Die aufregendsten Spiele sind häufig solche, die völlig auf klassische Genre-Konventionen pfeifen. So auch »CrossCode« vom deutschen Indie-Entwickler Radical Fish Games, das sich – wollte man es in klassische Genres einordnen – am ehesten als Action-JRPG beschreiben ließe.
Ein JRPG aus Deutschland? Ich muss zugeben, dass ich damals erst kurz nach Release des Spiels auf »CrossCode« aufmerksam geworden bin. Die jahrelange Early Access-Phase ist komplett an mir vorbeigegangen. Mein erster Berührungspunkt mit »CrossCode« in einer der Sonntagsfolgen des Auf ein Bier-Podcasts im Jahr 2018 hat mich dann schließlich so sehr beeindruckt, dass ich das Spiel kurze Zeit später – wer mich damals ein wenig kannte, wollte es kaum glauben – für mein MacBook gekauft habe. Ich konnte den angekündigten Konsolen-Release schlicht nicht mehr abwarten.
Ich bin jemand, für den schon knapp sechs Stunden »Undertale« auf Nicht-Konsole anno 2015 die reinste Tortur darstellten – einfach, weil ich grundsätzlich eher Konsolen-affin bin. Dass es mir in diesem Fall absolut nichts ausgemacht hat, knapp 30 Stunden »CrossCode« mit gelegentlichen Framedrops auf meinem flachbrüstigen MacBook Air zu spielen, sollte eigentlich schon Lob genug für das Spiel sein. Auch dass ich mich so spontan an einem Sonntagmorgen – wenige Tage, nachdem ich das 55-stündige »Dragon Quest XI« beendet hatte – gleich ins nächste RPG gestürzt habe, spricht für die Überzeugungskraft der Grundprämisse von »CrossCode«.
Der No Bullshit-Ansatz
»CrossCode« kombiniert die Stärken diverser Genres zu einem einzigartigen Gesamtpaket, das ich in dieser Form noch nirgendwo anders gesehen habe. Wann kann man das – gerade zu Zeiten extremer Medienkonformität – schon von einem Spiel behaupten? Insbesondere von einem eher klassisch anmutenden Gameplay-zentrischen Spiel mit Retro-Anleihen?
Ausgerechnet der RPG Maker-Look könnte wählerische Gemüter auf den ersten Blick abschrecken. Er funktioniert aber (bis auf wenige gewöhnungsbedürftige Charakterdesigns) übers gesamte Spiel hinweg absolut hervorragend. Generell ist die Welt, die »CrossCode« erschafft, sowohl atmosphärisch als auch konzeptionell faszinierend.
Zugegeben, die Spiel-im-Spiel-Metanarrative über das fiktive MMO CrossWorlds erfordert anfangs ein wenig suspension of disbelief. Grob zusammengefasst geht es um ein MMO, das in einem abgegrenzten Bereich der realen Welt mittels physischer Avatare gespielt wird. Die Avatare bewegen sich also nicht im Cyberspace, sondern funktionieren eher wie… nun ja, die Avatare in James Cameron’s »Avatar«. (Mit diesem Vergleich hätte selbst ich nicht gerechnet.)
Auch in »CrossCode« sind die Avatare mit allen fünf Sinnen der Spielenden verbunden. Einzig der Real-Life-Hintergrund der Protagonistin Lea ist ein großes Rätsel, das es über den Spielverlauf zu lösen gilt. Sobald man sich an das ausreichend plausible Setting gewöhnt hat, bietet »CrossCode« eine der spannendsten und originellsten Geschichten im Genre – inklusive zahlreicher Wendungen und philosophischen Dilemmata. Vor allem die Interaktion zwischen den Charakteren wirkt durch die Verwendung von autoscrollenden Textboxen während des Gameplays wunderbar organisch.
Der ausschlaggebende Faktor beim Writing ist wohl, dass »CrossCode« kein waschechtes Japan-RPG ist, sondern von einem deutschen Team geschrieben wurde. So wirken die Dialoge für westliche Ohren (oder Augen) ungewohnt authentisch und verlieren vor allem die JRPG-typische Geschwätzigkeit. Hier sitzt nahezu jede Zeile. Es kommt nur selten vor, dass eine Zwischensequenz zum stupiden Textboxklicker wird.
Vielleicht habe ich mittlerweile einfach eine niedrige Toleranz für das übliche JRPG-Geschwafel. Aber die Genrevertreter, bei denen ich von Anfang bis Ende in die Geschichte investiert war, lassen sich an zwei Händen abzählen.
