»Medal of Honor« zählt zu den stilprägenden Spiele-Reihen der sechsten Konsolengeneration (PlayStation 2, GameCube, Xbox). Als Urvater der Weltkriegs-Shooter bereitete die Reihe sowohl dem »Call of Duty«- als auch dem »Battlefield«-Franchise den Weg – ihrerseits zwei der prägendsten Spiele-Serien der Generation PS360. Die Anfänge von »Medal of Honor« allerdings liegen nicht auf der PS2 und schon gar nicht auf dem PC – sondern auf der PlayStation 1.
1999 erschien dort der erste Teil der »Medal of Honor«-Reihe, der somit im letzten Jahr seinen 20. Geburtstag feierte. Doch viel gefeiert wurde nicht – was erstaunt, wenn man nur bedenkt, wie groß die Reihe einst war, die im Laufe der Jahre rund 40 Millionen Spiele verkaufte. In November dieses Jahres feiert nun der zweite Teil der Reihe sein 20. Jubiläum. Warum dem Sequel Aufmerksamkeit schenken, die das Original nicht erhielt? »Medal of Honor: Underground« ist nicht nur der vorläufige Abschluss der Reihe auf der PlayStation 1, bevor im Jahr 2002 der systemübergreifende Durchbruch gelang. Es ist auch das einzige Spiel der Reihe, das uns den Kampf gegen die Achsenmächte in der Rolle einer weiblichen Heldin erleben lässt.
Seit wenigen Tagen ist Ausgabe #14 des GAIN Magazins erhältlich. Darin enthalten ist Teil zwei meiner großen Reihe zur Geschichte weiblicher Protagonistinnen in First-Person-Shootern. Nachdem ich bereits zum ersten Teil einige Worte verloren hatte, möchte ich auch diesmal eine Leseprobe nicht vorenthalten. Ich stelle vor, Manon Batiste, französische Widerstandskämpferin und OSS-Agentin. Daneben geht es um Frauenfiguren in Weltkriegs-Shootern generell.
Medal of Honor: Underground
»Medal of Honor: Underground« ist der zweite Teil einer Reihe, deren Entwicklung von Steven Spielberg initiiert wurde und die damals noch exklusiv auf der PlayStation 1 zu Hause war. Für die Entwicklung des Spiels zeichneten DreamWorks Interactive verantwortlich, die später den Namen EA Los Angeles tragen sollten. Auch dieses Studio begegnete uns bereits in der letzten Ausgabe [des GAIN Magazins] – als Entwickler des ambitionierten »Jurassic Park: Trespasser« (1998). In der Folge konzentrierten sich DreamWorks Interactive auf die PlayStation 1 und schufen mit dem ersten »Medal of Honor« (1999) einen technologisch und spielerisch vergleichsweise konventionellen Ego-Shooter. Doch insbesondere sein Setting erregte Aufmerksamkeit: Aus heutiger Sicht vielleicht schwer nachvollziehbar, waren »realistische« Darstellungen des Zweiten Weltkriegs in FPS bis zum Erscheinen von »Medal of Honor« weitestgehend tabu gewesen. Im Jahr des Columbine-Massakers stieß das Spiel deshalb auf einigen Widerstand, der dem Vernehmen nach das Aus für das Projekt hätte bedeuten können.
Doch »Medal of Honor« erschien und wurde ein Erfolg. Eine Fortsetzung ließ deshalb nicht lange auf sich warten und kam fast genau ein Jahr später im Oktober 2000 in den Handel. »Medal of Honor: Underground« orientiert sich eng am Vorgänger und war ein ebenso gutes Spiel. Es hätte aber wenige Alleinstellungsmerkmale – wenn es nicht als erstes und einziges Spiel der Reihe eine Frau zur Heldin gemacht hätte.
