Ein Gastbeitrag von Mario Donick
Es gibt zwei Spieleserien, zu denen ich immer wieder zurückkomme: Bethesdas »Elder Scrolls«-Reihe und Egosofts »X«-Serie. Grund dafür sind die offenen Spielwelten, die ich vor allem aus atmosphärischen Gründen aufsuche.
Der Bürgerkrieg in »Skyrim« interessierte mich schon immer nur sekundär, und auch die nie endenden Bedrohungen in »Elder Scrolls Online« gebe ich mir nur in homöopathischen Dosen. Lieber schaue ich mir die Landschaft an und installiere Mods für noch mehr Landschaft zum Anschauen. Ich lese Lore-Bücher und schreibe fiktionale Tagebucheinträge meiner explizit nicht als Held*innen gedachten Figuren. Die Weltraumschlachten in Egosofts »X«-Serie schaue ich mir zwar gerne aus der Ferne an, streife aber ansonsten lieber einsam durch das All, erfreue mich an hübschen Planeten und Nebeln oder gucke als »Planespotter« in Raumstationen Schiffen beim Starten und Landen zu.
Statt im Sinne der intendierten Spielmechanik zu spielen, nutze ich also die vom Spiel gezeigten Welten als Ressource, um meine Fantasie anzuregen; die Geschichte spielt sich dann eher in meinem Kopf oder einem Notizbuch ab als im Computer. Auch das ist Spielen, aber anders.
Ein Spiel der »Elder Scrolls«-Serie, »Daggerfall«, hat mich zwar schon früher interessiert. Doch erst seit das Freeware-Projekt »Daggerfall Unity« in einem spielbaren Zustand ist (die Alpha 0.10.20 ist stabil, bugfreier als es das originale »Daggerfall« je war und im Wesentlichen vollständig), habe ich darin viel Zeit versenkt. Dies liegt nicht zuletzt an Mods, die aus dem alten Pixelbrei mit gefühlter 5-Meter-Weitsicht und generischer, stets gleich flacher Landschaft ein recht hübsches Spiel machen. Ein Mod hat es mir ganz besonders angetan: »Distant Terrain«. Die Performance geht damit zwar in den Keller – aber plötzlich kann man die Küstenlinien erkennen, die man sonst nur von Landkarten kannte und am Horizont tauchen echte Berge auf. Dadurch gibt es immer wieder interessante Kontraste von Flachland und Gebirge, die man vor allem zu Fuß erkunden kann.
Dabei fügt »Distant Terrain« der originalen Spielwelt gar nichts Neues hinzu. Stattdessen nutzt es die Leistungsfähigkeit heutiger Computer, um aus den bereits damals vorhandenen Daten alles herauszuholen. Denn »Daggerfall« kam schon bei Release mit einem Höhenmodell der Iliac Bay, das aber von der Engine nicht dargestellt wurde. In »Daggerfall Unity« mit dem »Distant Terrain«-Mod ist dies nun möglich. Der vorher endlos weite, aber auch endlos langweilige Raum wird nun in distinkten Orten erkundbar, an die man sich erinnern kann – die man sogar liebgewinnen kann und die man darum bewusst erneut aufsucht, weil sie eine spezifische Atmosphäre erzeugen.
Die Begriffe »Raum« und »Ort«, oder in der englischen Literatur »space« und »place«, drücken aus, dass wir uns Räume immer erst aneignen; dass wir sie durch eigenes Handeln und Erleben mit Bedeutung aufladen. Man kann dies gut beim Umzug in eine neue Stadt erkennen. Ich komme ursprünglich aus einer Kleinstadt, habe dann aber lange Zeit in Rostock gelebt, unterbrochen durch eine Zeit in Kiel, und seit fünf Jahren bin ich nun schon in Magdeburg. Das sind alles Städte so um die 200.000 bis 250.000 Einwohner, kein Vergleich zu echten Großstädten. Und dennoch wirkte jede von ihnen im ersten Moment wie ein großer, nicht erschlossener Raum auf mich. Erst das schrittweise Erkunden, allein oder mit anderen Menschen, teilte den Raum in handhabbare Teile auf, die irgendwann eine Bedeutung für mich erhielten. Der Raum wurde zum Ort.
