Handverlesen, selbst gelesen und für lesenswert befunden. Lesenswert Nr. 136 mit einigen der bisher besten Texte des Jahres. Den Anfang macht Benjamin Strobel mit einem famosen Beitrag über den Wert des Wiederspielens. Auf dem Fuß folgt Constantin Becker mit einem Text, dessen erste Hälfte schon spannend genug wäre, um die Aufnahme in diese Auswahl zu rechtfertigen – der dann aber ausholt und in Sachen Originalität noch einen draufsetzt.
Durch seine Kürze besticht der Blog-Post von Fabian Fischer, der das Problem zu langer Spiele akkurat auf den Punkt bringt. Immer noch in der Riege der besten Texte des Jahres bewegt sich auch der Aufsatz von Tobias Unterhuber, der mehr als einen interessanten Gedanken enthält, über ein Thema, das auch bei SPIELKRITIK schon umfassend diskutiert wurde.
Einen Abstecher ins Englische machen wir mit zwei weiteren starken Artikeln zu The Last of Us Part II, nachdem wir schon beim letzten Mal so einige Artikel zum Spiel hatten. Mit dem von mir sehr geschätzten Ahmet Iscitürk sind wir dann aber auch schon wieder in deutschsprachigen Gefilden unterwegs. Stellvertretend für seine stets sehr lesenswerte Kolumne für IGM Online sei hier der neueste Text empfohlen. An der Grenze zur Unterrubrik „Hörenswert“ bewegt sich unterdessen Ingo Redenius‘ ausführliche Einführung in die Faszination der Chiptune-Musik – einen Haufen Hörbeispiele inklusive.
Den Abschluss bilden: 1. Eine Kritik zu Wolfenstein II: The New Colossus, deren zweite Hälfte interessant wird. 2. Game-Boxart-Mockups in arabischer Schrift. 3. Der mittlerweile fast schon traditionelle Blick über den Tellerrand, diesmal in den Bereich des Brettspiel-Game-Designs. Ebenfalls ein wirklich guter Artikel.
Damit übergebe ich an Pascal „Sehenswert“ Graßhoff, der ein extradickes Paket an sehenswerten Videospiel-Essays für euch gepackt hat. Wie immer stellt er sie weiter unten in eigenen Worten vor.
In voraussichtlich drei Wochen lesen wir uns wieder. Viel Spaß! [sk]
Lesenswert
Die Entdeckung des Wiederspielens
(behind-the-screens.de, Benjamin Strobel)
[…] Nicht das Neue hat den zweiten Durchgang so besonders gemacht, sondern mein neuer Blick auf das Alte. […] Wie Bill Murray, der in Groundhog Day mit geschlossenen Augen die Straße überquert und Schlaglöcher mühelos umtanzt, stolziere ich unbekümmert durch die Welt von Resident Evil 3, einem Horrorspiel, in dem Spinnen ihre Eier in meinem Rachen ablegen wollen und ein unbesiegbares Monster mich durch die ganze Stadt verfolgt, um mich zu töten. Aber ich habe keine Angst mehr. Die Wiederholung hat mich stark gemacht. […] Das Wiederspielen wurde geradezu eine performative Dekonstruktion des Horror-Spiels. […]
Grenzen im Videospiel überwinden
(videospielgeschichten.de, Constantin Becker)
[…] In der Gothic-2-Demo gibt es keine Hauptquest und ohne Hauptquest gibt es auch keine Nebenquest. Der Held wird von seiner Heldenrolle befreit. Er ist nicht mehr seinen ludischen Zwängen unterlegen. Der Held in der Gothic-2-Demo, welcher sich durch die unsichtbare Wand glitcht, ist ein anderer Held als derjenige, welcher in der Vollversion auf den exakt gleichen Wegen wandelt. Der Demo-Held ist in seiner Handlung frei, da es ihm unmöglich ist, das Problem rund um die Drachen zu lösen. […]
“Videospiele sind zu lang”: Symptome eines viel grundsätzlicheren Problems
(ludokultur.de, Fabian Fischer)
