Sprechen wir heutzutage von „kleinen“ Spielen, dann meinen wir damit meist Titel mit eher bescheidenden Produktionswerten: unabhängige Entwicklungen von kleineren Entwicklerteams, die sehr häufig allerdings genauso einen Umfang von mehreren Dutzend Spielstunden haben und aus dieser Perspektive alles andere als „klein“ sind. Das Gegenteil davon, dass nämlich mit den Produktionsmitteln einer Triple-A-Entwicklung eine in jeder Hinsicht „kleine“ Geschichte erzählt wird, ist dagegen äußerst selten. Dontnods The Awesome Adventures of Captain Spirit ist so ein Spiel – und ein kostenloses noch dazu. Ursprünglich als Appetizer für Life Is Strange 2 gedacht, überzeugt es genauso gut als eigenständiges Werk. Und das liegt am heimlichen Star des Spiels: dem Elternhaus seines Protagonisten.


„Man ‚liest ein Haus‘, man ‚liest ein Zimmer‘, denn Zimmer und Haus sind Diagramme der Psychologie“, erkannte schon Gaston Bachelard in seinem berühmten Werk über die „Poetik des Raumes“ (1957). Der Philosoph erklärt: „Das Haus wird uns gleichzeitig verstreute Bilder und einen Korpus von Bildern liefern. […] Denn das Haus ist unser Winkel der Welt. Es ist – man hat es oft gesagt – unser erstes All. Es ist wirklich ein Kosmos. Ein Kosmos in der vollen Bedeutung des Wortes.“

In einen solchen Kosmos, seinen Kosmos, entführt uns auch der Held aus Captain Spirit, der neunjährige Chris Eriksen, dem wir zuerst am Schreibtisch seines Kinderzimmers begegnen. Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits eine kurze Reise hinter uns, die uns durch die Wipfel schneebedeckter Nadelbäume in die Ausläufer einer kleinen Siedlung führte, zu einem schlichten, eingeschossigen Haus, das still und unscheinbar im Schnee liegt, unbewegt bis auf den Rauch, der gleichmäßig aus dem Schornstein aufsteigt und in seinen Rußpartikeln das Versprechen von Leben, Wärme und Geborgenheit in die kühle Winterluft trägt.

Das Auge der Kamera fokussiert sich schließlich auf ein einzelnes Fenster des Hauses, auf ein Zimmer, in dessen Innerem wir uns in der nächsten Einstellung wiederfinden und das sich sofort als Kinderzimmer zu erkennen gibt: bunt und vollgestopft mit Spielsachen, akustisch untermalt vom „Vroom“ und „Woosch“ der Stimme eines spielenden Kindes, empfängt uns der Raum mit einer Heimeligkeit, die durch den hinter der Fensterscheibe ausgesperrten Schnee nur noch verstärkt wird. „What is this planet? – I don’t know, we’ve never been here before… – Maybe we’re on the edge of the universe!“, klingt das Gespräch zweier Plastikfiguren.

So entfaltet sich vor uns das Bild einer augenscheinlich sorgenfreien, uneingeschränkt glücklichen Kindheit, ein aus medialen Darstellungen vertrautes Ideal, das vom Spiel gerade so lange aufrechterhalten wird, dass wir uns in Sicherheit wiegen. Einen Augenblick später wird die Normalität auch schon gebrochen – als Chris, der in seiner Vorstellung Captain Spirit ist, das Spielzeugraumschiff auf seinem Schreibtisch allein mit der Kraft seiner Gedanken in den Schwebezustand versetzt. Eine Kraft, die wir in einem Spiel, das sich als Prolog des Nachfolgers von Life Is Strange inszeniert, ohne großen Widerwillen akzeptieren.

Doch wir wurden getäuscht: Es war die Beschränktheit der Bildausschnittes, die uns die Hand nicht sehen ließ, mit welcher Chris das Heck des Raumschiffs festhielt und in die Lüfte hob. Von Schall und Rauch geblendet – der expressiven Bewegung der zweiten, scheinbar telekinetisch veranlagten Hand sowie den vokalen Bekundungen mühevoller Konzentration – erlagen wir wie bei einem Zauberstück der Illusion. Mit schöneren Worten: Wir durften einige Sekunden lang an der kindlichen Vorstellungswelt teilhaben, so lange zumindest, bis eine kleine Korrektur der Perspektive uns dieser Illusion beraubte.

