Paper Mario: Color Splash eröffnet ungewohnt makaber. Was als vermeintlicher Urlaubsgruß im Hause Mario eintrifft, entpuppt sich bei seiner „Entfaltung“ als der leblose Körper eines papiernen Pilzkopfes: ein Toad, all seiner Farben beraubt, wie so viele und so vieles auf Prism Island, dem Inselparadies, das wir im Spielverlauf erkunden und vor der totalen Entsättigung bewahren werden. Besonders tragisch: Ein früheres Verbot von Plastikstrohhalmen hätte all das verhindern können…
Wie das Original auf dem Nintendo 64 erschien auch der bis heute letzte Ableger der Paper Mario-Reihe spät im Lebenszyklus seiner Plattform, in diesem Fall der Wii U. Als das Spiel im Oktober 2016 in die Läden kam, stand die Switch bereits in den Startlöchern. Viele sogenannte Core-Gamer hatten sich von der Wii U ohnehin schon verabschiedet. Noch dazu haftete der einstmals gefeierten Paper Mario-Reihe nach der mittelmäßigen 3DS-Episode Sticker Star (2012) das Stigma des „vercasualisierten“ Franchise an, das aufgesetzte Innovationen über Spieltiefe stellte (ein Generalverdacht, unter den Wii U-Games mit Touchscreen-Unterstützung ohnehin schnell standen). Als Color Splash im März 2016 in einer Ausgabe von Nintendo Direct überraschend angekündigt und in ersten Spielszenen gezeigt wurde, fiel das Feedback von selbsterklärten „Fans“ der Reihe dann auch entsprechend negativ aus: Mittels Petition wurde von Nintendo gar die Einstellung des Spiels verlangt, dankenswerterweise ohne Erfolg.
Doch so absurd und selbstherrlich diese Petition auch war: Die grundlegende Skepsis war nachvollziehbar. Color Splash sah zwar visuell sehr ansprechend aus, sollte sich spielerisch aber tatsächlich am ungeliebten 3DS-Ableger orientieren. Auch würde es eher dem Action-Adventure- als dem Rollenspiel-Genre zugehören, wie auf der folgenden E3 klargestellt wurde. Eine Art Sticker Star in hübschem HD also, ein mutmaßlich kostengünstig zu produzierender Lückenfüller für die letzten Tage einer erfolglosen Plattform? Hype wollte nicht aufkommen und – to cut a long story short – als das Spiel im Oktober 2016 in den Handel kam, schien das Interesse nicht allzu groß.
Was ich als Fan des Originals und der Wii-Episode deshalb erwartete, war ein zwar anspruchsloses, aber humorvolles Spiel, das mich für 20 bis 30 Stunden Nintendo-typisch unterhalten und dann und wann zum Schmunzeln bringen würde. Und schau an: Über weite Teile bekam ich genau das. Aber auch vieles, womit ich nicht gerechnet hätte.
Aller Anfang ist zu leicht…
Paper Mario: Color Splash begann wie erwartet, also ganz nett und mit dem von Nintendo gewohnten Feinschliff. Das Kernproblem des Spiels offenbarte sich allerdings recht schnell in Form des fast durch und durch missratenen Kampfsystems. Die ebenso misslungene und unnötig umständliche Touchscreen-Steuerung ist dabei noch das geringste Problem, lässt sie sich doch bis auf wenige Elemente einfach abschalten. Schwerer wiegt, dass das Kampfsystem über zwei Drittel des Spiels nicht nur vergleichsweise uninteressant ist, sondern auch ganz und gar herausforderungslos. Die Attribute der Feinde sind leicht durchschaubar oder aus den Vorgängern bekannt – Gegnern mit Stachelpanzern sollte man nicht mit Sprungattacken begegnen usw. Ein Alleinstellungsmerkmal des kartenbasierten Kampfsystems ist es, die zunächst farblosen Karten vor dem Ausspielen mehr oder weniger stark einzufärben und auf diese Weise aufzupowern. Die Idee scheitert allerdings daran, dass in der Regel mehr als genügend Farbreserven zur Verfügung stehen. Das führt dazu, dass man alle Karten stets vollständig einfärbt, zumal nur derart eingefärbte Karten wirklich durchschlagskräftig sind. Statt die Kämpfe um eine taktische Komponente zu bereichern, entpuppt sich das Einfärben somit als zeitraubender Zwischenschritt im Angriffsprozess, der ziemlich genau nichts zur Spieltiefe beiträgt.
