Ein Gastbeitrag von Martin Dietrich

Kaum ein Blockbuster-Entwickler traut sich, mit derart unterschiedlichen Erzählformen zu jonglieren, wie es Remedy vermag. Max Payne, Alan Wake und Jack Joyce eint aber noch mehr.


Einer Formel haftet in der Popkultur häufig ein negativer Beigeschmack an. Gleichförmig und erwartbar sollen Studios wie Marvel ihre Superheldenfilme in immer dieselben Strukturen pressen. Ähnliche Vorwürfe musste sich Telltale anhören. Bevor das Studio unterging, waren viele Spieler unzufrieden damit, wie Telltale unterschiedliche Marken wie The Walking Dead, Batman oder Borderlands vereinheitlichte und auf die ewig gleiche Gameplay-Erfahrung zurückgriff.

Über Remedy-Spiele würden das aber wohl die wenigsten sagen, obwohl das Studio einem wiederkehrenden Muster aus verschiedenen erzählerischen Leitgedanken folgt. In über 20 Jahren Firmengeschichte haben sie Action-Ikonen wie Max Payne geschaffen, mit Erzählstrukturen experimentiert und sich an einem Videospiel-TV-Hybriden verhoben. Trotz dieses illustren Portfolios hat Remedy eine sehr eigenwillige, teils extravagante Handschrift entwickelt, die auch dem aktuellen Sprössling Control eine selbstsichere Schrulligkeit verleiht.

Für diesen Überblick soll es aber vor allem um die älteren Werke der Nordeuropäer gehen. Control greift zwar als Action-Adventure, das in einer seltsam bekannten wie fremden Welt spielt, auf dieselben Mechanismen in Erzählung und World-Building zurück, neu sind diese Ideen aber bei weitem nicht. Schon früh wusste Remedy, wie man sich von anderen Produktionen im Shooter-Genre abzusetzen hat.


Im Hier und Jetzt

Wenn man einmal ihr Debütspiel Death Rally beiseitelegt, dann lässt sich das Setting eines Remedy-Spiels zeitlich sehr genau verorten. Sterile Raumschiffkorridore aus dem 22. Jahrhundert sind ebenso wenig zu finden wie Bergfriede voller edelmütiger Ritter. Stattdessen irren die Hauptcharaktere durch das zeitgenössische, vom Schneesturm eingedeckte New York in Max Payne oder die gleichzeitig beruhigende wie unheimliche Kleinstadt-Idylle von Bright Falls in Alan Wake.

Ausgehend von diesem Gegenwartsszenario befinden sich Remedys Helden auf einer Sinnsuche nach sich selbst, während sie von einer zweifelnden, inneren Stimme begleitet werden. Wie weit treiben mich meine Rachegelüste an und werde ich dadurch wirklich irgendwann wieder glücklich sein? Befinde ich mich wirklich in einem Kampf zwischen Licht und Dunkelheit oder hat mein Unterbewusstsein diese Fantasie konstruiert? Kann ich die Vergangenheit wirklich ändern, um den Tod meines Bruders und das Ende der Zeit aufzuhalten?

Solche teils existenziellen Fragen werden durch ein gemeinsames Motiv zusammengehalten. Familie oder vielmehr das Fehlen einer gesunden familiären Struktur ist die alles antreibende Motivationskraft. Max Payne verliert seine und setzt alles daran, die Schuldigen zu finden und sich aus einem Sumpf der Melancholie und Selbstzerstörung zu befreien. Die Ehe des egozentrischen, verantwortungslosen Schriftstellers Alan Wake droht auseinanderzubrechen und als seine Frau schließlich verschwindet, plagen ihn Schuldgefühle. Jack Joyce hat sich in Quantum Break gleich selbst von seiner einzigen Familie, seinem Bruder, abgenabelt und will diese dysfunktionale Beziehung durch ein paar Sprünge durch das Raumzeitkontinuum wieder in Ordnung bringen.

Nicht immer schafft es Remedy dabei, diese eigentlich starken Charakterbedürfnisse mit genügend Erzählfleisch zu unterfüttern. Alan Wakes entführte Frau ist über den gesamten Spielverlauf eigentlich nur das. Statt einer eigenständigen Figur existiert Alice nur dazu, um Alan durch die verschiedenen Level zu hetzen. Mehr Charakterisierung als im ersten Kapitel und in kurzen Flashbacks ist ihr nicht gegönnt. Alice verkommt dadurch zu einer eindimensionalen Prinzessin in Not ohne eigene Agenda.


Helden in Zwangsjacken

Ein typischer Remedy-Protagonist trägt nicht nur einen recht schmissigen Namen, der das Thema des Spiels meist auf ein Wort fokussiert (Joyce reimt sich übrigens sehr gut mit Choice). Die gesamte Handlung ist um die zentralen Charaktereigenschaften aufgebaut und gefärbt durch eine sehr subjektive Sicht auf die Geschehnisse. Auf der Suche nach den Mördern seiner Familie spricht Max in apokalyptischen, spöttischen Worten über seine eigene Welt aus Gewalt, Verschwörungen und Selbstmitleid. Im Spiel selbst äußern sich diese Extreme mit ebenso extremen Symbolen. Gangsterbosse sind besessen von der nordischen Mythologie, dem Untergang der Welt während Ragnarök und aufopferungsvollen Walküren. In fiebrigen Drogenträumen steigt Max bildhaft in die Hölle hinab, um noch einmal sein Trauma zu durchleben.