Schein und Sein, Vorstellungskraft und Wirklichkeit, Wunsch und Realität; innerhalb der ersten Minuten etabliert das Spiel eine Reihe von Motiven, denen wir im Spielverlauf noch häufiger begegnen werden. Möglich wird dieses Spiel mit unserer Wahrnehmung und unseren Erwartungen, weil wir Chris nicht auf dieselbe Weise verkörpern, wie es bei Max und Chloe der Fall war, deren Gedanken und Geheimnisse stets offen vor uns lagen. In Chris‘ Leben sind wir ein zufälliger Gast, ein Besucher, dem sich die tieferen Regionen des kindlichen Kosmos erst nach und nach erschließen.


Exkurs: Life Is Strange

Schon Life Is Strange (2015) verstand es sehr geschickt, mit Räumen und Orten Emotionen zu vermitteln und dem Innenleben seiner Figuren eine materielle Entsprechung zu geben, in der die Lebenswelten der Figuren räumlich erfahrbar wurden. Besonders eindrucksvoll gelang diese charakterbezogene Form des „Environmental Storytelling“ in den Räumen des Studentenwohnheims, wo die Protagonistin Max sowie ihre Klassenkameradinnen Victoria, Kate und Dana ihre Zimmer haben. Die kleinen Einzelzimmer fungierten dabei als verdichtetes Spiegelbild der Lebenswelten und nicht zuletzt des Seelenlebens der einzelnen Figuren. Auf diese Weise durften wir die Figuren mit einem Grad von Intimität erkunden und „erleben“, der als konventionelle Exposition enorme Mengen and Dialog und Handlung erfordert hätte, und konnten überdies die Tiefe und die Geschwindigkeit des Kennenlernens selbst wählen.

Diese „Verräumlichung“ von Psyche passte ideal zu einem Medium, das sich nach wie vor vor allem auf kinetische Möglichkeiten der Interaktion versteht; sie nährt sich vom Entdeckerdrang der Spieler und resultiert in einer immersiveren, deshalb auch eingängigeren Beschäftigung mit den Figuren, als statische Kulissen oder Videosequenzen es könnten.

Doch so effektiv und ökonomisch diese Methode als Mittel zur Charakterisierung auch ist, sollte uns bewusst sein, dass wir es dabei nicht mit einer realistischen Beziehung zwischen Raum und Persönlichkeit zu tun haben, sondern mit einem narrativen Kniff, einer zweckdienlichen Vereinfachung im Dienste des Kunstwerks. Es wäre naiv davon auszugehen, dass sich die Persönlichkeit eines realen Individuums, insbesondere sein Inneres und seine bewusst verborgenen, weil dunklen oder allgemein missbilligten Seiten, stets in einer äußerlichen Entsprechung sichtbar wiederfänden, noch dazu konzentriert auf einen einzelnen Raum von überschaubarer Größte.

Nicht zuletzt weil die Entsprechung zwischen Zimmer und Psyche in Life Is Strange so absolut ist, haftete unseren Erkundungen der virtuellen Zimmer, die meist in Abwesenheit ihrer Bewohner stattfanden, etwas unangenehm Übergriffiges an, ein Unrechtsgefühl, das uns in der Realität von solchen Besuchen wohl abhalten würde. Es war ein Eindringen in die Privatsphäre und ein Überschreiten von Grenzen, das uns intimste Geheimnisse einer Person offenbarte und in Life Is Strange leider nicht näher thematisiert wird. Im Gegenteil, als Folge der Zeitreise-Option des Spiels wurden unsere Erkundungen mit einer absoluten Konsequenzlosigkeit dargestellt und auf diese Weise (und im Kontrast zur Zeitreise) vollkommen normalisiert: Der „gute Zweck“ heiligt in Life Is Strange die Mittel.

