Nicht über viele Konsolen lässt sich sagen, dass sie 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung noch immer eine solche Faszination ausüben, wie SEGAs Dreamcast es tut: Erst letztes Jahr konnte ich mich „live“ davon überzeugen, als unser Stand auf der Langen Nacht der Computerspiele in Leipzig ganz im Zeichen der Dreamcast stand – und die Leute Crazy Taxi und Soul Calibur mit einer Selbstverständlichkeit anpackten und genossen, als schrieben wir 1999.

Dabei währte das Leben der Dreamcast kaum drei Jahre. Wie sagt man doch gleich, wen Gott liebt, den holt er früh zu sich? Wenn es einen Gott für ausrangierte Konsolen gibt, dann hat er die Dreamcast ganz sicher in seinen Himmel geholt; ihr späteres Leben und das von vielen ihrer Spiele will einfach nicht enden.

Liegt es daran, dass sie in einer der wohl aufregendsten, experimentierfreudigsten und optimistischsten Phasen der Videospielgeschichte existierte? Und diese Phase selbst entscheidend mit prägte, mit einem – für kaum drei Jahre – unglaublich vielseitigen Portfolio von Hochkarätern und innovativen Experimenten.

Ein paar dieser Spiele stellen wir euch in diesem und im kommenden Teil unseres Geburtstags-Features noch vor!


Im heutigen, dritten und damit vorletzten Sammelpost unserer Geburtstagswoche erwarten euch abermals zwei Beiträge. Den Anfang macht unser Redaktions-Neuzugang Erik, der erst kürzlich seine erste Nacht mit Shenmue verbrachte. Wie er diese Nacht erlebte und was davon blieb, beschreibt er in seinem Beitrag. Danach spricht Mathias in einem Gastbeitrag von einer seiner liebsten Spielereihen, deren vermutlich beste Teile einst auf der Dreamcast erschienen sind: Sakura Wars.

Ich frage mich (und euch): Konnten wir uns damals vorstellen, dass wir geschlagene 20 Jahre später noch immer über diese Spiele und die Dreamcast-Konsole reden und auf der Dreamcast spielen würden? Mich selbst hat gerade Record of Lodoss War gepackt, das ich ohne nostalgische Vorbelastung gerade zum ersten Mal genieße und über das ich in Kürze noch mehr erzählen werde.

Glaube ich, ich werde ich in 20 Jahren noch über meine WiiU und meine PlayStation 4 reden? Über die Switch? Die PS Vita!? Fragen über Fragen – für unseren Kommentarbereich. Ich und unsere Gäste freuen uns auf eure Antwort und euer Feedback. Nun wünsche ich viel Freude mit unseren heutigen beiden Einsendungen. Den Abschluss unserer Reihe gibt es dann am Sonntag! [sk]


Shenmue: Ein One-Night-Stand
(von Erik Körner)

Eine Push-Mitteilung von WhatsApp reißt mein Handy aus dem Ruhemodus. „Hast du Lust auf einen Shenmue-Marathon?“, fragt mein Kollege Pascal. Selten fiel es mir leichter, eine Frage mit „Ja“ zu beantworten. Der Dreamcast – und somit Shenmue – ging bis dato an mir vorbei. Mein Wissen über das Spiel lässt sich in sechs Worten zusammenfassen: japanisches Melodrama, Gabelstapler fahren, angebliches Meisterwerk. Mein Verlangen ist groß, diese Bildungslücke zu schließen.

Einige Tage vergingen, unser Treffen kam. Gemütlich aufs Sofa gesetzt, ein Bier geöffnet, Shenmue gestartet. Oh je, die Sprachausgabe. Für die späten Neunziger ist sie in Ordnung. Der Titel beginnt mit der Melodramatik, die ich erwartet habe. Der Tod des Vaters, dramatische Musik, das Verlangen nach Rache: Als Camp-Liebhaber fühle ich mich mit offenen Armen empfangen.

Zeit, erstmals Protagonist Ryo Hazuki zu kontrollieren. Oh je, die Steuerung. Soll Ryo nach hinten schauen, muss ich ihn um 180 Grad drehen. „Fair“, denke ich. Ich kann auch nur so weit über meine Schultern nach hinten sehen. Außerdem ist Shenmue ein frühes 3D-Spiel. Eine frei drehbare Kamera war Jahre davon entfernt, der Standard zu sein. Bevor wir das Anwesen der Hazukis verlassen, erkunden wir die Zimmer. Viel zu sehen gibt es nicht. Aber dass alle Räume begehbar sind und Interaktionsmöglichkeiten bieten, wie Schränke zu öffnen, ist ein netter Touch.

Wir begeben uns in Richtung des nächsten Dorfes und fragen die AnwohnerInnen, ob sie Männer in schwarzen Anzügen gesehen hätten. Die Männer, die den Mörder von Ryos Vater am Tag der Tat begleiteten. Die häufigste Antwort: „Nein“. Wir klingeln bei einigen Häusern, doch niemand öffnet uns die Tür. Eine alte bittet uns, das Haus einer bestimmten Person zu finden. Selbstredend sind die Namensschilder auf Japanisch, was die Suche in die Länge zieht. Immerhin gibt es eine kleine Katze zu pflegen. Bisher fühlt sich Shenmue an, als benutze ich einen Reifen als Kaugummi.

Die Details treffen eher meinen Geschmack. Möchte Ryo telefonieren, braucht er eine Nummer sowie eine Telefonzelle. Dort muss er die Nummer manuell an einer Wählscheibe eingeben. Sogar eine telefonische Auskunft hat ihren Weg ins Spiel gefunden. Mit voranschreitender Tageszeit leeren sich die Straßen. Im ersten Dorf stehen zwei Gacha-Maschinen voller kleiner Figuren – unter anderem von Sega-Charakteren. Nachdem Ryo deren Packung öffnet, kann er sie in Nahaufnahme inspizieren.

