»Shenmue« begleitet mich in meinen Artikeln nun schon seit einigen Jahren. Mein erster Beitrag rund um »Shenmue« erschien im Oktober 2017 auf unserer Seite. Auch die ersten beiden Artikel, die ich je für ein Print-Magazin geschrieben habe, hatten Yu Suzukis Dreamcast-Klassiker sowie »Shenmue III« zu Thema: Ich blickte auf den Faktor der Nostalgie als ästhetisches Leitmotiv und Kernelement der Faszination der Originale, und ich fasste in einer Preview zusammen, wie es um »Shenmue III« stand, dessen Entwicklung im August 2017 gerade soweit fortgeschritten war, dass ein erster umfassender Trailer in Ingame-Grafik gezeigt worden war. Doch schon damals sah ich eine Reihe von Schwierigkeiten, mit denen die um zwei Jahrzehnte »verspätete« Fortsetzung zu kämpfen haben würde.


Ich argumentierte, dass eine der Herausforderungen darin bestünde, drei Zeitebenen in Einklang zu bringen: »Shenmue III« würde als modernes Spiel im Jahre 2019 funktionieren müssen, aber auch möglichst nahtlos anknüpfen an Spiele, die um die Jahrtausendwende entstanden. Es würde, drittens, auch die späten 1980er abbilden müssen, die seit jeher der Schauplatz seiner Handlung waren (auch wenn historische Akkuratesse nie eines seiner Ideale war). Würde »Shenmue«-Schöpfer Yu Suzuki sich darauf konzentrieren, die nostalgischen Sehnsüchte der Fans der Serie zu bedienen und eine aus der Zeit gefallene Retro-Erfahrung anstreben? Oder würde er nach den eher bescheidenen kommerziellen Erfolgen der Vorgänger, seine avantgardistischen Anwandlungen von einst an den Nagel hängen und, modernen Gamedesign-Konventionen folgend, stärker auf den Mainstream abzielen?

Und nicht zuletzt: In welchem Tonfall würde Yu Suzuki die Geschichte fortschreiben, die anfangs für ihre detailversessene und fast kompromisslose Nachbildung der Realität berühmt und auch berüchtigt war, bevor sie, mit ihrem 18 Jahre dauernden Cliffhanger am Ende von Teil zwei, kopfüber ins Mythisch-Fantastische sprang? Das sorgte bei mir schon damals für Stirnrunzeln und manchmal wünschte ich mir, »Shenmue« würde als ewig unvollendetes Werk fortleben, dessen weiterer Verlauf und Bedeutung den Vorstellungen seiner Spielerinnen und Spieler überlassen blieben.

Für die vielleicht größten Fragezeichen sorgte allerdings das Budget, das Yu Suzuki und seinem Entwicklerstudio Ys Net für »Shenmue III« zur Verfügung stand. Einer Crowdfunding-Kampagne ist es zu verdanken, dass »Shenmue III« überhaupt verwirklicht werden konnte. Mehr als 7 Mio. US-Dollar wurden auf diesem Wege zusammengetragen, womit »Shenmue III« zwar den einen oder anderen Crowdfunding-Rekord aufstellte, was aber trotzdem nicht sehr viel ist, für eine Fortsetzung von zwei der ehemals teuersten Spiele aller Zeiten. Mit einem Budget von bis zu 70 Mio. US-Dollar gingen »Shenmue« I und II als die bis dahin kostspieligsten Videospiel-Entwicklungen in die Geschichte ein – Kosten, die sie nie einspielten oder auch nur hätten einspielen können.