Life Is Strange, aber auch sein Prequel Before the Storm (2017), respektieren die Intimsphäre und die persönlichen Räume ihrer Figuren selten. Umso bemerkenswerter ist es, mit welcher Sensibilität Captain Spirit gerade diese Themen in den Mittelpunkt rückt und viel Verständnis und Fingerspitzengefühl beweist, für die unterschiedlichen Abstufungen des Privaten, sowie die sichtbaren und unsichtbaren Demarkationslinien, die den sozialen und privaten Raum durchziehen und die wir von hier an erkunden wollen.


Die Phänomenologie von Captain Spirit
I. Schein und Sein im Kinderzimmer

Das Kinderzimmer des Protagonisten ist der erste „Raum“ des Spiels, den wir selbst erkunden dürfen. Im Monolog mit sich selbst kommentiert Chris für uns seine Habseligkeiten und gewährt uns damit Einblick in sein Leben und seine Gedanken. Mit einigen Gegenständen dürfen wir interagieren, das heißt spielen, und dürfen dabei etwa entscheiden, ob die Helden in den von Chris imaginierten Kämpfen den Bösewichten gegenüber erbarmungslos oder eher vergebungsvoll sein sollen – nicht ahnend, dass auch diese vermeintlich unschuldigen Spiele ein Ausdruck von Chris‘ konfliktreichem Seelenleben sind: aus Gedanken und Erinnerungen hervorgegangene Tagtraumbilder, in denen er den einschneidendsten Verlust seines Lebens verarbeitet.

Dass Chris‘ Kosmos größer und komplexer ist, als die weichgezeichnete Vignette seines Kinderzimmers uns glauben machen wollte, erleben wir nach etwa 15 Minuten. Die Stimme des Vaters, der uns mit knappen Worten zum Frühstück ruft, dringt in die Abgeschlossenheit des Zimmers und bricht das vergnügte Alleinsein. Es liegt zunächst bei uns, ob wir dem Ruf des Vaters folgen, ob wir ihn mit einer knappen Antwort auf ein Gleich vertrösten oder ganz ignorieren und uns weiter mit unseren Spielzeugen beschäftigen. Unmöglich haben wir zu diesem Zeitpunkt bereits alle Gegenstände und Winkel des Kinderzimmers erkundet, sodass die Aufforderung des Vaters notwendigerweise auch unser Tun unterbricht – das Spielertun, das uns sagt, dass hinter einer Aufforderung uns zu beeilen in Videospielen nur selten eine tatsächliche Dringlichkeit steht, und ein Areal möglichst erschöpfend erkundet werden sollte, bevor wir voranschreiten.

Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir eine zweite, eine dritte, zunehmende ungeduldigere Aufforderung provozieren. Der vierte Ruf jedoch ändert das. Die Bitte des Vaters ist zum Befehl geworden – und mit einer Drohung verbunden, die Gewalt nicht ausschließt. Was als einladendes Anklopfen an den vermeintlich sicheren Raum unseres Protagonisten begonnen hatte, ist zu einem zumindest verbal gewaltsamen Eindringen in die Intimsphäre des Kinderzimmers geworden. Der Zauber ist gebrochen, die Autorität des Vaters stärker als die Lust am Spiel. Zwar dürfen wir noch immer kontrollieren, wohin sich Chris bewegen soll, können aber mit keinem einzelnen Ding im Kinderzimmer mehr interagieren. Uns bleibt schließlich nichts anderes übrig als die letzte noch verbliebene Handlungsoption zu nutzen und das Zimmer zu verlassen.


II. Shared Space: Küche und Wohnzimmer

Betreten wir also den zweiten Raum des Spiels. Der Kontrast ist deutlich – auf das farbenfrohe Kinderzimmer folgen das Grau und Braun einer kargen und abgenutzten Küche. Die Situation ist allerdings entspannter, als die letzte Aufforderung des Vaters es erwarten ließ, der anfängliche Ärger ist schnell verflogen. Im folgenden Gespräch am Frühstückstisch, es dauert kaum fünf Minuten, etabliert das Spiel viel von der Komplexität der Beziehung zwischen Vater und Sohn – sowie die Abwesenheit der Mutter, die sich im Spielverlauf immer mehr als die Folge eines tödlichen Verkehrsunfalls herauskristallisiert, und unter der Chris und sein Vater auf sehr unterschiedliche Weise leiden. Etwa verlor der Vater, Charles, seine Arbeit oder gab sie auf, konnte sich das alte Zuhause nicht mehr leisten, und zog mit Chris in das jetzige Haus um.

