Wer „The Witcher 3“ gespielt hat, dem ist sicher das Geschehen rund um den blutigen Baron und den Fehlgeborenen in Erinnerung geblieben. In einem vom Hexer angeleiteten Ritual soll aus einem gefährlichen monsterartigen Wesen ein friedlicher Hausgeist werden. Die entsprechende Quest führt uns tief in die Welt von Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen, Trauer und Verdrängung.
Erst kürzlich feierte CD Projekt Red, das Studio hinter „The Witcher 3″, den Verkauf von 50 Millionen Kopien der Spielreihe. Viele Spieler sind erst zum dritten Teil, in dem wir Hexer Geralt bei der Suche nach seiner Ziehtochter Ciri behilflich sind, dazugestoßen. Hier trifft der raue Protagonist im Rahmen der Quest „Familienangelegenheiten“ auf den blutigen Baron, den selbsternannten Herrscher einer Region namens Velen. Da der Baron Geralts Ziehtochter Ciri für kurze Zeit beherbergt haben soll, stattet der Hexer ihm einen Besuch ab – dieser rückt Informationen aber nur heraus, wenn Geralt sich bereit erklärt, dessen Tochter und dessen Ehefrau ausfindig zu machen. Beide seien seit Kurzem spurlos verschwunden. Geralt nimmt sich des Falls an, in der Hoffnung, Informationen über Ciris Verbleib zu erhalten.
Mithilfe seiner Hexersinne untersucht Geralt das Anwesen des Barons auf Spuren der verschwundenen Frau und Tochter und findet Hinweise auf einen stattgefundenen Kampf. Damit konfrontiert, bekennt der Baron, dass er während eines Streits im Rausch seine schwangere Frau die Treppe heruntergestoßen hat. Dadurch verlor sie ihr Kind und floh traumatisiert mit der anderen Tochter. Das ist allerdings noch nicht genug: Das vom Baron in einigem Abstand zum Anwesen verscharrte Kind hat sich nun in einen sogenannten „Fehlgeborenen“, eine Art „Monster“ verwandelt, das sich am Baron rächen will, sobald es stark genug ist.
Das Spiel bietet nun die Möglichkeit, den Fehlgeborenen endgültig zu töten oder ein Ritual durchzuführen, das das Kind in einen Tölpelbold, eine Art friedlichen Hausgeist, verwandelt. Entscheidet sich Geralt für das Tölpelbold-Ritual, folgt eine Anzahl äußerst symbolträchtiger Handlungen, die psychotherapeutisch als Abschieds-, Trauer- und Verarbeitungsprozess verstanden werden können. Konkret sucht der Baron gemeinsam mit Geralt den Fehlgeborenen auf, muss ihn dort hochnehmen, zurück zum Anwesen tragen, ihn um Vergebung bitten, ihm einen Namen geben und ihn anschließend unter der Türschwelle begraben. Glückt das Ritual, hilft der Tölpelbold dabei, die verschollene Frau und Tochter des Barons zu finden.
Was im Spiel auf eine spezielle Situation hin dargestellt ist, lässt sich in großen Teilen ganz allgemein auf das Thema des Umgangs mit Schuld und Schuldgefühlen übertragen. So besitzt das Ritual sogar außerhalb des Spiels Relevanz, da es aufzeigt, wie rituelle Handlungen dazu beitragen können, mit (gegebenenfalls selbst verschuldeten) Verlusterfahrungen umzugehen. Im Folgenden analysiere ich daher die einzelnen Schritte des Tölpelbold-Rituals und untersuche sie auf ihre psychotherapeutische Bedeutung hin.
