Beim ersten Blick auf »Tonight We Riot« ertappte ich mich, wie ich dachte: »Ganz schön extrem.« Doch dann fiel mir ein: Superreiche Kapitalisten stürzen sich nicht von selbst. Mein Zögern interpretiere ich als Impulsreaktion auf den ungewohnten Mut, den »Tonight We Riot« in seiner direkten und schamlosen Darstellung linker Ideologien an den Tag legt. Nicht viele Spiele trauen sich, das Megafon so selbstbewusst auf Anschlag zu drehen. Diese unverhohlene Haltung ist »Tonight We Riots« größte Stärke und Schwäche zugleich.
»Tonight We Riot« ist kein Spiel vieler Worte oder anderweitiger Erklärungen. Es setzt voraus, dass die Spielenden wissen, wieso Multimilliardäre ein Problem für die globale Gesellschaft darstellen – sowohl in der Realität als auch in seiner verzerrten Dystopie. Deshalb kann es sofort einsetzen, wo es zählt: bei der Revolution. Die kaum vorhandene Exposition passt zur Arcade-Natur dieses Beat ‘em ups.
Prügeln nach Pikmin-Prinzip
Das Spiel beginnt, unsere Rebellenfigürchen laufen von links nach rechts und prügeln dabei – trotz unterlegener Waffen wie Backsteinen und Schlagringen – den feuerfreudigen Widerstand des Systems in Grund und Boden. Auch der Molotov-Cocktail, gewissermaßen das Symbol der Straßenaufstände, darf natürlich nicht fehlen.
Was man von solch vorbehaltloser Gewalt gegen staatliches Autoritätspersonal halten soll, sei jedem selbst überlassen. Die Abstraktion des Pixelstils führt dazu, dass die Gewalt trotz Splatter auch für Nicht-Systemkritiker (oder solche, die es noch werden wollen) halbwegs erträglich wirken sollte. Wer zu Beginn mit dem Gewissen kämpft, die Wächter des kapitalistischen Systems zu überrennen, sei mäßig entwarnt: Die Polizei greift immer zuerst an – mit tödlicher Gewalt, auch dann, wenn man nur friedlich über die Straße läuft.
Als Beat ‘em up hat »Tonight We Riot« einige nette Twists. Per rechtem Stick kontrollieren wir neben unseren namenlosen Leitpersonen einen ebenso generischen Mob aus Rebellen. Neue Sympathisanten befreien wir alle paar hundert Meter aus ihren Betrieben, in denen der Kapitalismus sie bis zum Moment der Emanzipation knechtete. Da die Truppen, einschließlich unserer Leitperson, von der Polizei umgenietet werden wie kommunistische Tontauben, wechselt auch die Anführerfahne alle paar Minuten. Jeder ist entbehrlich, aber nur gemeinsam kann die Bourgeoisie gestürzt werden.
Für sein altgedientes Genre ist »Tonight We Riot« moderat innovativ und dadurch auch einigermaßen spaßig. Viele kleinere Unfeinheiten in der Steuerung machen den Sturz der Reichen aber etwas weniger befriedigend. Falls jemand weiß, wie man einen fliegenden Gegner zuverlässig mit Steinen anvisiert, schreibt es mir in die Kommentare – ich habe es bis heute nicht herausgefunden. Auch die Navigation des Pikmin-ähnlichen Mobs ist – nicht zuletzt wegen des Wuselfaktors – die reinste Multitasking-Herausforderung. Viele Genossinnen und Genossen sind gefallen, weil ich schlicht den Überblick über die Situation verloren habe.
Nach weniger als zwei Stunden ist ein gewöhnlicher Durchlauf des Spiels vorbei. Das Erreichen der luftigen 100% mit möglichst wenigen Toten habe ich dank der latenten Unausgewogenheit gar nicht erst in Angriff genommen.
Wer bis hierhin gelesen hat und sich immer noch nicht fragt, was denn eigentlich so doof an Kapitalismus ist, bekommt von mir eine uneingeschränkte Empfehlung für »Tonight We Riot« – und hier liegt das Problem.
Weil »Tonight We Riot« voraussetzt, dass wir von Anfang bis Ende ohne Überzeugungsarbeit für seine Ideologien einstehen, erreicht es nur diejenigen, die bereits überzeugt sind. Während andere Spiele einen politischen Bildungsauftrag verfolgen oder zur kritischen Reflektion der eigenen Denkweise anregen, ist »Tonight We Riot« ein unbeschriebenes rotes Blatt. Sogar »Wolfenstein: The New Order« zeigt uns anschaulich und emotional mitreißend, wieso wir gegen die Nazis rebellieren sollen. Und dafür hätten wir nun WIRKLICH keinen Grund gebraucht.
Ventil für die eigene Blase
In dieser Hinsicht sitzt »Tonight We Riot« zwischen den Stühlen. Es ist gleichzeitig kompromisslos politisch und kompromisslos arcadig – ein richtiges gamey-game. Und als solches sollten wir es auch zu schätzen lernen. Es ist ein Spiel von Linken für Linke. Es ist die gnadenlos überzeichnete Videospieladaption von »Das Kapital«. »Tonight We Riot« ist nicht weniger geschmacklos als andere brutale Beat ‘em ups wie »Mother Russia Bleeds«, deren stumpfe Herangehensweise auch nicht jedem gefallen muss – mich selbst inbegriffen.
Daher sollten wir uns freuen, ein solch ungeniert linkes Spiel zu sehen, welches das Spektrum der Videospiellandschaft erweitert und sogar in seinem Entwicklungsprozess den Kommunismus lebte. Das Studio hinter »Tonight We Riot« befindet sich komplett im gleichberechtigten Besitz aller Mitarbeitenden; jegliche Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, alle Einnahmen fair aufgeteilt.
Wütende Steam-Kommentare, die sich darüber beschweren, dass »Tonight We Riot« trotzdem nicht kostenlos und deshalb total heuchlerisch sei, sind gewissermaßen Teil der Experience. (Ein Tipp für die Nörgler: Kommunismus ist nicht »Yu-Gi-Oh«, wo wir einfach alle lustig miteinander tauschen.) Außerdem: Nur weil die Entwickler Kapitalismus kritisieren, heißt dies nicht, dass sie sich komplett dessen Regeln entziehen können. »Tonight We Riot« dient als effektives Ventil für dieses Dilemma. [pg]
Tonight We Riot
Pixel Pushers Union 512 / Means Interactive
PC / Mac / Linux, Nintendo Switch [8. Mai 2020]