Kojima hier, DHL-Simulator da – ich kann es nicht mehr hören. Ich frage mich, wie der Diskurs um Death Stranding ausgesehen hätte, wäre es ein unscheinbares Indie-Projekt. Denn ungefähr so fühlt es sich an: Wie ein komplett absurdes Indie-Experiment – das zufällig mit einem AA-Budget gesegnet ist.

Sagte ich gerade AA? Die Grenzen verschwimmen. Doch Death Stranding ist definitiv kein God of War oder Spider-Man. Der einzige AAA-Faktor an Death Stranding ist Sonys Marketing-Budget. Und natürlich die populären Schauspielerinnen und Schauspieler Doch bei denen fangen die Missverständnisse schon an!

Alles Blender, keine Substanz? Was sollen Norman Reedus, Mads Mikkelsen und Co. schon zum Spielerlebnis beitragen können? Ihr Auftauchen ist sicherlich nicht mehr als ein wirkungsvoller PR-Stunt… oder nicht? Meines Erachtens tragen die hochkarätigen DarstellerInnen einiges bei. Weit mehr, als ich ursprünglich erwartet hätte. Nicht nur sind ihre Performances superb. Auch ihre Gesichter sehen schlicht menschlicher aus als die einer typischen Videospiel-Figur. Bei allem Respekt: Kein Character Designer würde sich je so einen hässlichen Vogel wie Norman Reedus als Cover-Model ausdenken.


Ich bin kein allzu großer Hideo Kojima-Fan, doch Death Stranding ist überraschend authentisch geworden. Das fängt bei den eben genannten Charakteren an und zieht sich durch etliche Elemente des Spiels. Eine Schande, dass es aktuell im Trend zu liegen scheint, Death Stranding zu hassen.

Zeit für die altbewährte leidige Frage: Wie viele dieser Hater haben Death Stranding überhaupt selbst gespielt? Wahrscheinlich ähnlich wenige wie gerade diesen Text lesen. Man kann ihnen ersteres aber auch nur bedingt verübeln. Anders als bei den meisten Hype-Titeln war das Marketing zu Death Stranding – obwohl es sonst so üppig war – geizig mit Infos zum tatsächlichen Gameplay.

Nun sieht die Spielkultur ohnehin so aus, dass Blockbuster ohne ordentlich Action gern vorschnell verteufelt werden – sofern solche überhaupt existieren. Anstatt Norman Reedus und seinen Fötus als Postboten mit pränatalem Zwangsarbeiter zu verulken, sollten wir lieber bewundern, wie selbstbewusst Death Stranding seinen eigenen Weg schreitet.

Welches Spiel dieser Größenordnung kommt schon (fast) komplett ohne Gewalt aus? Wer hätte gedacht, dass wir in einem Spiel, das den Tod im Namen trägt, nicht einen einzigen NPC umbringen dürfen? In den knapp 32 Stunden, die ich zum Durchspielen benötigt habe, machten die Szenen mit (meist optionalen) Gefechten einen zu vernachlässigenden Bruchteil aus. Trotzdem war ich die meiste aktive Spielzeit angemessen gefordert und unterhalten.

Was im Marketing wie ein Spaziergang mit Wildpinkeln aussah, offenbart schon nach wenigen Stunden eine faszinierende Komplexität und Interkonnektivität verschiedenster Mechaniken. Auch die soziale Komponente, mittels der SpierlerInnen sich gegenseitig anonym mit Bauten in der Ödnis unterstützen, bleibt bis zum Ende motivierend und frisch. Gewissermaßen ist Death Stranding ein düsteres Journey 2.0 mit deutlich mehr spielerischem Tiefgang – auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat. Es braucht sich vor der zentnerschweren Sandbox eines Metal Gear Solid 5 nicht zu verstecken.


Wie wichtig Kojimas Rolle im Gesamtkunstwerk war, ist mir an dieser Stelle relativ egal. Ja, die Geschichte hätte auch diesmal ein paar Ausflüge aufs Schneidebrett vertragen. Sie war dennoch einzigartig und faszinierend; im Vergleich zum Chaos eines Metal Gear Solid 4 geradezu leicht verdaulich. Außerdem kann ich Kojima nicht allzu böse sein, solange er Big-Budget-Games produziert, in denen mein Charakter duschen, pinkeln, kacken und anschließend seine Exkremente als Granate einsetzen kann. (Die Gegner reagieren empfindlich auf seine Körperflüssigkeiten. Die Lore erklärt das gut genug, vertraut mir…)

In diesem Sinne: Macht euch frei von all den Vorurteilen – so schwierig es auch sein mag – und überzeugt euch selbst von Death Stranding. Man braucht gewiss etwas mehr Ausdauer, um die mindestens 30 Stunden währende Kampagne zu bestreiten. Dann wiederum habt ihr alle sicherlich schon deutlich längere Spiele durchgeprügelt, die bei Weitem nicht so unterhaltsam, unkonventionell und charmant waren wie Death Stranding. Ja, ich rede von dir, Final Fantasy XIII. [pg]


Death Stranding
Kojima Productions / Sony Interactive Entertainment, 8. November 2019
PlayStation 4, Windows PC (angekündigt)
Director / Producer / Designer / etc.: Hideo Kojima
Writers: Hideo Kojima, Kenji Yano, Shuyo Murata
Artist: Yoji Shinkawa