»Shenmue III« sollte nun als Indie-Projekt mit einem weitaus kleinen Budget verwirklicht werden (und ohne ein selbstbewusstes Sega im Rücken, das einen Vorzeigetitel für eine Next-Gen-Konsole brauchte). Zwar kam zusätzliche Unterstützung von einem monegassischen Unternehmen namens Shibuya Productions, von Sony und schließlich von Deep Silver, die Produktion, Marketing und den internationalen Vertrieb finanzierten. Gut möglich, dass von dieser Seite auch die eine oder andere zusätzliche Million der Entwicklung selbst zugute kam, zumal die Veröffentlichung von »Shenmue III« in den letzten zwei Jahren immer wieder verschoben wurde. Für die Qualität des Spiels war das sicherlich ein Vorteil, doch sind Verschiebungen in diesem Umfang üblicherweise nichts, was ein unabhängiges Entwicklerstudio sich ohne die Einwerbung weiterer Mittel leisten könnte.

Mehr als einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag dürfen wir aber selbst nach optimistischen Schätzungen nicht vermuten. Das ist nicht nur weniger als die Budgets der Vorgänger, sondern auch bescheiden im Vergleich zu modernen AAA-Open-World-Games, deren Budgets heutzutage schon mal im dreistelligen Millionenbereich liegen können. Dass »Shenmue III« auf diesem Niveau nicht würde mitspielen können, war deshalb abzusehen. Doch selbst wenn uns die Produktionsstandards von »Shenmue« I und II als Maßstab genügten, war fraglich, wie es Yu Suzuki und seinem Team gelingen sollte, mit einem derart schmalen Budget eine würdige Fortsetzung zu zwei Spielen zu verwirklichen, die ihre Faszination nicht zuletzt aus ihren Schauwerten zogen.


Erleichterung

In den ersten Stunden, die ich mit »Shenmue III« verbrachte, empfand ich dann vor allem eines: Erleichterung. Zwar zeigte sich sehr schnell, dass nicht alles an »Shenmue III« gelungen ist, doch die Mehrzahl der zuvor genannten Herausforderungen meisterten Yu Suzuki und sein Team mit Bravour. »Shenmue III« orientiert sich eng – sehr eng – an den den Originalen, und knüpft nicht nur erzählerisch, sondern auch spielerisch und inszenatorisch so direkt und nahtlos an die Vorgänger an, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Ganz wie damals laufen und fragen wir uns durch die Straßen, besuchen Martial-Arts-Schulen und buddhistische Tempel, verdienen uns mit monotonen Nebenjobs oder mit Glückspiel unser täglich Geld, und lernen Shenhua näher kennen, wir es am Ende des zweiten Teils schon taten.

Sicherlich auch, weil »Shenmue III« durch Art und Umfang seiner Finanzierung dem Massenmarkt nicht notwendigerweise huldigen muss, blieb es von den meisten Heimsuchungen modernen Gamedesigns verschont. Die Gamifizierung eines Spiels, das stets sehr wenig »Spiel«, nie »gamey« war, blieb daher aus, oder ist zumindest weit weniger stark ausgeprägt, als anhand seiner Messe-Demo zu befürchten war. Mit Skilltrees, Crafting und endlosem Grind, Lootboxen, Microtransactions und aufgezwungenen Online-Funktionen, müssen wir uns in »Shenmue III« also nicht herumschlagen. Am ehesten ist noch das neue Kampfsystem davon betroffen, doch die wenigen Ausnahmen und Zugeständnisse, die es ins Spiel geschafft haben, können die kontemplative Grundstimmung kaum stören.

Vor dem Hintergrund der Beschränkungen, die das Budget den Entwicklern auferlegte, erstaunt vor allem, wie schön – tatsächlich oft bemerkenswert schön – die Spielwelt von »Shenmue III« doch ist: Wie einst »Shenmue II«, beschert uns auch »Shenmue III« einige der schönsten Landschaften, die wir je in einem Videospiel durchstreifen durften. Das gilt vor allem für den ersten Schauplatz des Spiels, das beschauliche Dörfchen Bailu, das Ryo und Shenhua am Ende von »Shenmue II« erreicht, aber noch nicht tatsächlich betreten hatten. Eingebettet zwischen den charakteristischen Karstbergen der Guilin-Region im Süden Chinas bewundern wir klare Wasserfälle und schattige Bambushaine, einen ruhigen Bergsee, ein pittoreskes Flussbett, das gesäumt ist von Blumenwiesen, alte Tempel, Reisterrassen, Sonnenblumenfelder…, sowie durchaus gelungene Wechsel des Wetters und der tageszeitlichen Lichtverhältnisse.

Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel Arbeit und Liebe in das glaubhafte Arrangement des Dorfes und seiner Umgebung geflossen sein mögen, die nach Zugänglichmachung aller Areale zudem weitaus ausschweifender sind, als ich zunächst vermutete. Dass Bailu trotzdem nicht den Grad von Intimität erreicht, der insbesondere die Orte im ersten »Shenmue« auszeichnete, ist vor allem der wenig einprägsamen Gestaltung seiner Bewohner anzulasten. Unter den zahlreichen NPCs von »Shenmue III« ist vermutlich nicht ein einziger, der es mit den bis in die Nebenrollen denkwürdigen Figuren der Vorgänger aufnehmen kann. Mit Ausnahme der Beziehung zu Shenhua bietet uns das Spiel auch gar nicht die Möglichkeit, Bindungen zu anderen Figuren aufzubauen, wie es in »Shenmue II« noch möglich war.


Dass die zweite Lokalität, die am Li-Fluss gelegene Stadt Niaowu, im Vergleich zu Bailu deutlich abfällt, hat viele Gründe. Noch entschuldbar sind die technischen Holprigkeiten, die vermuten lassen, dass Geld und Zeit nicht reichten, um Niaowu den gleichen Feinschliff zu verpassen, den Bailu genoss. Die Framerate ist spürbar niedriger und die Ladezeiten zwischen den einzelnen Bereichen der Stadt verstecken die Entwickler hinter ziemlich absurden »No-Running«-Zonen. Trotzdem kommt Niaowu gerade in der Hafengegend, die unglücklicherweise den ersten Eindruck prägt, ausgesprochen leblos daher. Tatsächlich habe ich schon lange keine größere Stadt in einem Videospiel gesehen, die von so wenigen NPCs bevölkert war. Das bekam sogar »Shenmue II« besser hin.

Besonders negativ fällt allerdings die gedankenlose Art Direction auf, die zwar auch in Bailu einige seltsame Blüten treibt (schottischer Whiskey etwa wurde, wenn wir »Shenmue III« glauben, in chinesischen Bergdörfern der 1980er gern und viel getrunken). Doch Niaowu wirkt zu keinem Zeitpunkt wie ein glaubwürdiger Ort, und schon gar nicht wie eine chinesische Stadt der 1980er Jahre. Die kreativen Freiheiten, die »Shenmue« sich herausnimmt, wären dabei gar nicht grundsätzlich ein Problem, wenn sie denn einer kohärenten Ästhetik folgten: »Shenmue III« zeigt uns ein geschöntes und idealisiertes China, ein Land der Mythen und Legenden, das die Kulturrevolution und andere Verwüstungen nie erlebt hat – das aber gerade in Niaowu immer wieder von viel zu modernen und zu westlichen Elementen konterkariert wird.

Das Resultat wirkt, bei aller Schönheit, die ihm in Teilen doch innewohnt, kulissenhaft und falsch. Wie die chinesische Themenwelt eines Vergnügungsparks, oder wie eines dieser Ferien-Resorts, deren Architektur einen angeblich traditionellen Stil imitiert, die mit ihren hölzernen Fassaden tatsächlich aber Stahlbeton verkleiden. Und vielleicht wäre auch das noch vertretbar, wenn nicht die Vorgänger einen dezidiert anderen Ton gesetzt hätten und Yokosuka und Hongkong vor allem deshalb so realistisch und lebendig wirkten, weil sie unvollkommen waren: chaotisch, abgenutzt und manchmal hässlich. »Shenmue III« stellt deshalb einen Stilbruch auch innerhalb der Reihe dar, der zumindest meine »suspension of disbelief« so weit strapazierte, dass die Immersion regelmäßig zerbrach.