Bei alledem ist der Umgang zwischen Vater und Sohn liebevoll, wenn auch nicht frei von Spannungen. Alkohol ist eine dieser Spannungen, die Chris etwa vor die Entscheidung stellt, ob es seinem Auskommem mit dem Vater eher dient, ihm wie gewünscht noch eine Dose Bier zu bringen oder es sein zu lassen. Kurz wird auch eine Verletzung an Chris‘ Arm angesprochen, bei deren Betrachtung sein Vater sich entschuldigt; aber weitere Details erfahren wir nicht. Schließlich würde Chris den freien Samstag gern damit verbringen, mit seinem Vater wegzufahren um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Charles ist einverstanden, möchte zuvor aber die Aufzeichnung eines Basketballspiels schauen. Mit einer Flasche Whiskey an seiner Seite setzt sich er schließlich vor den Fernseher, sein Sohn bleibt in der Küche zurück.

Immerhin, es ist Samstagmorgen und Chris ist frei, zu tun und zu lassen was er möchte. Für uns beginnt damit das eigentliche Spiel. Eine Open World im Miniaturformat tut sich vor uns auf, die ganze Topographie des Hauses. Der eingangs erwähnten Phänomenologie Gaston Bachelards folgend, seiner „Poetik des Raumes“, wollen wir diesen Kosmos nun, Raum für Raum, betrachten.

So hat der Raum, in dem wir uns im Augenblick befinden, zwei hervorstechende Eigenschaften. Die erste ist seine Zentralität: Die Eingangstür des Hauses führt direkt in diesen Raum, wie auch alle anderen Zimmer des Hauses (elterliches Schlafzimmer, Kinderzimmer, Badezimmer und Boilerraum) von diesem zentralen Zimmer aus direkt erreichbar sind. Hier also kreuzen sich Wege und Gedanken, hier häufen sich die Konflikte. Auch deshalb ist dieser Raum, und das ist seine andere hervorstechende Eigenschaft, ein „shared space“, ein gemeinsamer Raum. Er ist einer der wenigen Räume im Haus der Eriksens, die Vater und Sohn gleichermaßen bewohnen – für sich beanspruchen und zu einem gewissen Grad auch umkämpfen. Er ist deshalb auch ein geteilter Raum. Räumlich geteilt entlang einer Linie, die von der Eingangstür zum Badezimmer verläuft, mit der Küche zur Linken und dem Wohnzimmerbereich zur Rechten, wo der Vater nun Basketball schaut und Alkohol trinkt, und wo Chris nicht gerade willkommen ist: Gesprächsversuchen begegnet Charles mit Teilnahmslosigkeit, bald Verärgerung. Zumindest im Moment ist das Wohnzimmer der „sichere Raum“ des Vaters, das Äquivalent zu Chris‘ Kinderzimmer also, auch wenn die eigentlich ersehnte Ruhe und Abgeschiedenheit hier kaum wirklich gegeben ist.


III. Boilerraum und Baumhaus

Chris muss sich also allein beschäftigen. Sollten wir uns entscheiden, uns um die Hausarbeit zu kümmern, die anderenfalls wohl keine Erledigung fände – Geschirr waschen und den Müll nach draußen bringen – dann stoßen wir früher oder später auf einen Raum, der sich von allen anderen unterscheidet: Am Ende eines kurzen Gangs, wo Schmutzwäsche darauf wartet, von uns in die Waschmaschine gepackt zu werden, findet sich die unscheinbare Tür, der sich Chris nur mit großem Widerwillen nähert – die zu öffnen allerdings notwendig ist, wenn wir warmes Wasser haben möchten: Das Refugium des Wasserfressers, der Boilerraum.