[…] Das Problem vieler AAA-Titel ist es nun, dass sie das klassische Modell des Gameplay-Loops ebenfalls verwenden, es jedoch in eine – mal mehr, mal weniger – fest vorgegebene und lineare Story-Struktur einbetten. Dadurch kommt es regelmäßig dazu, dass Spieler eigentlich bereits ausgelernt haben, das Spiel aber noch eine bestimmte Anzahl Stunden, solange die Geschichte eben zu erzählen ist, dauert. Das Spiel ist “zu lang” für seine eigene Story. Die Tatsache, dass sich viele dieser Spiele im Gameplay stark ähneln und sich das Können der Spieler somit in weiten Teilen von einem zum anderen transferieren lässt verschärft das Problem zusätzlich. Auch der quasi zwangsläufig vergleichsweise geringe Anspruch von Massenmarkt-Produkten im Allgemeinen hilft wenig. […]
Mit Kanones auf Spiele schießen? – Die (Un)Möglichkeit eines Computerspielkanons und die Rolle der Game Studies
(paidia.de, Tobias Unterhuber)
[…] Die Liste, genauer die Bestenliste, […] scheint für populärkulturelle Medien eine relativ wirksame taxonomische Maßnahme darzustellen. Dies gilt, wie Jannidis feststellt, auch für das Computerspiel. Allerdings zeigt er am Beispiel deutscher Spiele-Magazine auf, dass die Bestenlisten sich selbst in ihrer Wirkung beschränken, da eines ihrer latenten Hauptkriterien Aktualität darstellt […]. Dies mag, neben der als oft rein technische Fortschrittsgeschichte verstandenen Computerspielgeschichte, auch daran liegen, dass im Computerspieldiskurs das Kriterium der Innovation höchste Geltung besitzt. Dies hat zur Folge, dass Veränderung und Aktualisierung der Bestenliste grundlegend eingeschrieben ist, sodass alle ihre Ergebnisse immer nur vorläufig bleiben. Darüber hinaus scheint die Bestenliste sich auch in ihrer Struktur vom Kanon zu unterscheiden. Der Kanon ist ein Container, der sich durch Exklusion vom Rest abgrenzt, die Bestenliste macht aber Unterscheidungen innerhalb ihrer Struktur auf. […]
The Not So Hidden Israeli Politics of ‚The Last of Us Part II‘
(vice.com, Emanuel Maiberg)
[…] This seems to be The Last of Us Part II’s thesis: humans experience a kind of „intense hate that is universal,“ as Druckmann told The Post, which keep us trapped in these cycles. But is intense hate really a universal feeling? It’s certainly not one that I share. […] This is not a universal feeling as much as it’s a learned way of seeing the world. […]
‘The Last of Us Part II’ points toward a more honest portrayal of religion in gaming
(washingtonpost.com, Gene Park)
[…] When people think of religion and video games, their minds may drift toward the classic “Bible Adventures” for the first Nintendo console. […] Your mission: Transport baby Moses like a radish in “Super Mario Bros. 2.” If you knew nothing about Christianity or Judaism, “Bible Adventures” would leave you even more mystified. Historically, the two modes of portraying religion in games are literal interpretations of sacred texts and stories, like “Bible Adventures,” or ornamental set dressing, like in the “Assassin’s Creed” series. But rarely do we see characters of faith. That’s what makes Dina, the main protagonist’s bisexual love interest in “The Last of Us Part II,” so quietly revolutionary. […]
Ahmet Iscitürk: Was weiß ich schon? (IGM-Kolumne)
(igmonline.de, Ahmet Iscitürk)