Enttäuschung

Wenn »Shenmue III« objektive Schwächen zeigt, dann lassen sich diese fast immer auf die Beschränkungen des Entwicklungs-Budgets zurückführen und selten auf genuin falsche Entscheidungen im Gamedesign. Da wären unter anderem die steifen Gespräche zu nennen, die kaum das Niveau der 20 Jahre alten Vorgänger erreichen. Mimik und Gestik der Figuren, aber auch der Schnitt und nicht zuletzt die Vertonung der Unterhaltungen machen selten eine gute Figur. Ich spielte bewusst mit englischer Sprachausgabe, da ich diese im ersten »Shenmue« sehr gelungen fand, doch selbst der aus dem Original bekannte Sprecher Ryos machte seinen Job seinerzeit besser. All das ist deshalb so ärgerlich, weil »Shenmue« eben kein Titel ist, in dem wir alle halbe Stunde einige zweckdienliche Sätze mit einem NPC wechseln, sondern ein narratives Spiel, das die Dialoge zwischen Figuren in den Mittelpunkt der Spielerfahrung stellt. Noch dazu ergeben manche Gesprächsverläufe schlicht keinen Sinn – also noch weniger als im ersten »Shenmue«, das bereits für einige Fälle von »lost in translation« bekannt war.

Exemplarisch für die Budget-Beschränkungen, aber auch für die allgemein manchmal zweifelhafte Art Direction sind auch Ryo und Shenhua. Obwohl ihre Charaktermodelle sehr viel detaillierter gestaltet sind, kann man den Eindruck bekommen, die Originalprotagonisten seien nach achtzehn Jahren zum Casting nicht mehr erschienen und kurzerhand durch einen Ryo-Roboter und einen Shenhua-Roboter ersetzt wurden, so emotionslos und distanziert sprechen und verhalten sie sich in den meisten Fällen. Das sabotiert nicht zuletzt ein zentrales Anliegen des Spiels: die Beziehung zwischen seinen beiden Protagonisten in den Mittelpunkt zu stellen, wie es über viele optionale Dialoge auch geschieht.

Eine große Enttäuschung ist aber auch die Handlung und wie sie erzählt wird: Es wirkt, als habe Yu Suzuki die wunderschönen und ausschweifenden Areale, die er hat kreieren lassen, so intensiv wie möglich nutzen wollen, und aus diesem Grund den dünnen Plot, der die längste Zeit des Spiels fast nicht vorankommt, auf ungefähr das Fünffache der Spielzeit ausgewalzt, die ihm angemessen gewesen wäre. Das führte nicht nur dazu, dass ich den Erkenntnissen Ryos und Shenhuas immer wieder weit voraus war, sondern reißt auch vollkommen unnötige Logiklöcher in die Erzählung. Statt Ryo und Shenhua den offensichtlichsten Fährten folgen zu lassen, schickt Suzuki das Paar immer wieder über eigentlich unlogische Zwischenstationen, bis Ursache und Wirkung kaum noch zueinanderpassen. Und nein, das gab es in diesen Ausmaßen in den Vorgängern nicht.


Gruß aus der Vergangenheit?

In Anbetracht seines serientypisch eigenwilligen Gameplays und der genannten Defizite erstaunt dann doch, dass »Shenmue III« von Presse und Spielern weitestgehend positiv aufgenommen wird. Auch im Vergleich zum fast zeitgleich erschienenen »Death Stranding«: Hier das vermeintliche Fossil aus einer anderen Zeit, das die nostalgischen Sehnsüchte einer Schar von Fans bediene; dort die vermeintliche Zukunft, die als AAA-Blockbuster vermarktet wird und über die Fachmedien hinaus Aufmerksamkeit auf sich zog.