Eher demotivierend ist auch, dass ein kein Leveling-System gibt, wie es für die Rollenspiele der Reihe typisch war. Was eine erfrischende Simplifizierung hätte sein können, trägt so zusätzlich dazu bei, dass man Kämpfe irgendwann bewusst vermeidet – oder geradezu erleichtert ist, wenn man doch einmal auf einen etwas stärkeren Gegner trifft, bei dem man einige Karten „loswird“. Anfangs dachte ich, dass dem Spiel geholfen gewesen wäre, hätte man es durch eine Verknappung der Farbe schwieriger gestaltet. Inzwischen denke ich, dass das außer Frust auch nichts gebracht hätte. Dem Kampfsystem von Color Splash fehlt einfach grundlegend die Tiefe und Raffinesse. Das Wenige, das über das Erwähnte hinaus als Alleinstellungsmerkmal hervortritt – etwa das Wiederholen oder Verstärken von Angriffen durch gut getimte Tastendrücke – ist seit dem ersten Paper Mario (und inzwischen auch aus vielen anderen Spielen) bekannt.
Nun kann man legitimerweise einwenden, dass die Entwickler bei Intelligent Systems sich mit Color Splash einfach nicht an erfahrene Spieler richteten. Sondern an ein jüngeres und unerfahreneres Publikum, das die für Serienfans und Vielspieler offenkundigen spielmechanischen Feinheiten nicht sofort durchschaut bzw. nicht schon aus den Vorgängern kennt. Und tatsächlich kann ich mir vorstellen, dass es für Kinder bis zu einem gewissen Alter und für Videospieleinsteiger im Allgemeinen sehr unterhaltsam sein kann, mit den verschiedenen Karten zu experimentieren und sie per Fingerdruck einzufärben. Im Unterschied zu anderen sehr leichten Spielen – den Kirby- und Yoshi-Ablegern aus dem Hause Good-Feel beispielsweise – scheint sich Color Splash allerdings nicht sicher, welche Zielgruppe es eigentlich erreichen möchte. Das Spiel kombiniert seine eher anspruchslosen Kämpfe und ein Wimmelbild-haftes Abgrasen der Umgebungen nämlich mit einem vergleichsweise fordernden Adventure-Part und einem Humor, der vor allem über die Texte transportiert wird. Von nerdigen Insiderwitzen und Retro-Referenzen dürften sich gerade ältere und erfahrenere Spieler angesprochen fühlen. So können mit dieser eierlegenden Wollmilchsau von Spiel zwar viele unterschiedliche Spielergruppen ihren Spaß haben – aber eben alle nur mit gewissen Abstrichen. Für erfahrene Spieler bedeutet das, sich darauf einzustellen, dass das Kampfsystem – das immerhin die Hälfte der Spielzeit ausmachen dürfte – weder ihr taktisches Denken noch ihr Geschick auf die Probe stellen wird.
Plötzlich gut, alles gut?
Die Überraschung kommt im letzten Spieldrittel. Denn da dreht Paper Mario: Color Splash doch noch einmal richtig auf. Generell zählt es zu den selten gewordenen(?) Spielen, die im Spielverlauf und relativ zum sich entwickelnden Spielerkönnen tatsächlich schwieriger werden. Erscheinen die ersten Farb- und Health-Upgrades noch als überflüssige Erleichterungen, die alles nur noch langweiliger machen, ist der Farbbedarf späterer Karten überproportional hoch, sodass irgendwann doch noch der Hauch einer Herausforderung durch die Kämpfe weht. Vor allem die sogenannten Thing-Cards kommen erst dann richtig zur Geltung und verwandeln insbesondere die Boss-Fights in kleine Rätsel. Es handelt sich dabei um in Kartenform gepresste, ursprünglich fotorealistische dreidimensionale Gegenstände, die es irgendwie in die Papierwelt verschlagen hat und die dort als besonders machtvolle Artefakte existieren – Dinge eben, Thing-Cards.