Ausgangssituation: verscharrte Erinnerungen und drohende Rache
Nachdem Tochter und Frau geflohen waren, vergrub der Baron den totgeborenen Säugling weit weg vom Anwesen. Vermutlich in der Hoffnung, mit dem Verscharren des Kinds auch die damit in Verbindung stehenden Ereignisse zu vergessen – ganz im Zeichen von „aus den Augen, aus dem Sinn“. Im psychoanalytischen Jargon spricht man hier von Verdrängung. Der Baron versucht so, das Geschehen mit sämtlichen Erinnerungen im Unbewussten zu „begraben“, um somit mit den aufkommenden Emotionen wie Schuld und Scham nicht in Kontakt kommen zu müssen. Die Flucht in den Alkoholismus tut ihr Übriges.
Aus dem verscharrten Kind ist allerdings ein sogenannter „Fehlgeborener“ geworden, der sich am Baron rächen will. Im Spiel wird die Rache als drohende Vernichtung des Barons beschrieben. Deuten wir den Fehlgeborenen als Symbol für die verdrängten, vergrabenen Schuld- und Schamgefühle des Barons, könnten wir das Heimsuchen als ein Wiederaufbrechen dieser Gefühle verstehen: Die Verdrängungsmechanismen sind nicht mehr erfolgreich und die heftigen Emotionen kommen buchstäblich wieder an die Oberfläche. Schlimmstenfalls kann so etwas im Suizid enden und damit als „Rache“ des Fehlgeborenen (fehl-)gedeutet werden. Zudem können verdrängte Bewusstseinsinhalte im Extremfall auch einen „psychischen Tod“ herbeiführen, beispielsweise im Sinne einer schweren und anhaltenden Depression.
Annäherung und Annahme
Der erste Schritt im Ritual besteht darin, dass der Baron gemeinsam mit Geralt das Grab und damit den Fehlgeborenen aufsucht. Hier geht es um die bewusste Auseinandersetzung mit den verdrängten Inhalten, also der Tat, den Konsequenzen und allen begleitenden Emotionen. Die erste Kontaktaufnahme findet im Spiel in der Nacht statt; grundsätzlich sind wir nachts aufgrund nachlassender Abwehr zugänglicher für unbewusste Inhalte, beispielsweise in Form von Träumen.
Nach der ersten Annäherung und Kontaktaufnahme kommt der sicher schwierigste Teil: Der Baron soll im nächsten Schritt den Fehlgeborenen hochheben. In der Cutscene spürt man förmlich den inneren Kampf des Barons: Hier geht es um nichts weniger, als das vergangene Geschehen und alle damit verbundenen Gefühle an sich heranzulassen. Dazu gehört auch das Aushalten des Schmerzes, des (Selbst?-)Ekels, der Angst, der Vorwürfe … Es geht hier im tiefsten Sinn um Selbstkonfrontation.
Integration und Bitte um Verzeihung
Im nächsten Schritt soll der Baron den Fehlgeborenen zurück zum Anwesen tragen. Anwesen bzw. Häuser sind meist mit einer symbolischen Bedeutung behaftet: Taucht beispielsweise im Traum ein Haus auf, kann dieses häufig als Symbol für das Innere des Träumers verstanden werden. Deutet man das Anwesen des Barons folglich als Bild für die Lebenswelt und als ein identitätsstiftendes Merkmal des Barons, geht es darum, die Verdrängung/Abspaltung weiter zu lösen und das Ereignis mit allen Konsequenzen in das eigene Leben zu integrieren.
Beim Anwesen angekommen, fordert Geralt den Baron auf, in einem weiteren Schritt den Fehlgeborenen um Verzeihung zu bitten. An dieser Stelle spricht der Baron seine Schuld zum ersten Mal direkt aus. Es bleibt also nicht dabei, sich der Tat mit den Konsequenzen und Gefühlen zu stellen, sondern Schuld muss erkannt und benannt werden. Vielleicht wird ihm in diesem Moment auch zum ersten Mal das gesamte Ausmaß seiner Tat und seiner Verantwortung bewusst. Danach folgt die Bitte um Vergebung. Meines Erachtens geht es hier sowohl darum, dass sich der Baron Vergebung vom Kind wünscht, als auch hofft, sich selbst vergeben zu können.