Ähnlich geht es mir in Open-World-Spielen. Zuerst ist da der unerschlossene Raum – und nicht immer lässt er sich erschließen. Dies lässt sich gut mit dem Begriff des »Nicht-Ortes« des französischen Anthropologen Marc Augé beschreiben (vgl. Augés gleichnamiges Buch). Ein Nicht-Ort ist nach Augé ein Platz, den wir nur aufsuchen, um dort etwas zu erledigen, an dem wir aber nicht um seiner oder unserer selbst willen verweilen. Typische Nicht-Orte sind Bahnhöfe, Autobahnraststätten oder in jeder Stadt gleich aussehende Shopping-Malls. Sie sind gesichtslose Durchgangsstationen, sie haben keine Bedeutung außer ihrer Funktion. Dies trifft auch auf »Daggerfall« zu.
Neue Spieler*innen sind heute immer noch beeindruckt, wenn sie hören, dass »Daggerfall« ungefähr die Ausdehnung Englands habe – und dann oft enttäuscht, wenn sie merken, dass das völlig egal ist, weil das Spiel ohnehin überall gleich aussieht und man sowieso nur per Schnellreise von einem anonymen Ort zum nächsten oder von einem Zufallsdungeon zum anderen hüpft. Wo man sich im »Daggerfall«-Raum aufhält, ist nicht wichtig, und irgendwann kriegt man das auch gar nicht mehr richtig mit. Der Aufenthalts-»Ort« der Spielfigur ist ein Nicht-Ort im Sinne Augés. Er ist es nicht nur, weil er generisch aussieht, sondern auch, weil die Aktivitäten, die man an ihm vollführt, austauschbar sind – die Quests in »Daggerfall« sind zufällig generiert und damit genauso generisch wie die Landschaft.
Ein modifiziertes »Daggerfall Unity« wirkt dem entgegen. Neben »Distant Terrain« gibt es andere Mods, die Plätze spezifischer werden lassen: die Dungeons persistent machen (statt dass sie jedes Mal neu generiert werden, wenn man sie aufsucht); die das Innere von Tavernen und Gasthäusern ausgestalten; oder die es erlauben, das eigene Haus mit Gegenständen zu dekorieren. Ein Spiel, das zuvor ein viel zu weiter Raum war, gewinnt durch die Arbeit von Modder*innen an Charakter: Es macht dann mehr Spaß, seine Welt zu erkunden und in dieser Welt virtuell heimisch zu werden.
Die Kategorien Raum, Ort und Nicht-Ort können wir auf jede Art von Open World anwenden. Wagen wir einmal den Sprung in den Weltraum. Egosofts »X«-Serie, die 1999 mit »X: Beyond the Frontier« ihren Anfang nahm, ist eine Mischung aus Elite und Wirtschaftssimulation. Man fliegt mit dem eigenen Raumschiff, treibt Handel, kontrolliert ganze Flotten, kämpft gegen Piraten und feindselige Roboterraumschiffe (Xenon) und schließlich baut man eigene Stationen und Handelsketten auf.
Den Weltraum zumindest virtuell zu bereisen, ist für viele Spieler*innen die Annäherung an einen Traum; das zeigen auch die Crowd-Funding-Erfolge von »Elite Dangerous« und »Star Citizen«. Dabei ist der reale Nachthimmel, den wir uns vom Balkon aus anschauen, ein Bezugspunkt – das Spiel erlaubt es uns, »dahin« zu reisen. Wie konkret das jedoch wird, ist von Spiel zu Spiel unterschiedlich.