Bedenken wir, dass DreamWorks Interactive eine Vorgeschichte in Sachen weibliche Protagonistinnen hatten (so problembehaftet ihre Darstellung in »Trespasser« auch war) und schauen wir uns an, wie weit verbreitet weibliche FPS-Heldinnen im Jahr 2000 waren, so wirkt eine weibliche Hauptfigur in »Medal of Honor: Underground« gar nicht ungewöhnlich – vielmehr zeitgeistig und konsequent. Gerade auf der PlayStation hatte der Erfolg von »Tomb Raider« gezeigt, dass es kaum einen Grund gibt, eine weibliche Figur nicht zur Heldin eines Actionspiels zu machen – dass sie vielmehr ein Verkaufsargument sein kann (wobei »Underground« auf jede Sexualisierung und Objektifizierung seiner Protagonistin verzichtet). Wenn wir uns allerdings die weitere Geschichte der Weltkriegs-FPS vergegenwärtigen und uns anschauen, welche Protagonisten uns dort begegnen, dann erkennen wir schnell, wie außergewöhnlich die Figur der Manon Batiste im Sub-Genre der Weltkriegs-FPS tatsächlich war.
»Medal of Honor: Underground« erschien in der Spätphase der PlayStation 1, als die PlayStation 2 in Teilen der Welt bereits erhältlich war. Im darauffolgenden Jahr 2001 sollte kein Weltkriegs-FPS von Rang erscheinen. Von 2002 bis 2005 allerdings explodierte das Sub-Genre geradezu: Electronic Arts baute die »Medal of Honor«-Reihe zu einem Mega-Franchise auf, brachte sie auf den PC und die Konsolen der neuen Generation und veröffentlichte von 2002 bis 2012 nicht weniger als zwölf Fortsetzungen. Nicht eine einzige davon machte noch einmal eine Frau zur Heldin – auch nicht als Mitglied eines Multi-Charakter-Ensembles. In den konkurrierenden Weltkriegs-FPS, namentlich »Battlefield«, »Call of Duty« und »Brothers in Arms«, sah es bis weit in die 2010er hinein kein Stück anders aus.
Auch das inoffizielle Fan-Wiki zur »Medal of Honor«-Reihe spricht in dieser Hinsicht Bände und belegt die fast vollständige Abwesenheit weiblicher Figuren quantitativ: Es listet nicht weniger als 284 Einträge in der Kategorie »characters«, aber gerade einmal acht in der Sub-Kategorie »females«, von denen Manon Batiste aus »Medal of Honor: Underground« die einzige Figur von Bedeutung ist. Unter den anderen finden sich Einträge wie »Dutch Woman at Window«, »Frank’s Girlfriend« und »Unnamed Dutch Resistance Woman«.
Die Gründe für das Fehlen weiblicher Hauptfiguren in Weltkriegs-FPS scheinen naheliegend – naheliegender zumindest als ihr Fehlen in anderen FPS. So stellt sich in Bezug auf »Medal of Honor« und andere Weltkriegs-FPS eine Frage, die sich vor den rein fiktionalen Hintergründen aller anderen hier betrachteten Spiele nicht stellt: die nach der historischen Authentizität nämlich, oder zumindest nach Glaubwürdigkeit. Häufig wird der Verweis auf (vermeintliche oder tatsächliche) historische Fakten als Argument gegen die Implementierung von Frauen in Weltkriegs-FPS angeführt (weitaus seltener gegen ihre Implementierung in Militär-Shootern im Allgemeinen).
Doch auch wenn wir die Beantwortung der Frage nach der tatsächlichen Rolle von Frauen im Zweiten Weltkrieg den Historikern überlassen wollen, bleibt festzuhalten: Die Wahl eines historisches Settings verpflichtet ein Spiel nicht dazu, nach einer möglichst akkuraten Nachbildung historischer Wirklichkeit zu streben. Abweichungen sind in zweierlei Richtung möglich: Der Wunsch nach einer im Vergleich zu historischen Gegebenheiten progressiveren Darstellung – etwa in Hinblick auf Geschlechterrollen – ist dabei ebenso legitim, wie der Wunsch nach der Reproduktion etablierter Vorstellungen. Das gilt auch und gerade für Geschlechterrollen, sodass Vorbehalten gegen weibliche Heldinnen in Weltkriegs-FPS nicht zwangsläufig misogyne Gedanken zugrunden liegen müssen, als vielmehr der Wunsch nach Konformität mit tradierten Geschichtsbildern – nach »gefühlter Authentizität« und den damit verbundenen Idealisierungen: der Mythos vom Krieg als Bewährungsprobe des Mannes, vom Soldatendasein als eingeschworenem Bund von Brüdern. »Brothers in Arms« etwa evoziert diesen Mythos, dieses Ideal der Kameradschaft und der Waffenbrüderschaft, bereits im Titel.