Beim Namen nennen
Im nächsten Teil des Rituals soll der Baron dem Fehlgeborenen einen Namen geben. Namen sind in besonderer Weise identitätsstiftend; wenn wir uns einer Person oder Gruppe vorstellen, nennen wir nicht umsonst zuerst unseren Namen. Aus dem „Etwas“, das der Baron vergessen möchte, wird somit ein Wesen mit einer Identität, mit einer nicht gelebten Geschichte, einem nicht gelebten Leben. Auf einer anderen Ebene könnte man auch sagen, dass der Baron „die Sache beim Namen nennt“ – er kann also seine Tat, seine Schuld und das Geschehen zum ersten Mal richtig in Worte fassen. Das Finden von Worten für traumatische Situationen ist von äußerster Wichtigkeit im Verarbeitungsprozess, da „das Unsagbare“ plötzlich eine Form in Gestalt von Sprache bekommt. Durch das Aussprechen wird es möglich, sich vom Erlebten zu distanzieren – es nicht länger nur als inneres, überwältigendes Geschehen zu verarbeiten, sondern in einen (Beziehungs-)Raum zu geben.
Begräbnis und Verwandlung
Nun muss der Baron das als „Dea“ benannte Kind unter der Türschwelle begraben. Die Türschwelle kann selbstverständlich ebenfalls vielschichtig gedeutet werden: Im Rückgriff auf die oben ausgeführte Deutung des Hauses als Symbol für das Innere kann das Begraben unter der Schwelle als weiterer Schritt in der Integration des Ereignisses ins Leben des Barons verstanden werden. Es könnte auch darum gehen, das Kind wieder in die Familie und ins Familienbewusstsein zu integrieren – es gehört dazu, auch wenn es nicht mehr lebt.
Sobald der Baron alle rituellen Handlungen ausgeführt hat, fordert Geralt ihn auf, sich zurückzuziehen. Beim letzten Schritt ist Geralt allein: Er wartet einen Tag und eine Nacht. So lange, bis ein Tölpelbold, eine Art friedlicher Hausgeist, erscheint. Dieser führt Geralt im Anschluss auf die Spur von Ehefrau und Tochter des Barons. Niemand, nicht einmal Geralt oder irgendein Ritual, vermag mit den Fingern zu schnippen und alles ist gut. Auch im Spiel muss gewartet werden, bis sich die Wandlung vollzieht. Ebenso kann ein innerer Prozess der Trauer und der Reue nicht beschleunigt, durch ein Ritual nicht einfach abgeschlossen werden. Gelingt dieser Prozess, kann aus der schrecklichen Situation im besten Fall (!) etwas Gutes entstehen, das uns auf unserem weiteren Lebensweg begleitet. Die Lücke jedoch – das nicht gelebte Leben des Kindes – bleibt bestehen. Auch im Spiel. Auch hier wird nicht alles gut.
Geralt übernimmt in diesem Prozess eine erstaunlich therapeutische Rolle: Er kann dem Baron den schwierigen Weg nicht abnehmen, jedoch gibt der Hexer Hilfestellungen, unterstützt an Stellen, wo es möglich ist, fungiert als Zeuge für diesen intimen Prozess und ist einfach „da“. Auch Psychotherapeuten können ihren Patienten die schwierigen Konfrontationen, den Schmerz, die Trauer, die Wut und alle anderen Gefühle nicht abnehmen, aber sie können Hilfestellungen geben und den Patienten durch ihre Anwesenheit begleiten und stützen. [jk]
Eine sehr tiefgründige Deutung zu einer erinnerungswürdigen Quest. Ich habe mich auch dafür entschieden den Tölpelbold in einen Hausgeist zu verwandeln. Die Konfrontation mit den Geistern hat mir besonders gut gefallen, da dieser Gegnertyp wunderbar ins Spielgeschehen passt. Ich hatte als Spieler ständig das Gefühl gegen die verdrängten Erinnerungen des Barons zu kämpfen, während er seinen schmerzvollen Pfad beschreitet. Mich würde noch interessieren, welchen Konflikt der Spieler bewältigt, wenn er sich dafür entscheidet den Fehlgeborenen zu töten. Muss Geralt ebenfalls nur gegen Geister kämpfen oder kommen noch andere Monster hinzu?