[…] „Wenn ich in der Wildnis auf clicker Jagd wäre hatte ich kein Glätteisen deswegen passend naturehair auf dem Bild 😂“, schreibt Frau Meyer-Landrut in ihrem gesponserten Beitrag. Jede einzelne Faser meines Körpers wollte sich beim Lesen übergeben, gleichzeitig verstehe ich aber, dass Sony seine Kohle lieber in Lenas 3,4 Millionen Follower, statt in die nicht IVW-geprüften 12.000 Käufer irgendeiner Videospielzeitschrift steckt. Reichweite ist wichtiger als Street Credibility. […]
Chiptune – Mit dem Game Boy auf die Bühne
(gameskultur.com, Ingo Redenius)
[…] Moderne Musiksoftware ist komplex – vor allem für Einsteiger*innen. Bei den Soundchips der alten Heimcomputer und Spielekonsolen ist das anders. Hier müssen sich Anfänger*innen wie fortgeschrittene Musiker*innen weniger auf komplexe Soundeinstellungen und viel mehr auf das Wesentliche konzentrieren: das Komponieren selbst. Durch die limitierten Möglichkeiten und die manuelle Eingabe müssen die Künstler*innen kreativ werden und den technischen Prozess des Komponierens nachvollziehen. […]
Gut gemeint ist nicht gut gemacht
(seniorgamer.blog, Harzzach)
[…] Spiele haben eigentlich keinen langen Weg zurückzulegen. Wir sind schon da, wo wir seit Jahrzehnten sein wollen. Spiele können selbstverständlich Kunst sein, können selbstverständlich tiefschürfende Gedanken beinhalten und entsprechende Reaktionen beim Spieler auslösen. Wenn aber große Firmen von Kunst reden, wenn maßlos überbezahlte Producer und Designer großer Studios glauben, sie hätten Kunstwerke von immenser Bedeutung geschaffen … meinen sie in der Regel nur eine nette Verpackung für das übliche Gebrauchsdesign vom Fließband. […]
Sprachliche Diversität in Videogames: Die Cover in arabischer Schrift
(gamers-palace.de, Beatrice Vogt)
[…] Der Künstler Ibrahim Hamdi hatte das GLAM Projekt – Game Logos Arabic Matchmaking – schon seit einigen Jahren im Kopf und konnte es nun endlich umsetzen. Er hat sich bekannte und beliebte Games herausgesucht und die Cover dieser entsprechend in arabischen Schriftzeichen dargestellt. […]
Sicherheit und Kontrolle
(spielbar.com, Peer Sylvester)
[…] In diesem Fall wollte Omari die Unfairness abbilden, die im richtigen Leben ja allgegenwärtig ist, insbesondere für PoC, inbsesondere in den USA. Dass die Testspieler sich hier beschweren, hat mehrere Ebenen: Einmal, die gesellschaftliche, die Omari selbst beschreibt: Fairness zu erwarten ist eine kulturelle Erfahrung, ja ein Privileg. Auch und gerade im Brettspielbereich gilt Fairness als integraler Bestandteil eines “guten” Designs. Zumindest im Brettspiel möchte man selbst die Kontrolle haben, möchte die Früchte seiner Arbeit ernten, der “Bessere” soll gewinnen, ganz objektiv. […]
Sehenswert
FromSoftware’s weird old games
(youtube.com, ThorHighHeels, 01:00:15)
Die meisten kennen From Software nur durch die Souls-Spiele, Bloodborne und Sekiro. Doch gerade zu PS1- und PS2-Zeiten hat das Studio so einigen kuriosen und ambitionierten Kram rausgebracht. In der latenten Laienhaftigkeit dieser Projekte liegt ihr Charme. Eine Reise durch einige Frühwerke. [pg]
The Life, Embarrassing Death, and Legacy of the Steam Controller
(youtube.com, Nerrel, 00:14:34)
Der Steam-Controller war nicht perfekt und schaffte es nicht, sich durchzusetzen. Doch sollten wir ihn nicht vergessen, wagte er es doch, die seit mehr als 20 Jahren etablierten Controller-Konventionen zu erweitern. Vor allem Modder zeigen heute, welches Potential in diesem Controller steckte. [pg]
Aesthetics of Far Cry 2.