Chris‘ Haus kennt weder Keller noch Speicher, es ist ein eingeschossiges und damit in Bachelards Verständnis eigentlich defizitäres Haus, das den psychologischen Bedürfnissen seiner Bewohner nicht Genüge tut. Die Bilder und Erinnerungen, die Bachelard anderenfalls dem Keller und dem Dachboden zuweist, suchen sich deshalb alternative Zufluchtsorte. Dem fensterlosen Boilerraum kommt dabei die Rolle des Kellers zu – dem „dunkle[n] Wesen des Hauses“, wie Bachelard sagt, „das Wesen, das an den unterirdischen Mächten teilhat. Wenn man dort ins Träumen gerät“, und das tut Chris sobald wir den Raum betreten, „kommt man in Kontakt mit der Irrationalität der Tiefen.“ Im Boilerraum finden wir so die erste von nur zwei Szenen im Spiel, in denen die Darstellung von Chris‘ Erfahrungswelt die Grenze zum Fantastischen überschreitet – wo er, so lässt es sich wohl interpretieren, von seiner Vorstellungskraft auf solche Weise übermannt wird, dass die Einbildung die Realität überschreibt und die Bewältigung der imaginierten Gefahr plötzlich ganz realen Mut erfordert.

Der Gegenpart zum Keller ist der Speicher oder Dachboden. „Fast kommentarlos lässt sich die Rationalität des Daches der Irrationalität des Kellers entgegensetzen“, sagt Bachelard. „Wenn es sich um das Dach handelt, sind alle Gedanken klar.“ Das Haus der Eriksen aber kennt diese Vertikalität nicht, sodass Chris einen gleichwertigen Zufluchtsort außerhalb des Hauses findet – im Baumhaus, von dessen erhöhter Warte er fast seinen gesamten Kosmos überblicken kann. Hier darf Chris buchstäblich die Füße baumeln lassen, frei und ganz für sich sein – heimlich eine Zigarette probieren und ein kleines Schränkchen mit geheimen Dingen hüten. Noch stärker als das Kinderzimmer ist das Baumhaus Chris‘ ganz persönlicher Raum, wo er Distanz zum Vater herstellen kann – und wohin er sich am Ende des Spiels flüchtet, wenn er diese Distanz am dringendsten braucht. „Sie steht unter dem Zeichen des Aufstiegs zur stillsten Einsamkeit“, sagte schon Bachelard über die Treppe zum Dachboden, die in Chris‘ Kosmos die Leiter zum Baumhaus ist.


IV. Räume der Erinnerung

Klein wie ein Schuhkarton, von der Größe eines Zimmers, und mal auch nur im Geiste existent, durchziehen geheime, verbotene und heilige Orte das Anwesen der Eriksens und dienen vor allem einem Zweck: dem Hüten von Erinnerungen. „Wohlgemerkt, dem Haus ist es zu danken, dass eine große Zahl unserer Erinnerungen ‚untergebracht‘ sind“, erkannte Bachelard, „und wenn das Haus etwas kompliziertere Gestalt annimmt, wenn es Keller und Speicher, Winkel und Flure hat, dann bekommen unsere Erinnerungen mehr und mehr charakteristische Zufluchtsorte.“

Betrachten wir zuerst das Schlafzimmer des Vaters, das nicht per se ein verbotener Ort ist, allerdings eine Vielzahl von Objekten enthält, die zunächst verschlossen oder versteckt sind: In den Schränken, die teils nur mit einem versteckten Schlüssel zu öffnen sind, entdeckt Chris sein kommendes Weihnachtsgeschenk genauso wie ein Pornoheft, außerdem Fragmente aus dem Leben seines Vaters: offizielle Briefe, die von beruflichen und finanziellen Problemen zeugen, aber auch den Brief einer unbekannten neuen Liebschaft, aus dem hervorgeht, dass jene Frau ihn gern daheim besuchen möchte, Charles das aber nicht zulässt. Architektonisch betrachtet ist das Schlafzimmer des Vaters das Gegenstück zu Chris‘ Kinderzimmer, doch werden die Träume hier stets mit der harten Realität und dem Gewicht der Vergangenheit konfrontiert; sie erhalten im Dunkel der Schränke keinen Raum, sich positiv zu entfalten.