Nach ungefähr einer Stunde realisiere ich: Mein innerer Spieler hasst Shenmue. Mein innerer Kritiker liebt es. Dass Personen tagsüber nicht anwesend sind, weil sie arbeiten müssen, ist genial. In vielen Spielen existierten NPCs nur als identitätslose Quest-Dispenser. Shenmue emanzipiert sie von dieser Rolle. Gebe es bis zu ihrer Rückkehr doch bloß gehaltvollere Beschäftigungen, als Spielzeuge zu kaufen oder die Arcade-Halle zu besuchen. Die Details lassen die Spielwelt atmen. Sie entschuldigen jedoch nicht die restliche Schwerfälligkeit. Ich kenne kein anderes Spiel, dessen Potenzial durch die Umsetzung dermaßen verloren geht.

Eine Stunde reicht bei einem 20-Stunden-Spiel nicht für ein faires Meinungsbild. Als ich allerdings merke, es könnte noch 19 weitere Stunden so weitergehen, läuft mir Angstschweiß den Rücken runter. Der Marathon endet in einem 100-Meter-Sprint. Wir öffnen YouTube und schauen stattdessen eine mehrteilige Zusammenfassung. Nach jedem Video wünsche ich, ich könnte Shenmue lieben. Alles an diesem Spiel wirkt fantastisch. Alles, außer es selbst spielen.

Der Autor:

Erik Körner ist 23 Jahre alt und studiert Anglophone Studies und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen. Er ist das neueste Mitglied der SPIELKRITIK-Redaktion; außerdem arbeitet er als freier Journalist für die studentische Zeitung seiner Universität, die akduell. Neben seiner Begeisterung für Linguistik und Literaturwissenschaft vertreibt Erik sich seine Freizeit mit Recherchen zu Gamedesign und (obskuren) japanischen Videospielen. Zu seinen Lieblingsspielen gehören Werke aus der Schmiede Kojimas und Team Icos. 


Make Love and War: Sakura Taisen
(von Mathias)

Als Außenstehender, der von meiner PS2 aus zum Dreamcast herüberschielte, war die Konsole immer die mit den merkwürdig-quirlig-interessanten Spielen. Sei es nun Jet Set Radio, oder Space Channel 5, oder Seaman, oder Illbleed, oder doch Shenmue.

Sakura Wars fand ich jedoch immer besonders interessant. Die Reihe mit den Mädels im Steampunk-Setting zu Beginn des letzten Jahrhunderts; eine Theatertruppe am Tag, Dämonen bekämpfende Mecha-Pilotinnen zur Nacht – und man selbst mittendrin im Anime-Alltag. Auf der Mission, sie unbeschadet durch die Schlachten zu bringen und einen festen Platz im Herzen einer dieser Damen zu erobern. Als ich irgendwann den lokalisierten fünften Teil in den Händen hielt, verliebte ich mich sofort. Es dauerte nicht lang, bis ich auch die vier vorherigen Teile gespielt hatte.

Und es lohnte sich absolut. Dating Sims werden im Westen immer gern etwas belächelt. Obwohl manche munkeln, die aktuell beliebteste Strategie-RPG-Serie sei nur noch wegen ihrer datebaren Waifus am Leben. Letztendlich geht es um Dinge, die vielen doch angeblich immer so wichtig sind: Sich in die Welt des Spieles zu integrieren und die Charaktere kennenzulernen. Da war Sakura Wars der Zeit voraus – oder einfach durch das Fehlen von Fanservice schon immer zu keusch eingestellt.

Die Gewichtung ist allerdings eine andere. An erster Stelle bei Sakura Wars steht die Visual Novel. Insofern man des Japanischen nicht mächtig ist: Übersetzungsdokumente aus dem Internet helfen. Ungefähr zwei Drittel eines Kapitels bestehen daraus, die Handlung zu lesen und den Mädels unter Zeitdruck passende Antworten zu geben, um ihre Sympathie zu gewinnen Die Strategie-Kämpfe sind eher sporadisch verteilt, damit man übers lange Lesen nicht in den Schlaf fällt. Sie sind nicht übermäßig fordernd und somit nettes Beiwerk.

Das Franchise-Highlight Sakura Wars 3: Is Paris Burning? erschien ebenfalls auf dem Dreamcast. Es hat den in meinen Augen sympathischsten Cast und sieht am besten aus. Außerdem sind die Kämpfe spannender und flotter als zuvor. Dass es mit Sakura Wars 4: Fall In Love, Maidens obendrauf noch den bittersüßen, wenngleich etwas kurzen, Abschluss der Ogami-Arc auf dem Dreamcast gab, ist für Spieler der Reihe natürlich umso schöner. Die ersten beiden Teile wurden ebenfalls auf den Dreamcast geportet. Sie bieten kleine Boni für importierte Save Games aus vorherigen Titeln – die perfekte Anlaufstelle für alle Sakura Wars-Interessierten!

Der Autor:

Mathias schreibt auf zuckerlundzynismen.wordpress.com über alles Unterhaltungsmediale, was ihm gerade vor die Nase kommt. Als gescheiterter Versuch, seinen Backlog nicht überhandnehmen zu lassen, fokussierte er sich immer nur auf eine Konsole pro Generation. Am Dreamcast ging er deswegen zugunsten einer PlayStation 2 vorbei, was er hin und wieder bereut.


Nicht vergessen: zum ersten Teil unseres Specials geht es HIER – und am Sonntag geht’s weiter!