Typisch für die »X«-Spiele ist die Aufteilung des dargestellten Universums in Sektoren. Anders als »Elite« (wo man stets weiß, bei welchem Stern man sich gerade befindet, und wie die Planeten drumherum angeordnet sind), stellt die »X«-Serie keine Zuordnung der Spielwelt zu konkreten Sternen her. Mal kann ein Sektor zu einem Stern gehören, mal gehören zu einem Stern mehrere Sektoren, so genau ist das nicht erkennbar. Von Sektor zu Sektor bewegt man sich durch Übergangspunkte. Oft sind das Hyperraum-Sprungtore, aber es gibt auch Orbitalbeschleuniger und, für Ungeduldige, »Superhighways«, eine Art Weltraum-Autobahn. Die Art des Übergangspunkt ist ein Hinweis auf die Struktur der Spielwelt: Ein Sprungtor führt tendenziell in ein anderes Sternensystem, ein Orbitalbeschleuniger eher zu einem anderen Platz innerhalb desselben Systems. Ein Superhighway verbindet Punkte innerhalb eines Sektors, es gibt aber auch Highways, die Sektorengrenzen überwinden.
Auch im neuesten Teil der Serie, »X4: Foundations« (2018, aktuell ist Version 3.0 beta, die stabil und gut spielbar ist), ist es nicht möglich, von einem Sektor zum anderen zu fliegen, ohne durch einen Übergangspunkt zu gehen. Flöge man einfach das Raumschiff in die entsprechende Richtung, dann würde man sich zwar innerhalb des Sektors endlos weit bewegen, den Sektor aber nie verlassen. Es ist auch nicht möglich, auf Planeten zu landen, und es wird generell kein Warenverkehr oder Austausch mit Planeten gezeigt. Sie sind zwar da, spielen aber keine Rolle.
Dies alles beeinflusst die Raum- und Ortswahrnehmung. Der Raum, in dem sich die Spieler*innen bewegen, ist nicht der Realität nachempfunden, sondern eine Abstraktion, die Gameplay-Zwecken dient. Dass dieser abstrakte Raum trotzdem nicht beliebig wirkt, liegt an seiner visuellen und narrativen Ausgestaltung. Typisch für die »X«-Serie sind Sektorbeschreibungen, also kurze Texte über die Geschichte des Sektors. In »X4« werden zudem Daten zu Planeten, Monden und Bevölkerungszahl sowie Grafiken zur aktuellen Wirtschaftslage angezeigt, und man kann im All verstreute Datenlecks finden, die in kurzen Videos die Geschichte des Universums erzählen. Obwohl man also spielmechanisch als Spieler*in nur die Wirtschaftsdaten beeinflussen kann, bilden die Texte, Videos und Daten doch einen Hintergrund, der beim Durchfliegen des abstrakten Raums das langsame Entstehen eines Ortsbewusstseins erlaubt.
Unterstützt wird dieser Eindruck im Spielverlauf durch die Entstehung und Vernichtung von Gameplay-relevanten Elementen; das sind vor allem die Raumstationen und Raumschiffe der anderen Völker. Einmal lief ich durch ein komplett leeres Dock einer Raumstation – normalerweise ein lebhafter Ort, wo ständig Schiffe landeten und starteten, Durchsagen informierten, dass die kleine Susi immer noch ihre Eltern sucht (ein Running Gag seit dem ersten Teil der Serie), und NPCs Wartungsarbeiten an gelandeten Schiffe vornahmen. Normalerweise wäre so eine Station ein typischer Nicht-Ort im Sinne Augés – geschäftig aber austauschbar. Aber vor dem Kontext der Leere des Alls wird so eine Station neben dem eigenen Raumschiff zum einzigen Ort, der überhaupt denkbar ist.