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Das hast du schön in Worte gefasst, Dennis! Ja, die auf dem Weg auftauchenden Geister kann man sicher als verdrängte Erinnerungen oder Gefühle verstehen.
Zu deiner Frage: Ich weiß nicht, ob man das direkt als (Versuch einer) Bewältigung eines Konflikts bezeichnen würde, wenn man sich dazu entscheidet, den Fehlgeborenen zu töten. Innerhalb der Spielwelt könnte man natürlich, wenn der Baron selbst sich gegen das Ritual entscheiden würde, davon ausgehen, dass er diesem Prozess weiterhin entfliehen will. Aber allein schon durch die Tatsache, dass man (soweit ich mich erinnere) vor dem Ritual noch gar nicht weiß, was auf einen wartet, muss man m.E. vorsichtig damit sein, Spieler zu psychologisieren, die den Fehlgeborenen töten.
Beim Töten des Fehlgeborenen verwandelt sich dieser „einfach“ nur in einen Boss, es kommen keine Geister hinzu: https://www.youtube.com/watch?v=f_VGGXG9HdY
Der Baron ist über diesen Ausgang allerdings sehr unglücklich.
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Den Fehlgeborenen zu töten sieht mir deutlich uninteressanter aus, als ihn in einem Hausgeist zu verwandeln. Mir fehlt dort irgendwo die Reaktion des Barons. Er wird zum teilnahmslosen Zuschauer, obwohl er eine zentrale Figur im Geschehen sein müsste. Gut, dass ich mich für die Rettung des Fehlgeborenen eingesetzt habe.
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Liegt vielleicht auch daran, dass die Entwickler erwarten, dass die allermeisten(?) Spieler sich dafür entscheiden werden, den Fehlgeborenen zu „retten“ und das Ritual durchzuführen? Und dass sie deshalb entsprechend mehr Arbeit in die Ausgestaltung dieser Option gesteckt haben?
Es ist inzwischen ja bekannt, dass Spieler dazu tendieren, aus einer „guten“ und einer „bösen“ Option (zu der man das Töten des Fehlgeborenen wohl zählen könnte) die gute Version zu wählen. Siehe Mass Effect: https://www.eurogamer.net/articles/2020-02-22-it-turns-out-9-out-of-10-mass-effect-players-were-paragon
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Danke für diesen interessanten Link, Sylvio! Diesen Artikel kannte ich noch nicht. Ja, es ist gut möglich, dass die „Sichtbarkeit“ einen großen Teil zur Entscheidung der stärkeren Ausgestaltung des Tölpelboldrituals beigtragen hat. Auch unabhängig vom Gut-/Böse-Charakter der beiden Auswahlmöglichkeiten würden Spielende sicher in den meisten Fällen das Tölpelboldritual wählen, weil das dortige Geschehen weniger vorhersehbar ist als der schon zu erwartende Bosskampf bei der anderen Option. Heißt: es macht schlicht neugieriger und wird sicher auch deswegen öfter gewählt.
@Dennis: die Reaktion des Barons folgt ja „zumindest“ noch im Nachhinein. Allerdings hätte ich es auch begrüßt, wenn er sich während des Kampfes bereits zu Wort gemeldet hätte – und sei es nur mit einem Zwischenruf….
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Genau für solche Inhalte bin ich hier. Ein sehr spannender Text. Auch wenn ich inhaltlich nichts zum Thema beitragen kann. Ich hab Witcher 3 schlicht und einfach nicht gespielt habe. Übrigens sehr interessant, dass ich, Stand heute, den Artikel von Jannick zu den Reviews von TLoU2 gelesen habe und das eine Einordnung fehlt. Und das bietet dieser Text.