Das Dark Souls der Enter the Gungeon-like MMOJRPGs
Auch im Gameplay wurden etliche der verbrauchten JRPG-Klischees einfach über Bord geworfen. »CrossCode« hat sämtliche Stärken eines guten JRPGs, aber keine der üblichen Schwächen. Das beginnt beim grandiosen Action-Kampfsystem und endet im famosen Level Design.
Die Gefechte spielen sich ähnlich wie in einem typischen Twin-Stick-Shooter (z.B. »Enter the Gungeon« oder »Geometry Wars«), zeichnen sich aber durch eine enorme spielerische und expressive Tiefe aus. Sinnvolle Charakterindividualisierung, eine große Fülle intuitiver Spezialangriffe sowie abwechslungsreiches Gegnerdesign führen zu einem der spannendsten 2D-Kampfsysteme, dessen Flow sich selbst vor »Devil May Cry« nicht verstecken braucht.
Auch die Areale fühlen sich mit ihrer ausgeprägten Vertikalität und Interaktionsmöglichkeiten an jeder Ecke eher nach Action-Adventure denn nach JRPG an. In welchem JRPG gibt es schon flüssiges Platforming? Und dann auch noch in nahezu jedem Areal? Zuweilen wird die Erkundung der Oberwelt beinahe zu komplex. Doch auch an dieser Stelle ist die schiere Originalität von »CrossCode« stark genug, um selbst auf Dauer zu überzeugen.
Mein persönliches Highlight waren ohnehin die Dungeons, die der klassischen Zelda-Formel folgen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich seit jeher der Typ Zelda-Fan war, der einige Titel am liebsten einzig auf die Dungeons destilliert hätte. Und Dungeons bietet »CrossCode« in Hülle und Fülle.
Die Dungeons sind lang und anspruchsvoll. Wer sich schon in Zelda durch die Verliese quälen musste, wird hier vermutlich durch die Hölle gehen. Für Dungeon-Junkies wie mich bietet »CrossCode« allerdings regelrechten Dungeon-Porn. Die schiere Länge einiger Dungeons spitzt sich im späteren Spielverlauf auf geradezu absurde Ausmaße zu. Dies führt zu den intensivsten Dungeon-Erfahrungen seit den Game Boy Color-Zeldas »Oracle of Ages & Seasons«. Auch das Design der Rätsel knüpft in Sachen Kreativität, Originalität und Genialität genau dort an, wo die Zelda-Reihe vor »Wind Waker« aufgehört hat. »CrossCode« bietet die besten Zelda-Dungeons, die nicht unter Nintendo entstanden sind.
Deutschland kann auch Konsolenspiele
Das liest sich jetzt ein wenig wie eine bezahlte Auflistung von Superlativen. Vielleicht bin ich übermäßig euphorisch, weil »CrossCode« bei mir so ziemlich jeden Nerv getroffen hat. Dennoch bin ich absolut begeistert davon, was passiert, wenn man die Magie eines JRPGs mit dem modernen Gameplay westlicher Indie-Titel kreuzt. »CrossCode« ist nicht perfekt und gerade Elemente wie das hoffnungslos überkomplizierte Handelssystem oder die unzähligen generischen Sidequests sind vielleicht auf die falsche Weise »typisch deutsch«. Die positiven Aspekte des Spiels – allem voran seine ungebrochene Originalität – wiegen jegliche Makel jedoch dreifach auf.
André Peschke – bekanntlich kein Mann des unbedachten Lobes – bezeichnete »CrossCode« am Ende seiner Auf ein Bier-Kritik als eines der besten deutschen Spiele. Ich persönlich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Für mich, der nichts mit den traditionell PC-orientierten Genres vieler deutscher Produktionen (Simulationen, WRPGs, Point and Click-Adventures, etc.) anfangen kann, ist »CrossCode« mit seinem von klassischen Konsolenspielen inspirierten Ansatz DAS beste deutsche Spiel, das ich je gespielt habe. [pg]
CrossCode
Radical Fish Games / Deck13
PC, Mac, Linux [20. September 2018]
Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One [09. Juli 2020]
Creative Director: Felix Klein
Main Programmers: Felix Klein & Stefan Lange
Musik: Deniz Akbulut
Bin schon sehr gespannt auf das Spiel. Wird auf jeden Fall im Game Pass ausprobiert und dann – weil ich für solche Games gerne mal Ewigkeiten brauche – bei Gefallen auch gerne gekauft.
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Twin-Stick-Steuerung in den Gefechten schreckt mich ja eher ab. Obwohl der Rest wirklich nach einem guten Spiel klingt. Hätte schon Bock darauf.
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