(youtube.com, Face Full of Eyes, 01:27:57)
Normalerweise stelle ich hier aus Prinzip nur aktuelle Videos vor. Dieses hier hat mich jedoch so sehr beeindruckt, dass ich es euch nicht vorenthalten KANN. Im Alleingang erklärte mir diese fesselnde Analyse, wieso Far Cry 2 eines der ästhetisch konsequentesten und durchdachtesten Spiele aller Zeiten sein könnte. Dass ich sofort danach Far Cry 2 gekauft und gespielt habe, sollte alles sagen. [pg]
The PlayStation War
(youtube.com, HeavyEyed, 00:16:22)
Ja, es geht hier um einen tatsächlichen Krieg in der echten Welt, mit echten Waffen und echten Toten – keine Console Wars. Bevor Konsolenhersteller (zumindest ein wenig) umweltbewusster wurden, gewannen sie ihre Komponenten aus seltenen Metallen, über die in einem zu wenig beachteten Teil der Welt ein blutiger Streit entbrannte. [pg]
RenderWare: The Engine that Powered an Era | Retrohistories
(youtube.com, Chris Chapman, 00:08:41)
Wer um die Jahrtausendwende Spiele-Fan war, dürfte sich an den Begriff „RenderWare“ gut erinnern. Ich habe mich jedoch nie gefragt, was das eigentlich ist. Dabei ist RenderWare nicht mehr und nicht weniger als das, was heute Unreal oder Unity sind. Wieso ist RenderWare selbst also nicht eine der dominierenden Engines geblieben? Und was? Die Burnout-Entwickler haben diese Engine entwickelt!? [pg]
Fortnite: The Party That’s a Platform
(youtube.com, Errant Signal, 00:41:13)
Wieso ausgerechnet Fortnite? Wieso nicht PUBG, Apex Legends, Call of Duty: Warzone? Hinter dem Erfolg steckt weit mehr als nur bunte Grafik und eine breite, junge Zielgruppe. Das soziale Fundament von Fortnite ist so offensichtlich wie unauffällig und gleichzeitig so genial, dass ich mich frage, wieso Konkurrenten es nicht kopieren. Nicht das Gewinnen, sondern der Spaß ist das Ziel. [pg]
The Birth of the Japanese RPG | Design Icons
(youtube.com, Game Maker’s Toolkit, 00:15:51)
Häufig differenzieren wir sehr strikt zwischen japanischen und westlichen RPGs. Beide Strömungen haben sehr ähnliche Wurzeln – JRPGs wurden sogar unmittelbar von WRPGs beeinflusst. Letztendlich ist es eine Frage der Zielgruppen; und außerdem dem Umstand geschuldet, dass der Westen zuerst mit Dungeons & Dragons in Berührung kam. [pg]
Max Payne, Kane & Lynch, and the Meaning of Ugly Games
(youtube.com, Jacob Geller, 00:27:02)
Falls ihr noch ein Spiel für eure To-Play-Listen braucht: Lasst Jacob Geller erklären, wieso Kane & Lynch 2 etwas ist, das ihr in eurem Leben brauchen könntet. Die geradezu absurd abstoßende Inszenierung sucht ihresgleichen und hat selbst in einem Medium voller Gewaltbombast einen herausragenden ästhetischen Wert. [pg]
Lust auf mehr? Die Games-Lesetipps der Woche gibt es jeden zweiten bis dritten Freitag auf SPIELKRITIK.com. Die letzte Ausgabe von Lesenswert findet ihr HIER.
Beitragsbild dieser Ausgabe: Artwork zu Lost Kingdoms, FromSoftware 2002
Vielen Dank für die erneute Aufnahme in die Rubrik Lesenswert! Welch eine Freude neben so hervorragenden Beiträgen und Empfehlungen aufzutauchen :)
Viele Grüße
Ingo
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