Da ich aber bei Texten oder generell bei allem was ich konsumiere nach vergleichen suche, konnte ich auch hier nicht anders. Ich musste dabei an Terry Pratchett denken und im besonderen an die Geschichten mit Tiffany Wee. Tiffany Wee ist ein junges Mädchen die Hexe wird. Mit ihr gibt es schon mehrere Geschichten und alle behandeln Themen wie du sie hier geschildert hast. Und im Buch Das Mitternachtskleid, gibt es sogar eine ähnliche Geschichte. Im Dorf, wo sie wohnt findet ein Fest statt. Im Alkoholrausch verprügelt ein Vater seine Tochter und beinahe stirbt sie und die Mutter kann oder will nicht eingreifen. Tiffany aber greift ein und bekommt die Konsequenzen zu spüren, denn plötzlich wird sie als die Böse gesehen. Das sie an allem Schuld ist. Und in dem Zusammenhang gibt es ein Gespräch zwischen Tiffany und ihrem Vater, der sie fragt, warum sie das alles auf sich nimmt. Diese Bürde. Und sie erwidert sinngemäß, weil es sonst keiner macht. Es ist nicht etwa Böses was dahintersteckt. Es ist Ignoranz . Als Beispiel nennt sie eine alte Frau, die zwar immer von den anderen Bewohnern etwas zu essen bekommt, aber keiner redet mit ihr und hört sich an was sie will oder was sie bedrückt. So, sorry für die Abschweifung vom eigentlichen Thema, aber wie gesagt, ich suche immer nach vergleichen.
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Wird nicht auch in gewisser Weise der Tod des ungeborenen Kindes auf eine tragische Weise erhöht und mystifiziert? Ich konnte nicht anders als das Geschehen mit der Abtreibungspolitik des stark katholisch geprägten Polens (Entwickler CD Projekt Red ist ein polnisches Entwicklerstudio) in Beziehung zu setzen.
So könnte man das ganze auch als ein anti-feministischen Handlungsstrang interpretieren – egal ob Unfall oder nicht – töte dein ungeborenes Kind und es wird dich heimsuchen.
Deshalb habe ich gerade diese Quest als stark reaktionär wahrgenommen.
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Lieber Daniel,
danke für deine interessante und kritische Perspektive! :) Ich freue mich über solche Diskussionsanstöße!
Mit meiner Deutung bzw. meinem Verständnis dessen, was da passiert, stimme ich allerdings nicht zu:
1) Ich verstehe es so, dass es da überhaupt nicht um einen „realen“ Geist / ein „reales“ „Monster“ geht, von dem der Baron gefolgt/gequält wird. Ich verstehe den Fehlgeborenen hier wirklich rein symbolisch als Manifestation der Schuldgefühle des Barons.
2) Die Parallele zur Abtreibung sehe ich – bedingt durch Punkt 1 – selber daher auch nicht. Eine Frau, die sich für eine Abtreibung entscheidet, wird deswegen wahrscheinlich keine Schuldgefühle haben und somit nicht von einem „Fehlgeborenen“ heimgesucht werden.
LG,
Jessica
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Finde die Perspektive von Daniel ebenfalls sehr spannend, danke. Ich bin aber ansonsten auch sehr bei Jessicas Deutung.
Drei (andere) Gründe in meinen Augen:
1. Die „Schuld“ (nicht nur Schuldgefühle, sondern die tatsächliche Schuld am Tod des Kindes) liegt hier klar beim gewalttätigen Mann. Zu sagen, in dieser Quest stecke ein verstecktes Statement gegen Abtreibung würde der spezifischen Schuld des Mannes in dieser spezifischen Gewaltkonstellation nicht gerecht. Anders und etwas krass ausgedrückt (nicht dass ich das Daniel tatsächlich unterstellen würde): Eine solche Interpretation wäre selbst unterschwellig misogyn, da sie die tatsächlichen (und zutiefst ablehnenswerden) Gewaltakt des Barons auf eine Stufe setzt mit einer bewussten und durch eine Frau selbst gewählten Abtreibung.
