Wer „The Witcher 3“ gespielt hat, dem ist sicher das Geschehen rund um den blutigen Baron und den Fehlgeborenen in Erinnerung geblieben. In einem vom Hexer angeleiteten Ritual soll aus einem gefährlichen monsterartigen Wesen ein friedlicher Hausgeist werden. Die entsprechende Quest führt uns tief in die Welt von Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Trauer und Verdrängung.


Erst kürzlich feierte CD Projekt Red, das Studio hinter „The Witcher 3″, den Verkauf von 50 Millionen Kopien der Spielreihe. Viele Spieler sind erst zum dritten Teil, in dem wir Hexer Geralt bei der Suche nach seiner Ziehtochter Ciri behilflich sind, dazugestoßen. Hier trifft der raue Protagonist im Rahmen der Quest „Familienangelegenheiten“ auf den blutigen Baron, den selbsternannten Herrscher einer Region namens Velen. Da der Baron Geralts Ziehtochter Ciri für kurze Zeit beherbergt haben soll, stattet der Hexer ihm einen Besuch ab – dieser rückt Informationen aber nur heraus, wenn Geralt sich bereit erklärt, dessen Tochter und dessen Ehefrau ausfindig zu machen. Beide seien seit Kurzem spurlos verschwunden. Geralt nimmt sich des Falls an, in der Hoffnung, Informationen über Ciris Verbleib zu erhalten.

Mithilfe seiner Hexersinne untersucht Geralt das Anwesen des Barons auf Spuren der verschwundenen Frau und Tochter und findet Hinweise auf einen stattgefundenen Kampf. Damit konfrontiert, bekennt der Baron, dass er während eines Streits im Rausch seine schwangere Frau die Treppe heruntergestoßen hat. Dadurch verlor sie ihr Kind und floh traumatisiert mit der anderen Tochter. Das ist allerdings noch nicht genug: Das vom Baron in einigem Abstand zum Anwesen verscharrte Kind hat sich nun in einen sogenannten „Fehlgeborenen“, eine Art „Monster“ verwandelt, das sich am Baron rächen will, sobald es stark genug ist.

Das Spiel bietet nun die Möglichkeit, den Fehlgeborenen endgültig zu töten oder ein Ritual durchzuführen, das das Kind in einen Tölpelbold, eine Art friedlichen Hausgeist, verwandelt. Entscheidet sich Geralt für das Tölpelbold-Ritual, folgt eine Anzahl äußerst symbolträchtiger Handlungen, die psychotherapeutisch als Abschieds-, Trauer- und Verarbeitungsprozess verstanden werden können. Konkret sucht der Baron gemeinsam mit Geralt den Fehlgeborenen auf, muss ihn dort hochnehmen, zurück zum Anwesen tragen, ihn um Vergebung bitten, ihm einen Namen geben und ihn anschließend unter der Türschwelle begraben. Glückt das Ritual, hilft der Tölpelbold dabei, die verschollene Frau und Tochter des Barons zu finden.

Was im Spiel auf eine spezielle Situation hin dargestellt ist, lässt sich in großen Teilen ganz allgemein auf das Thema des Umgangs mit Schuld und Schuldgefühlen übertragen. So besitzt das Ritual sogar außerhalb des Spiels Relevanz, da es aufzeigt, wie rituelle Handlungen dazu beitragen können, mit (gegebenenfalls selbst verschuldeten) Verlusterfahrungen umzugehen. Im Folgenden analysiere ich daher die einzelnen Schritte des Tölpelbold-Rituals und untersuche sie auf ihre psychotherapeutische Bedeutung hin.


Ausgangssituation: verscharrte Erinnerungen und drohende Rache

Nachdem Tochter und Frau geflohen waren, vergrub der Baron den totgeborenen Säugling weit weg vom Anwesen. Vermutlich in der Hoffnung, mit dem Verscharren des Kinds auch die damit in Verbindung stehenden Ereignisse zu vergessen – ganz im Zeichen von „aus den Augen, aus dem Sinn“. Im psychoanalytischen Jargon spricht man hier von Verdrängung. Der Baron versucht so, das Geschehen mit sämtlichen Erinnerungen im Unbewussten zu „begraben“, um somit mit den aufkommenden Emotionen wie Schuld und Scham nicht in Kontakt kommen zu müssen. Die Flucht in den Alkoholismus tut ihr Übriges.

Aus dem verscharrten Kind ist allerdings ein sogenannter „Fehlgeborener“ geworden, der sich am Baron rächen will. Im Spiel wird die Rache als drohende Vernichtung des Barons beschrieben. Deuten wir den Fehlgeborenen als Symbol für die verdrängten, vergrabenen Schuld- und Schamgefühle des Barons, könnten wir das Heimsuchen als ein Wiederaufbrechen dieser Gefühle verstehen: Die Verdrängungsmechanismen sind nicht mehr erfolgreich und die heftigen Emotionen kommen buchstäblich wieder an die Oberfläche. Schlimmstenfalls kann so etwas im Suizid enden und damit als „Rache“ des Fehlgeborenen (fehl-)gedeutet werden. Zudem können verdrängte Bewusstseinsinhalte im Extremfall auch einen „psychischen Tod“ herbeiführen, beispielsweise im Sinne einer schweren und anhaltenden Depression.


Annäherung und Annahme

Der erste Schritt im Ritual besteht darin, dass der Baron gemeinsam mit Geralt das Grab und damit den Fehlgeborenen aufsucht. Hier geht es um die bewusste Auseinandersetzung mit den verdrängten Inhalten, also der Tat, den Konsequenzen und allen begleitenden Emotionen. Die erste Kontaktaufnahme findet im Spiel in der Nacht statt; grundsätzlich sind wir nachts aufgrund nachlassender Abwehr zugänglicher für unbewusste Inhalte, beispielsweise in Form von Träumen.