Das gilt ebenso für die Erinnerungen an seine Frau, die Charles in einem dunklen Schuppen außerhalb des Hauses geradezu weggesperrt hat. Chris tut zwar etwas ähnliches, auch er bewahrt Erinnerungen auf, wo sie nicht unmittelbar zugänglich sind, reichert dieses Tun aber um Traumbilder an. Das von ihm aus Schrott und Gerümpel gebaute, sogenannte „Labyrinth der Verdammnis“ liegt im Garten vor dem Haus und schützt einen heiligen Raum. Was den dort versteckten Schatz vom Alltag trennt, ist allerdings nicht der Raum selbst (es wäre ein Leichtes, das Labyrinth zu umgehen) sondern ein exakt zu befolgendes Ritual: Chris stellt sich ein ausgedehntes Labyrinth vor, das nur mithilfe einer zweigeteilten, versteckten Karte bewältigt werden kann. Wie die Fußboden-Labyrinthe in manchen gotischen Kathedralen, dient Chris‘ Labyrinth der seelischen Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Göttlichen oder, hier, Vergöttlichtem. Erst nach dem exakten Nachvollziehen des auf der Karte verzeichneten Weges gestattet sich Chris, das Heiligtum zu betreten und den dort aufbewahrten Schatz zu öffnen: eine Box mit Erinnerungen an seine Mutter, die dem Jungen sogleich eine Träne abringen. „Irgend etwas Geschlossenes muss die Erinnerungen hüten und ihnen dabei ihre Werte als Bilder bewahren“, schrieb auch Bachelard.

Der Ort der ultimativen Angst, der Gegenpol zum trostspendenden Zentrum des Labyrinths, existiert allein in Chris‘ Vorstellung: Der unwirtliche, von einer glühenden Sonne rot gefärbte Planet Mantroid, von dessen Bild Chris übermannt wird, als er sich im Auto sitzend vorstellt, wie er mit einem Raumschiff ins All aufbricht. Auf dem Planeten Mantroid sprechen Stimmen zu Chris, hier versucht sein imaginärer Erzfeind, ihn für schuldig zu erklären. Langsamen Schrittes stapft Chris über den roten Sand der Planetenoberfläche und nähert sich dabei einer einsamen Laterne und zwei Straßenschildern. Dort erklärt sich das Rätsel: Der Erzbösewicht Mantroid, den Chris in all seinen Vorstellungen bekämpft, ist ein Portmanteau-Wort aus den Namen zweier Straßen, an deren Kreuzung seine Mutter starb: Asteroid Drive und Mantle Street.

„In diesen fernen Regionen lassen sich Gedächtnis und Einbildungskraft nicht trennen. Das eine wie das andere arbeiten an ihrer gegenseitigen Vertiefung. Das eine wie das andere errichten in der Ordnung der Werte eine Gemeinschaft der Erinnerung und der Bilder.“ Eine treffendere Exemplifizierung dieses Gedankens Gaston Bachelards ist schwer vorstellbar. Tatsächlich deutet Chris‘ Reaktion beim Anblick der Schilder darauf hin, dass er, bis zum Moment des Wiedererkennens der Straßennamen, von dieser Übertragung selbst nicht wusste.


V. Grenzüberschreitungen

Schon mehrfach haben wir nun Grenzen überschritten, haben Schachteln geöffnet und in Schränken gewühlt, und uns heimlich Zugang zu verschlossenen Orten verschafft. Allerdings erleben wir auch zwei besondere Grenzüberschreitungen im Spiel, die den Vater in Angst versetzen. Betrachten wir zum Abschluss deshalb noch einmal die sichtbaren und unsichtbaren Mauern und Grenzen, die dem Haus und seinen Räumen Festigkeit und Form geben. Schauen wir uns an, wie sie vor allem vom Vater immer wieder neu errichtet und verstärkt werden. Dann, so Bachelard, werden wir „sehen, wie die Einbildungskraft ‚Mauern‘ aus unsichtbaren Schatten baut, wie sie sich mit Illusionen vom Umhegtsein stärkt – oder umgekehrt, wie sie hinter dicken Mauern zittert und die festesten Wälle in Zweifel zieht.“