Und nochmal: Bitte nicht falsch verstehen, ich glaube natürlich nicht, dass das Daniels Absicht war! Ich finde lediglich die Analogie mehr als krumm, unglücklich und deshalb problematisch.
Es lässt sich außerdem nicht leugnen, dass Fehl- und Todgeburten traumatische Folgen für die Beteiligen haben können. Wenn wir allerdings anfangen, mitfühlende künstlerische Auseinandersetzungen mit Erlebnissen dieser Art vorschnell als Abtreibungs-Analogien zu lesen, bzw. das Trauern über eine Fehlgeburt als warnendes Beispiel für die Folgen einer Abtreibung zu lesen, dann würden wir weder der einen noch der anderen Problematik gerecht. Wie es problematisch wäre, „den Tod eines ungeborenen Kindes auf tragische Weise zu überhöhen“, um Daniels Worte aufzugreifen, wäre es ebenso problematisch, die emotionalen Folgen einer Fehlgeburt pauschal zu unterschätzen. Mystifizierungen können durchaus Teil der individuellen Beschäftigung mit einem solchen Erlebnis sein und eine positive Wirkung entfalten.
2. Der Leidende, der Beschuldigte, der, der Buße tun muss, ist in dieser Quest meines Wissens allein der Mann (und ich würde nicht von einem „Unfall“ sprechen). Der Frau werden keine Vorwürfe gemacht, sie erscheint nicht als Täterin, sondern als Opfer. Das läuft dem patriarchalisch-misogynen Schema entgegen. Auch der Umstand, dass der „Fehlgeborene“ gerettet und in einen guten Hausgeist verkehrt werden kann, steht einer Anti-Abtreibungs-Deutung entgegen. Kommt in der Quest doch zum Ausdruck, dass ein totgeborenes (oder ungeborenes) „Leben“ sehr wohl Frieden finden kann.
3. und in meinen Augen wirklich wichtig: Die kulturalistische Deutung behagt mir nicht. Es stimmt, dass die polnische Abtreibungspolitik stark reaktionär ist, allerdings sollte man daraus nicht einfach schließen, dass solche Ansichten im Entwicklerteam von CD Projekt Red vorherrschend sind, zumal das Spiel sonst auch nicht eben den Eindruck macht, mit den Ansichten der nationalkonservativen Regierungspartei oder der polnisch-katholischen Kirche konform zu sein.
Hier sollte man sich fragen: würde man dieselbe Skepsis bzw. Argumentation anbringen, wenn das Spiel aus einem Land mit einer liberaleren Abtreibungspolitik käme? Oder würde die Deutung dann nicht vielleicht wohlwollender ausfallen?
Sehr spannend, wie viel in dieser Quest steckt!
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Vorherrschend sicherlich nicht. Ich denke eher an bestimmte tradierte Erzählstrukturen die sich natürlich auch in einem „Unterhaltungsprodukt“ welches den Geschmack eines größeren Publikums treffen soll wiederfinden bzw. angelegt sind. Die Spielserie beruht ja auf den (zuerst in Polen) sehr populären und beliebten Fantasyromanen aus der Feder Sapkowskis. Weder gilt die Fantasy-Literatur als ein besonders progressives und aufklärerisches Genre noch kann man dies denke ich über den Autor der Reihe sagen den ich auch eher im konservativen Lager einordnen würde. Was auch nicht unbedingt abwertend gemeint ist. Ich habe alle Romane des Autors gelesen, und erlaube mir deshalb diese Einschätzung.
Wir sind ja alle mehr oder weniger geprägt von den gesellschaftlichen Normen und Befindlichkeiten in die wir hineinsozialisiert werden. Ich denke also schon das dies seinen Niederschlag findet auch ohne das ich mir anmaßen würde gleich eine ganze Gruppe von Personen oder einem Entwicklerstudio eine bestimmte Haltung zu unterstellen. Es mag ja auch nicht unbedingt bewußt passieren – schon gar nicht wenn man bedenkt durch wie viele Hände ein Spiel während der Entwicklung geht – dennoch finde ich es spannend wenn man später im fertigen Produkt auf bestimmte Fragmente stößt die einen gewiße Ambivalenz aufzeigen und Raum für kritische Interpretationen lassen.
