spiel, dass »Desperados III« so makellos wirkt? Ich habe nach Kritikpunkten gesucht; aber sogar das verdammte Western-Setting – sogar die Erzählung und die Charaktere sind großartig! Von der Titelmusik bis zum Abspann ist »Desperados III« ein wandelndes Klischee. Aber es wandelt kerzengerade, erhobenen Hauptes, mit Charme und Schlagfertigkeit durch die Saloon-Türen.
»Desperados III« beweist, dass Genre-Definitionen wie Stealth oder Strategie letztendlich nur Hürden sind, die uns arbiträr auf Geschmacksinseln festhalten. Einmal gestrandet, ist es nur zu bequem, sich in der Sonne auszubreiten und zu sagen: Jetzt, wo ich eh schon hier feststecke… Aber es ist der Mut, ans andere Ufer zu schwimmen, der uns solche Heureka-Momente beschert wie den, der mir in »Desperados III« das Pulverfass unter den Füßen wegschoss. [pg]

Desperados III
Mimimi Games / THQ Nordic
PC, PlayStation 4, Xbox One [16. Juni 2020]
Creative Director: Dominik Abe
Head of Design: Moritz Wagner
Quelle Screenshots 1-4 und Header: Desperados III Pressematerial