Dabei vereint »Shenmue III« und »Death Stranding« mehr, als ein flüchtiger Blick vermuten ließe. Gemeinsam haben beide Spiele, dass sie sich (mit durchaus unterschiedlichen Ambitionen und grundverschiedenen Mitteln) den gegenwärtig herrschenden Mainstream-Konventionen entgegenstellen. Dass »Death Stranding« anders als »Shenmue III« die Häme geradezu anzieht, wird seiner größeren öffentlichen Exposition geschuldet sein, was bedeutet, dass das Spiel sich im Haifischbecken des notorisch unverständigen Mainstreams behaupten muss. Etablierte Formeln goutiert dieser üblicherweise leichter als avantgardistische Anwandlungen. Und selbstverständlich hat die polarisierende Persona Kojima ihren Anteil an dem Widerstand, den »Death Stranding« erfährt; steht er doch sehr häufig auch in solchen Rezensionen im Mittelpunkt, deren Autoren sich über den ihn umgebenden »Personenkult« echauffieren.

»Shenmue«-Schöpfer Yu Suzuki polarisiert da weitaus weniger. Doch auch »Shenmue« trägt seit jeher Züge eines Autorenwerks, und auch Suzuki versteht es, sich als Auteur seines Magnum Opus in Szene zu setzen. Er fungierte als Director, Producer und Writer der Vorgänger und erlaubte sich schon dort, seine Signatur im Vorspann der Spiele unterzubringen und auf diese Weise keinen Zweifel zu lassen, wer der kreative Kopf hinter »Shenmue« ist, an dem schon damals über 300 Leute mitgewirkt hatten. Natürlich war die Hype-Kultur vor 20 Jahren eine andere (was nicht heißt, dass es sie nicht gab) und die von Kojima praktizierte Form der Selbstinszenierung war ohne soziale Medien gar nicht denkbar. Doch gemessen an den Maßstäben ihrer Zeit waren »Shenmue« und Yu Suzuki 1999 mindestens genauso avantgardistisch, leicht verquer und in ihren technischen und inszenatorischen Ambitionen »cutting-edge« wie »Death Stranding« und Hideo Kojima heute.


»Shenmue III« wurde nun aber ganz anders wahrgenommen. Häufig ist zu lesen, dass es Entwicklungen der letzten 20 Jahre ignoriere und heutigen Erwartungen an das Medium nicht genüge, dass es ein antiquiertes Spiel auf dem Stand der frühen 2000er sei und eigentlich nur für Fans der Vorgänger so etwas wie Relevanz habe. Urteile dieser Art finden sich sogar in vielen eher positiven Rezensionen, auch wenn Shenmues vermeintliche Rückwärtsgewandtheit dort weniger als Schwäche, sondern als Stärke gesehen wird.

Doch ist »Shenmue III« tatsächlich ein Spiel im Geiste der Jahrtausendwende? Einerseits ja, denn in der Tradition seiner Vorgänger steht es allemal. Andererseits nein: Einzelne Aspekte und Design-Entscheidungen mögen in die Jahre gekommen sein und nicht bei allen war es angebracht, sie unverändert zu übernehmen. Allerdings ist es falsch zu glauben, dass »Shenmue« I und II repräsentativ für ihre Zeit gewesen wären. Zeittypisch war allenfalls ihre grundlegende Experimentierfreude und Unkonventionalität, in einer Epoche, die so unkonventionell und experimentierfreudig war, wie kaum eine andere in der Geschichte der Videospiele. Doch das, was an »Shenmue« (III) heute polarisiert, polarisierte weitestgehend auch damals schon und entsprach eben gerade nicht den Konventionen seiner Zeit. Ich erinnere mich, wie ich selbst noch Mitte der 2000er »Shenmue« I und II als zwar bedeutende (Kunst-)Werke betrachte – nicht aber als sonderlich gute Videospiele. Einfach, weil sie für mich viel zu wenig »Spiel« waren, um sie diesem Medium vorbehaltlos zuzurechnen.