Kaum ein europäisches Land ist bis heute so katholisch geprägt wie Polen. Und natürlich hat dies auch Konsequenzen wenn man für diesen Markt entwickelt und dort aufgewachsen ist. Ich würde da wie gesagt niemand eine Absicht unterstellen aber genausowenig denke ich das das Produkt des Schaffens frei sein kann von dem gesellschaftlichen „Klima“ in dem es erschaffen wurde.
Die Frau wurde Opfer häuslicher Gewalt und nach ihrem tragischen Ableben bedarf es männlicher Einsicht und Hilfe um dem ungeborenen, welches zum Monster wurde, Einhalt zu gebieten und dem männlichen Täter von seiner Schuld zu befreien. Auch ist die Darstellung des Schuldgefühls keinesfalls abstrakt. Man hat es mit einer relativ abstoßenden Sequenz zu tun. Das Baby erinnert stark an einen Zombie mit entsprechender Geräuschkulisse.
Es ist alles nicht eindeutig , die ganze Quest st sehr ambivalent und widersprüchlich. Und ich denke dies erlaubt eine kulturalistische Deutung, erlaubt Rückschlüsse und zeigt Anzeichen einer zerrissenen und gespaltenen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, Toleranz und Ablehnung ,Aufklärung und Religion , Bevormundung und Selbstbestimmung.
Mich erinnert das Ganze an die Diskussion um „Kingdom Come : Deliverance“ ebenfalls ein RPG eines osteuropäischen Entwicklers dem verkürzt gesagt „Whitewashing“ vorgeworfen wurde. Auch dort gab es keine bekennenden Rassisten o.ä. im Team. Allerdings muss man sich schon Fragen warum dort die Feinde aus dem nahen und fernen Osten bzw. dem Orient kamen und die mittelalterliche Idylle im Spiel störten – zu einem Zeitpunkt in dem in Europa Mauern errichtet wurden um Flüchtlingsströme aus dem nahen Osten aufzuhalten.
Ich will damit sagen : Ich glaube nicht an Zufälle.
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Ein sehr schöner Beitrag, gefällt mir wirklich gut. Einiges davon fiel mir beim selbst Spielen schon auf, einiges wiederum überhaupt nicht. Die Quest hat mich damals ziemlich mitgenommen, und dabei hatte ich damals noch gar keine Kinder. Ich wünschte mir mehr Firmen würden so tiefgründige und fundierte Storylines in AAA-Spiele einbauen, die Rezeption bei Witcher 3 hat ihnen ja recht gegeben, wie ich glaube liegt das auch daran, dass sie sich getraut haben den Spielern so erwachsene Inhalte im besten Sinne zuzumuten. Ich bin gespannt, ob sie in Cyberpunk 2077 auch wieder solche Quests eingebaut haben.
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Lieber Jonas,
vielen Dank für dein Kompliment und überhaupt für deinen tollen Kommentar! Ich freue mich, dass dir der Artikel noch ein paar neue Einblicke geben konnte!
Ich denke ebenfalls, dass The Witcher 3 nicht zuletzt aufgrund dieser „erwachsenen“ Inhalte, wie du sie genannt hast, so erfolgreich war. Die Quest rund um den blutigen Baron wurde ja auch viel diskutiert. Auch die Darstellung des Barons mit vielen typischen Verhaltensweisen eines Alkoholikers (Bagatellisieren, Schuld von sich weisen, Lügenkonstrukte, …) ist äußerst interessant.
Auf Cyberpunk bin ich, was die darin „verarbeiteten“ Themen betrifft, auch schon gespannt!
LG,
Jessica
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