Und das ist es, was »Medal of Honor: Underground« und seine Heldin Manon Batiste so besonders macht. Da entscheidet sich also der gerade einmal zweite größere Weltkriegs-FPS der Spielegeschichte, sich vom mächtigen Narrativ des »männlichen Krieges« zu lösen und eine Frau zur Heldin zu machen. Mit dieser Entscheidung haben DreamWorks Interactive gezeigt, dass diese Möglichkeit existierte – dass sich »Underground« für genau den entgegengesetzten Weg entscheiden konnte, den beinahe alle seine Nachfolger und Nachahmer in den darauffolgenden eineinhalb Jahrzehnten wählten. Für einen Moment war sie da – die Möglichkeit zur Etablierung eines anderen Mythos vom Zweiten Weltkrieg – eines anderen als dem, der nicht zuletzt in jenen (Hollywood-)Filmen tradiert wird, die für diese Spiele immer wieder Vorbild waren. »Medal of Honor: Underground« beweist, dass Videospiele in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs und seiner Akteure einen anderen Weg hätten einschlagen können.
Ende des Auszugs.
Den kompletten Artikel, in dem neben »Medal of Honor« auch über »No One Lives Forever«, »Turok 3«, die »TimeSplitters«-Reihe und weitere Spiele spreche, findet ihr in GAIN Magazin #14. Bestellen könnt ihr das Heft direkt auf der Website ab 7 EUR.
Der erste Teil meiner Reihe erschien in GAIN Magazin #13, das ebenfalls auf der Website des GAIN Magazins erhältlich ist.
Im Herbst erscheint in GAIN Magazin #15 der dritte Teil der Reihe. Unter anderem geht es dann um »Perfect Dark«, das ich aus Platzgründen im zweiten Teil außen vor lassen musste, dann aber an der Seite von »Perfect Dark Zero« besprechen werde. Doch auch andere weibliche FPS-Heldinnen der 2000er Jahre, wie Samus Aran und Chell aus »Portal«, werden zu Ehren kommen.
Solltet ihr noch einen weiteren Anreiz brauchen, dem GAIN Magazin eine Chance zu geben. Voilà, hier ist er. Meine SPIELKRITIK-Kollegin Jessica durfte als Gastautorin einen Beitrag zur Ausgabe #14 beisteuern. Unter dem Titel »Celeste: Von Kristallen und inneren Gefängnissen« beschäftigt sie sich mit dem Indie-Hit »Celeste« und blickt auf die Psychologie hinter der Geschichte, sowie auf die Bezüge zu alten Mythen. Gewohnt lesenswert! [sk]
Medal of Honor: Underground:
DreamWorks Interactive / Electronic Arts
PlayStation, 01. Dezember 2000
Producer: Scott J. Langteau
Designer: Lynn Henson
Quelle Bilder: offizielle Artworks, DreamWorks Interactive / Electronic Arts, 2000.
Ich finde die Frauenperspektive in einem 2. Weltkriegsspiel durchaus interessant, nur wirkt eine zierliche Dame, die mit einem dicken MG Wehrmachtsoldaten umnietet, durchaus unglaubwürdig. Natürlich werden männliche Protagonisten in einem WWII-FPS mit solchen Aktionen verfälscht heroisiert, doch fühlt sich die maskuline Dominanz auf dem Schlachtfeld deutlich authentischer an. In vielen Weltkriegsspielen sind Frauen deshalb nicht umsonst eher für Spionageaktionen zuständig. In der Commandos-Reihe konnte man mit der Spionin Natasha Wachen ablenken, jedoch nicht im Nahkampf ausschalten. Sie hatte sehr nützliche Fähigkeiten und war im ersten Commandos sogar mein Lieblingscharakter.
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