Ein gutes Beispiel – und mein persönliches Highlight des Spiels – ist der epische Kampf gegen ein mannshohes Steak. Für eine erfolgreiche Zubereitung muss dieses zunächst im richtigen Maße weichgeklopft – mit dem Hammer; Marios Stiefel verfälschen den Geschmack! – und im Anschluss gepfeffert und gesalzen, gegrillt, und mit Zitronensaft verfeinert werden. Das alles geschieht im Rahmen des Kampfsystems, nur durch den Einsatz entsprechender Thing-Cards, die in den zahlreichen Levels der Spielwelt aber erst einmal gefunden werden wollen. Auch die einzelnen Schritte der Zubereitung müssen wir uns durch Befragung verschiedener Toads selbst erarbeiten.
Damit sind wir bei den positiven Seiten des Spiels angekommen. Bevor wir uns ganz den Qualitäten von Color Splash hingeben, haken wir deshalb noch schnell die anderen, kleineren Kritikpunkte ab: Die für ein Nintendo-Game untypischen relativ häufigen (wenn auch kurzen) Ladezeiten, die fehlende Möglichkeit, eigene Speicherstände anzulegen (mit denen sich die lustigsten Szenen noch einmal nachholen lassen würden) und überhaupt: frei speichern zu können. Einige nicht abschaltbare Touchscreen-Features, zu denen auch das stiefmütterlich umgesetzte Cutout-Feature gehört, das zum Rest des Spiels kaum passen möchte und tatsächlich so selten zum Einsatz kommt, dass man es als mögliche Lösung für die Rätsel oft nicht in Betracht zieht. Die Folge ist Frust, gegen den Color Splash auch an anderer Stelle nicht gefeit ist (auch wenn die gelungenen Hilfefunktionen in den meisten Fällen weiterhelfen). Zum Beispiel dann, wenn unser Vorankommen wieder einmal an einem leicht übersehbaren Item scheitert.
Feuerwerk der guten Laune
Gut bis sehr gut, bis exzellent, bis fantastisch, überraschend und ausgesprochen liebenswert und lustig – diese Superlative beschreiben den gesamten Rest des Spiels. Hat man sich einmal damit abgefunden, dass Color Splash erneut kein waschechtes Rollenspiel ist und sein Kampfsystem nur knapp am Prädikat „broken“ vorbeischrammt, dann können unvoreingenommene Spieler auf Prism Island ein zwar nicht fehlerfreies, aber ungewöhnliches Action-Adventure entdecken. Eines mit einem leider etwas zu anspruchslosen Action-Part, aber einem zunehmend erstaunlichen, später auch recht anspruchsvollen Adventure-Part, während dem Gegenstände gesammelt und an den richtigen Stellen verwendet werden wollen – und wo, außer in Point & Click-Adventures, gibt es das heute noch?
Die große Stärke des Spiels ist allerdings das Drumherum: Die Inszenierung und die technische Umsetzung. Das Writing (zumindest in der von mir gespielten englischen Textversion) und der Humor. Für Mario-Verhältnisse hat Color Splash eine nette Story. Es setzt auf bekannte Figuren, statt wie Super Paper Mario vergleichsweise uninspirierte neue Charaktere in den Mittelpunkt zu stellen. Seien es Bowsers Schergen, die zahllosen Toads und Shy Guys oder der gar nicht mal so nervige Sidekick Huey – alle kommen sie ungemein liebenswürdig daher. Inszenatorisch treffen Szenen voller Wärme (etwa die letzte Fahrt des Sunset Express) auf Sequenzen von bedrohlicher Wucht (wie das Innere einer „Waffenfabrik“ und Bowsers Invasion) und lassen eine lebendige Welt entstehen, die man tatsächlich retten möchte.
Dieses Gefühl der Verbundenheit mit der Spielwelt erreicht Color Splash auch durch seinen erstaunlich großen Umfang. Bei rund 40 Stunden steht der Zähler meiner Wii U – mehr als beim Original? – und obschon Color Splash ein eher langsames Spiel ist, wirkten diese Stunden kaum einmal gestreckt. Die bloße Zahl der Levels und ihr Abwechslungsreichtum, sowie die Vielzahl tatsächlich erinnerungswürdiger Lokalitäten, sind erstaunlich. Immer wieder gibt es Passagen, die vom Gameplay-Einerlei abweichen – sei es eine Game Show am Ozeangrund, eine Paralleldimension, ein Restaurant in Nöten oder ein verrückter Zirkus. Color Splash kann so selbst (und gerade) im letzten Spieldrittel noch mit komplett neuen Ideen punkten, die ich leider nicht näher erklären kann, ohne mich in Beispielen zu verlieren – und damit die Überraschungen vorwegzunehmen.