Die Ängste des Vaters lauern nicht in dunklen Nischen oder auf fremden Planeten. Sie leben nicht in den Räumen, sondern kreisen stets um die Gefahr, dass die um ihm herum errichteten Mauern bröckeln und etwas, besser jemand, in die Räume eindringt: „If it’s a salesperson or some church group, you just close the door on them. It’s nobody’s business. This is our castle and it’s our family, right?“, wird er später sagen. Seine größte Angst dabei ist die, dass ihm nach seiner Frau auch noch sein Sohn genommen werden könnte. Selbst als nur das Telefon klingelt und Chris den Hörer abnimmt, er aber nicht sofort erfährt, mit wem sein Sohn spricht, wird er irrational wütend. Im Auto stoßen wir auf eine Vorladung des Jugendamts, in der Küche entdecken wir einen besorgten Brief der Großeltern, die ihre Hilfe anbieten, und zugleich Charles‘ zu erwartende Abwehrhaltung vorwegnehmen: „Bitte verzeih, wenn du glaubst, wir haben unsere Grenzen überschritten.“ Ein überstrichenes Graffiti an der Außenwand des Hauses weist darauf hin, dass seine Alkoholsucht auch den Nachbarn nicht verborgen bleibt.

Ab einem gewissen Zeitpunkt im Spiel liegt Chris‘ Vater schlafend im Fernsehsessel und wir haben die Möglichkeit ihn aufzuwecken. Trunken von Schlaf und Alkohol, stürzt der Vater dann zu Boden und reißt den Beistelltisch mit der Whiskyflasche mit sich. Der Lärm dessen und der anschließenden Tirade macht schließlich eine Nachbarin aufmerksam, eine ältere, freundlich wirkende Frau Reynolds, die sich sorgenvoll erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Chris öffnet ihr die Tür und ist sich des Ernsts der Lage durchaus bewusst: In seiner Liebe für den Vater und ungeachtet aller Probleme, beteiligt er sich an der „Verteidigung“ des Hauses, am Versuch, Normalität vorzutäuschen und nichts von den Problemen der Familie nach außen dringen zu lassen.

Die Nachbarin geht schließlich wieder, doch wie wir uns auch verhalten haben, wir werden von der ungezügelten Wut des Vaters erwischt: „What did that nosy bitch want? […] Man, I bet you wanted to tell her what a shitty dad you have, huh?“ Als er seinen Sohn auch noch für den Unfall seiner Mutter verantwortlich macht, rennt Chris schließlich heulend zum Baumhaus. Den Abschluss bildet eine Szene, die das Spiel für die Einführung der Protagonisten aus Life Is Strange 2 nutzt und zwei uns zulächelnde Jungen vor dem weihnachtlich dekorierten Nachbarhaus zeigt. Inzwischen wissen wir, dass sie in ihrem eigenen Abenteuer eine ganz andere, für die Life Is Strange-Reihe untypische Raumerfahrung machen und eine Art Roadtrip erleben. Schließlich, so noch einmal Bachelard, „dürfen wir nicht vergessen, dass es eine Träumerei des schreitenden Menschen gibt, eine Träumerei des Weges.“ [sk]


Gaston Bachelard zitiert nach: Poetik des Raumes. Carl Hanser Verlag. München, 1960.

Dieser Artikel erschien zuerst im Dezember 2018 in Ausgabe #8 des GAIN-MagazinsFür die aktuelle Print-Ausgabe #12 des GAIN-Magazins schrieb ich Kritiken zu Shenmue III und zum Capcom Home Arcade.


Die fantastischen Abenteuer von Captain Spirit (engl. The Awesome Adventures of Captain Spirit)
Dontnod Entertainment/Square Enix, 25. Juni 2018
PlayStation 4, Xbox One, Windows PC
Directors: Raoul Barbet & Michel Koch
Producer: Luc Baghadoust

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