Im (Wind-)Schatten: »Shenmue III« im Kontext unserer Zeit

Um die Bedeutung von »Shenmue« im Jahr 2019 zu verstehen, sollten wir uns deshalb nicht nur die Frage stellen, ob es nicht ohnehin positiv zu bewerten ist, dass »Shenmue III« sich manch einer »Errungenschaft« kontemporären Gamedesigns verschließt. Wir sollten uns auch fragen, ob die polarisierenden Eigentümlichkeiten der Reihe in unserer Gegenwart nicht eher akzeptiert sind, als es vor einigen Jahren noch der Fall war.

Das Spiel und seine Rezeption sind deshalb auch im Wechselspiel mit seinen Wegbereitern und Zeitgenossen zu sehen. Wobei die Reihe zunächst selbst Vorreiter war. Bereits im letzten Jahr beschrieb ich »Shenmue« als »Proto-Walking-Simulator«, als eine Simulation des kontemplativen Flanierens, die ein Genre vorwegnahm, das sich von etwa 2012 bis heute rapide entfalten sollte. Mittlerweile sind sogenannte »Walking Simulatoren« und die mit ihnen verwandten »narrativen Adventures« als Genre fest etabliert, haben kommerzielle Erfolge hervorgebracht und werden auch von der klassischen Spielepresse ganz selbstverständlich rezipiert. Sie sind deshalb der prominenteste Beleg für die Akzeptanz von Spielen, auch im Mainstream, die traditionelle Vorstellungen von Gameplay in den Hintergrund rücken, und das Erleben von Figuren, Geschichte und Spielwelt in den Vordergrund stellen.

Doch auch im AAA-Bereich selbst zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Mindestens eine Dekade lang war es Konsens, Big-Budget-Produktionen so risikolos wie nur möglich anzulegen. In letzter Zeit allerdings gelangen immer öfters gerade die Vertreter zu Ruhm, die besondere Experimentierfreude zeigen und den Mut haben, ihr Publikum mit ungewohnten Gamedesign-Entscheidungen zu konfrontieren. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung tat bereits im letzten Jahr »Red Dead Redemption 2«: Nicht einmal, weil es besonders radikal von etablierten Formeln abgewichen wäre, denn den meisten Open-World-Konventionen folgte es auch weiterhin. Entscheidender war, dass bei »Red Dead Redemption 2« ein gewisser, immerhin überdurchschnittlicher Mut auf ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit traf. Auf diese Weise gelang es Rockstar, eine ungewohnt entschleunigte und schwerfällige Spielerfahrung auf ein Massenpublikum loszulassen, die einem weniger privilegierten Spiel leicht das Genick gebrochen hätte.

»Shenmue III« hingegen wurde schon vor seinem Release in eine Nische gesteckt, die üblicherweise reserviert ist für Titel, die vermeintlich nicht mehr zählen. Mehr als einen mehr oder weniger gelungenen, sicherlich aber rückwärtsgewandten Nachfolger für Fans der Serie erwartete eigentlich niemand. Fast zeitgleich mit »Death Stranding« erschienen, stand »Shenmue III« in dessen Schatten und wurde von manchen Publikationen erst einige Zeit nach seiner Veröffentlichung besprochen. Dass es dann aber doch so wohlwollend und – man kann es wohl so sagen – verständig rezipiert wurde, lässt sich mit einem Indie-Bonus allein kaum erklären. Ich glaube vielmehr, dass es die Umstände sind, die es gut mit »Shenmue III« meinen: Dass es zwar im Schatten, aber eben auch im Windschatten von »Death Stranding« stand und rezipiert wurde. Denn wie auch sollte man »Shenmue III« gerade die Dinge zum Vorwurf machen, die man an »Death Stranding« noch gelobt hat?