Nach der ersten Annäherung und Kontaktaufnahme kommt der sicher schwierigste Teil: Der Baron soll im nächsten Schritt den Fehlgeborenen hochheben. In der Cutscene spürt man förmlich den inneren Kampf des Barons: Hier geht es um nichts weniger, als das vergangene Geschehen und alle damit verbundenen Gefühle an sich heranzulassen. Dazu gehört auch das Aushalten des Schmerzes, des (Selbst?-)Ekels, der Angst, der Vorwürfe … Es geht hier im tiefsten Sinn um Selbstkonfrontation.


Integration und Bitte um Verzeihung

Im nächsten Schritt soll der Baron den Fehlgeborenen zurück zum Anwesen tragen. Anwesen bzw. Häuser sind meist mit einer symbolischen Bedeutung behaftet: Taucht beispielsweise im Traum ein Haus auf, kann dieses häufig als Symbol für das Innere des Träumers verstanden werden. Deutet man das Anwesen des Barons folglich als Bild für die Lebenswelt und als ein identitätsstiftendes Merkmal des Barons, geht es darum, die Verdrängung/Abspaltung weiter zu lösen und das Ereignis mit allen Konsequenzen in das eigene Leben zu integrieren.

Beim Anwesen angekommen, fordert Geralt den Baron auf, in einem weiteren Schritt den Fehlgeborenen um Verzeihung zu bitten. An dieser Stelle spricht der Baron seine Schuld zum ersten Mal direkt aus. Es bleibt also nicht dabei, sich der Tat mit den Konsequenzen und Gefühlen zu stellen, sondern Schuld muss erkannt und benannt werden. Vielleicht wird ihm in diesem Moment auch zum ersten Mal das gesamte Ausmaß seiner Tat und seiner Verantwortung bewusst. Danach folgt die Bitte um Vergebung. Meines Erachtens geht es hier sowohl darum, dass sich der Baron Vergebung vom Kind wünscht, als auch hofft, sich selbst vergeben zu können.


Beim Namen nennen

Im nächsten Teil des Rituals soll der Baron dem Fehlgeborenen einen Namen geben. Namen sind in besonderer Weise identitätsstiftend; wenn wir uns einer Person oder Gruppe vorstellen, nennen wir nicht umsonst zuerst unseren Namen. Aus dem „Etwas“, das der Baron vergessen möchte, wird somit ein Wesen mit einer Identität, mit einer nicht gelebten Geschichte, einem nicht gelebten Leben. Auf einer anderen Ebene könnte man auch sagen, dass der Baron „die Sache beim Namen nennt“ – er kann also seine Tat, seine Schuld und das Geschehen zum ersten Mal richtig in Worte fassen. Das Finden von Worten für traumatische Situationen ist von äußerster Wichtigkeit im Verarbeitungsprozess, da „das Unsagbare“ plötzlich eine Form in Gestalt von Sprache bekommt. Durch das Aussprechen wird es möglich, sich vom Erlebten zu distanzieren – es nicht länger nur als inneres, überwältigendes Geschehen zu verarbeiten, sondern in einen (Beziehungs-)Raum zu geben.


Begräbnis und Verwandlung

Nun muss der Baron das als „Dea“ benannte Kind unter der Türschwelle begraben. Die Türschwelle kann selbstverständlich ebenfalls vielschichtig gedeutet werden: Im Rückgriff auf die oben ausgeführte Deutung des Hauses als Symbol für das Innere kann das Begraben unter der Schwelle als weiterer Schritt in der Integration des Ereignisses ins Leben des Barons verstanden werden. Es könnte auch darum gehen, das Kind wieder in die Familie und ins Familienbewusstsein zu integrieren – es gehört dazu, auch wenn es nicht mehr lebt.

Sobald der Baron alle rituellen Handlungen ausgeführt hat, fordert Geralt ihn auf, sich zurückzuziehen. Beim letzten Schritt ist Geralt allein: Er wartet einen Tag und eine Nacht. So lange, bis ein Tölpelbold, eine Art friedlicher Hausgeist, erscheint. Dieser führt Geralt im Anschluss auf die Spur von Ehefrau und Tochter des Barons. Niemand, nicht einmal Geralt oder irgendein Ritual, vermag mit den Fingern zu schnippen und alles ist gut. Auch im Spiel muss gewartet werden, bis sich die Wandlung vollzieht. Ebenso kann ein innerer Prozess der Trauer und der Reue nicht beschleunigt, durch ein Ritual nicht einfach abgeschlossen werden. Gelingt dieser Prozess, kann aus der schrecklichen Situation im besten Fall (!) etwas Gutes entstehen, das uns auf unserem weiteren Lebensweg begleitet. Die Lücke jedoch – das nicht gelebte Leben des Kindes – bleibt bestehen. Auch im Spiel. Auch hier wird nicht alles gut.

Geralt übernimmt in diesem Prozess eine erstaunlich therapeutische Rolle: Er kann dem Baron den schwierigen Weg nicht abnehmen, jedoch gibt der Hexer Hilfestellungen, unterstützt an Stellen, wo es möglich ist, fungiert als Zeuge für diesen intimen Prozess und ist einfach „da“. Auch Psychotherapeuten können ihren Patienten die schwierigen Konfrontationen, den Schmerz, die Trauer, die Wut und alle anderen Gefühle nicht abnehmen, aber sie können Hilfestellungen geben und den Patienten durch ihre Anwesenheit begleiten und stützen. [jk]