Nicht zuletzt trägt die technische Umsetzung viel zur Spielfreude bei: Die Musik ist zwar nicht orchestral wie in der Galaxy-Reihe, überrascht aber mit einigen der schönsten und abwechslungsreichsten Melodien, die ich seit einiger Zeit in einem Mario-Spiel hören durfte (und ist ist damit etwa der Musik von New Super Mario Bros. U weit überlegen). Das liegt auch daran, dass der Soundtrack von Color Splash das enge Korsett gewohnter Mario-Melodien verlässt und serientypische Klänge mit Einflüssen aus den verschiedensten Genres kombiniert. Und grafisch? Da gehört Color Splash auf seine eigene bescheidene Art zu den schönsten Spielen auf der Wii U: Der Look der Papierwelt ist klasse, auch wenn sich der „Witz“ als solcher recht schnell abnutzt und viele „Papier-Gags“ schon aus den Vorgängern bekannt sind. Dafür gibt es jetzt „Farb-Gags“. Und natürlich – spätestens seit Super Paper Mario ein Markenzeichen der Reihe – Witze zur Pop- und Netzkultur, und Bezüge zu zahlreichen anderen (Mario-)Spielen. In technischer Hinsicht fällt vor allem auf, wie knackig scharf das Spiel daherkommt, das auch auf einer technisch überlegenen Plattform wie der PlayStation 4 kaum besser ausschauen könnte. Ich fragte mich schon, ob es zu den wenigen Wii U-Spielen gehört, die in nativem 1080p berechnet werden, konnte das aber weder bestätigt noch widerlegt finden.
Fast vier Jahre nach seinem Erscheinen kann man Paper Mario: Color Splash noch immer recht günstig erhaschen: neu für um die 20 Euro. Wer seine Wii U noch beiseitegeschafft hat, sollte zugreifen, auch weil aufgrund der vermuteten, relativen Seltenheit des Spiels in den kommenden Jahren wohl eher eine Preissteigerung zu erwarten sein dürfte.
Daneben bleibt die Hoffnung auf eine Wiederveröffentlichung: Seit Erscheinen der Switch erleben diverse Wii U-Games dort ihren zweiten Frühling. Gern darf sich Paper Mario: Color Splash als Underdog in diese Riege einreihen, zumal es auf einen zweiten Bildschirm nicht angewiesen ist und kleine Verbesserungen den Spielkomfort erheblich erhöhen würden: eine Option, die Touchscreen-Steuerung komplett abzuschalten, die Möglichkeit, zusätzliche Speicherstände anzulegen, sowie – sicher Wunschdenken – ein Hard-Mode, der das Kampfsystem zwar auch nicht retten, aber doch zumindest seine gelungenen Seiten stärker herauskitzeln würde. Am 17. Juli erscheint nun aber erst einmal Paper Mario: The Origami King. Im Falle eines Erfolgs würden sich die Chancen auf eine Portierung von Color Splash mit Sicherheit erhöhen. [sk]
Paper Mario: Color Splash
Intelligent Systems / Nintendo
Nintendo Wii U, 07. Oktober 2016
Directors: Naohiko Aoyama & Taro Kudo
Producer: Kensuke Tanabe
Writer: Taro Kudo
Quelle Bilder: eigene Screenshots.
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Klingt insgesamt ja schon besser, als der Ruf des Spiels. Allerdings ist für mich kartenbasiertes Gameplay meist ein No-Go.
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Im Unterschied zu den meisten kartenbasierten Kampfsystemen spielt hier allerdings kein Zufallsfaktor rein. Du kannst immer aus sämtlichen Karten auswählen, die du besitzt, und die Gegner greifen ohnehin ganz normal an, also ohne Karten. Insofern fühlt es sich kaum so an, wie andere kartenbasierte Kampfsysteme.
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