An jenem Tag jedenfalls war alles still. Gespenstisch fast. Ich schaute auf Übersichtskarte. Offenbar hatte in der Zeit, in der ich in der Raumstation herumgelaufen und im Raumanzug drumherum geflogen war, und aus allen möglichen Perspektiven Screenshots gemacht hatte (immerhin fast eine Stunde echter Spielzeit), ein großangelegter Angriff der Xenon begonnen, der nicht nur alle militärischen Schiffe band, sondern auch den normalen Handelsverkehr zum Erliegen brachte. Es dauerte nicht lange, bis die Station selbst angegriffen wurde, sodass ich beschloss, den Sektor zu verlassen und friedlichere Gefilde aufzusuchen. Meinen anderen Handelsschiffen befahl ich dasselbe. Doch vom Gameplay-Aspekt abgesehen (ich wollte ja nicht »sterben« und nicht meine teuren Schiffe verlieren) fand ich vor allem schade, dass diese Station wohl bald von den Xenon vernichtet würde. Der Ausblick auf den Planeten, den ich dort so lange genossen hatte, wäre dann nicht mehr möglich.
In dem Moment erkannte ich, dass diese Station für mich kein abstrakter Gameplay-Raum mehr war, sondern die Art von virtuellem Ort, den ich in Open-World-Spielen suche. Die leere Raumstation wurde plötzlich sinnhaft. Sie war nicht nur eine von mehreren ähnlichen Stationen, sondern jetzt diese eine Raumstation, die ich nun mit einem bestimmten Ausblick und einer bestimmten Geschichte verband. Diesen Ortscharakter gewann sie aber erst für mich, als sie angegriffen wurde und ich sie verlassen musste.
Das Beispiel zeigt, dass auch für einen Walking-Simulator-Spieler wie mich das Gameplay um mich herum von großer Bedeutung ist, obwohl ich es an sich oft ignoriere. Doch es macht die Welt, durch die ich wandere, erst lebendig. Gerade ein Spiel wie »X4«, dessen Universum sich weiterbewegt, ohne dabei auf Drehbücher zu setzen, kann Geschichten entstehen lassen, durch die Räume zu Orten werden.
Besser geht sowas wohl nur in einem Multiplayerspiel, wo die Spieler*innen selbst ihre Geschichten machen. »EVE Online« ist dafür ein Beispiel, spricht aber durch seinen PvP-Charakter nicht jede*n an.
»Star Citizen« hingegen … deine schon jetzt begehbaren Planeten … ach, wann wirst du wohl fertig sein…?
Der Autor: Mario Donick
Gastautor Mario Donick erkundet gerne Open-World-Landschaften, ob auf Fantasy-Planeten oder im Weltall. Ansonsten schreibt er Texte über Menschen und Technik. 2019 erschien sein Sachbuch »Die Unschuld der Maschinen«; Ende 2020 erscheint in der Reihe »Über/Strom« (ueberstrom.net) sein Buch darüber, was uns Computerspiele über das Leben beibringen.
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Ahhhh, ich wollte hier schon längst kommentieren!! Heute auf die To-do-Liste gesetzt und jetzt also auch endlich in Angriff genommen.
Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel, der einerseits sehr persönlich und andererseits auch sehr informativ ist!
Die Verbindung zu Augés „Nicht-Ort“ gefällt mir hier sehr gut, insbesondere in Kombination mit der Abgrenzung zu sinnhaften / subjektiv bedeutungvollen Orten. Mich hat das sehr berührt, was du über die Raumstation und die Aussicht schriebst. Ich habe den Artikel schon vor einigen Tagen gelesen und jetzt beim Re-Visit ist mir dieses Bild sofort wieder eingefallen – da ist wirklich was hängen geblieben!
Auch finde ich es wunderbar, dass du fiktionale Tagebucheinträge schreibst und dir die Spiele so auf eine ganz individuelle Weise zu eigen machst. Eine wirklich schöne Idee – toll, dass du sie hier teilst und vielleicht den Ein oder Anderen ganz „nebenbei“ da auf eine Idee bringst. :) Und vielleicht gibt es ja irgendwo mal einen Rahmen, wo du so einen fiktionalen Tagebucheintrag (oder gar mehrere?) veröffentlichst? Ich wäre jedenfalls sehr neugierig darauf!
Viele Grüße,
Jessica
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