So haben so unterschiedliche Titel wie »Dear Esther«, »Life Is Strange«, »Red Dead Redemption 2« und »Death Stranding« ein Klima geschaffen, in dem ein Spiel wie »Shenmue III« plötzlich gar nicht mehr so eigenartig wirkt, wie es zehn Jahre zuvor vielleicht noch gewirkt hätte. »Shenmue III« ist – und das meine ich durchaus als Kompliment – nicht länger »seiner Zeit voraus«. Es ist das richtige Spiel zur richtigen Zeit und trifft auf eine Öffentlichkeit, die anders konditioniert ist und Verständnis zeigt für das, was Yu Suzuki mit seiner Reihe erreichen möchte. Crowdfunding hin oder her, womöglich kommt es nicht von ungefähr, dass »Shenmue III« gerade 2019 Realität geworden ist, und nicht etwa schon 2009.

Natürlich werden sich auch weiterhin die Geister scheiden, ob die »Shenmue«-Reihe nun eine bewusstseinserweiternde Erfahrung oder einfach langatmig und langweilig ist. Dieser Widerspruch kann und braucht hier auch gar nicht aufgelöst zu werden. Doch egal, welchen Gewinn man für sich persönlich aus der Reihe zieht, kann man sich vielleicht dem Gedanken gegenüber öffnen, dass »Shenmue III« nicht einfach ein nostalgisches Retro-Game ist, das eigentlich ins Jahr 2003 gehöre. Sondern ein für unsere Zeit durchaus typisches Spiel, das gemeinsam mit seinen Wegbereitern und Brüdern im Geiste zeigt, wohin die Reise gehen mag. »Shenmue III« ist nicht zuletzt für solche Spielerinnen und Spieler einen Blick wert, die in der Vergangenheit lieber Arcadia Bay als Liberty City erkundeten, die in der Entschleunigung von »Red Dead Redemption 2« das größte Plus gegenüber anderen Open-World-Spielen sahen, oder in Ubisofts letzten Assassinen-Epen vor allem die Discovery Tours genossen.


Fazit

»Shenmue III« ist ein gutes Spiel. Es ist in der Tat ein erstaunlich gutes Spiel, wenn man sich vor Augen führt, mit welchen Herausforderungen und Limitierungen seine Entwickler zu kämpfen hatten. Dass es gelungen ist, die meisten dieser Herausforderungen zu absolvieren und eine seit zwei Jahrzehnten ruhende Reihe so kompetent und bruchlos fortzusetzen, ist ein Erfolg. Dass »Shenmue III« gerade in der Fortführung einiger seiner Kernkompetenzen versagt, weniger. Kurz vor Release prophezeite ich noch, »Shenmue III« stehe und falle mit seiner Erzählung und seinen Figuren, und wenn ich mir diese Aspekte von »Shenmue III« nun anschaue, muss ich leider konstatieren: Es fällt. Dass es nicht ins Bodenlose fällt, hat es seinen meist wunderschönen Schauplätzen und dem noch immer unverbrauchten China-Setting zu verdanken. Dass es andererseits in der Darstellung der chinesischen Kultur vor immersionsbrechenden Anachronismen nur so wimmelt und »Shenmue III« in seiner Darstellung der 1980er Jahre auf ganzer Linie scheitert, oder sich noch nicht einmal viel Mühe gibt, ist für mich die größte Enttäuschung im Vergleich zu den Vorgängern. Und deshalb soll der Schlusssatz auch lauten: Über das Chinabild von »Shenmue« wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein. [sk]


Diese Kritik erschien zuerst im Dezember 2019 in Ausgabe #12 des GAIN Magazins. Ein Rezensionsexemplar wurde mir bzw. dem GAIN Magazin vom Hersteller zur Verfügung gestellt.

Für die aktuelle Print-Ausgabe #13 des GAIN-Magazins schrieb ich auf acht Seiten den ersten Teil eines groß angelegten Features über weibliche Protagonistinnen in den First-Person-Shootern der 1990er und frühen 2000er Jahre. Das Heft kann auf gain-magazin.de bestellt werden.


Shenmue III
Entwicker: Ys Net / Publisher: Deep Silver
19. November 2019
PlayStation 4, Windows PC (Epic Games Store)
Director, Producer, Writer: Yu Suzuki, et al.
Composers: Ryuji Iuchi

Quelle Bilder: eigene Screenshots.