Diese Präsentation der Wirklichkeit, verzerrt durch die Gefühle und Erfahrungen des Helden, wird dann auch konsequent im Nachfolger, The Fall of Max Payne, weitergesponnen. Auf seiner Reise begleiten den New Yorker Polizisten verschiedene TV-Shows, die immer wieder in der Spielwelt auftauchen und scheinbar seine Handlungen kommentieren: Wie seine Gefühle zu Mona Sax in der royalen Schmonzette „Lords and Ladies“ oder seine wahnhaften Rachegelüste im Anstaltsthriller „Address Unkown“. Oder sehen wir nur durch die Augen von Max seine einseitige Wahrnehmung der Fernsehsendungen?

Es erscheint dann auch nur folgerichtig, dass Alan Wake alte Ausgaben des fiktiven Twilight-Zone-Verschnitts „Night Springs“ finden kann, während er sich mit Taschenlampe und Revolver durch die Geschichte seines eigenen, wahr gewordenen Romans kämpft. Mehrmals im Spiel gibt es Überschneidungen und Parallelen zwischen Episoden aus „Night Springs“ und der eigentlichen Haupthandlung. Die Prämisse von Alan Wake, dass aus Fiktion Realität wird, gilt eben auch für eine zweitklassige Mystery-Serie.


Medienzirkus

Die offensichtlichste Remedy-Erzähltechnik greift aber in den Fundus der modernen Medienlandschaft hinein und bastelt daraus eine Collage verschiedener Erzählgattungen. Eine Geschichte aus der Feder der Remedy-Autorinnen und Autoren lässt sich daher auch mit einem Jahresring – die ringförmige Maserung eines Baumes – vergleichen. Mehrere Schichten an verschiedenen Story-Werkzeugen ummanteln den eigentlichen Kern der Narrative. Je erfahrener und älter Remedy wurde, desto mehr Ringe kamen dazu. In einem Interview mit der Webseite Polygon hat Story-Chef Sam Lake daher auch einmal gesagt, dass Videospiele für ihn im Prinzip ein „Schmelztiegel unterschiedlicher Medien“ seien.

Waren die Comic-Panels in Max Payne erst nur eine günstige Alternative, Zwischensequenzen im Jahre 2001 zu inszenieren, wurden sie später zum Aushängeschild einer gereiften Geschichte. Teil zwei brachte nicht nur professionellere Grafiken mit sich, sondern auch eine stärkere Einbindung der bereits erwähnten TV-Shows und einen musikalischen Rahmen in Form des Abspann-Songs „Late Goodbye“.

Die damals eben erst gegründete finnische Rockband Poets of the Fall war mit Lake befreundet; zusammen entwickelten sie „Late Goodbye“ für Max Payne 2. Quer verteilt über die gesamte Handlung wird die Ballade immer wieder in die Spielwelt eingebunden. Sei es durch einen musikalischen Hausmeister, eine mitsummende Mona Sax oder einen klavierspielenden Gangster.

Für Alan Wake kehrten die Poets zurück und verwandelten sich in die fiktive Band „Old Gods of Asgard“, die im Spiel in Form von zwei senilen Altrockern auftreten. Ihre Songs werden, neben weiteren lizenzierten Liedern wie David Bowies Klassiker „Space Oddity“, im Spiel direkt aufgegriffen, als Hinweis für den weiteren Story-Verlauf eingestreut oder als Übergang zwischen den einzelnen Kapiteln platziert. Denn für den Action-Thriller hat Remedy die Geschichte wie in einer TV-Serie in einzelne Episoden unterteilt – zusätzlich zu versteckten Manuskriptseiten, mit denen Alan seinen Roman und damit die weitere Handlung entschlüsseln kann.

Bisheriger Höhepunkt von Remedys Philosophie, verschiedene Medien zusammenzubringen, ist aber die versuchte Heirat von Live-Action-Show im Stil einer TV-Serie und einem Third-Person-Shooter in Quantum Break. Ob diese Trauung geglückt ist, bleibt natürlich eine Geschmacksfrage. Die für mehr Hintergrundwissen zu lesenden, ellenlangen Email-Nachrichten zeugen jedoch davon, dass Remedy hier nicht wirklich die richtige Balance aus passivem Schauen und aktivem Geballer gefunden hat, um ihre sorgfältig aufgebaute Zeitreisewelt den Spielern ausreichend zu erklären.


Ha, das kenne ich!

Bei einem so experimentierfreudigen Medienmischmasch bieten sich Referenzen zu anderen popkulturellen Werken gerade zu an. Es überrascht daher nicht, dass Remedy es liebt, zu zitieren und sich bei anderen Kreativen ein klein wenig zu bedienen. Besonders Alan Wake verbeugt sich vor einer ganzen Riege legendärer Horror-Thriller mit seinen teils überdeutlichen Verweisen an Stanley Kubricks Shining, Alfred Hitchcocks Die Vögel oder Steven Spielbergs Poltergeist.

Charaktere in der Spielwelt sind sich dieser Anspielungen auch durchaus bewusst und merken an, dass es ja „wie bei Hitchcock ist“, wenn Schwärme wildgewordener Federviecher über Häuserdächer kreisen und ahnungslosen Bewohnern die Augen auskratzen. Als große Inspirationsquelle darf man neben Stephen King oder H.P. Lovecraft aber sicherlich auch Mark Z. Danielewskis postmodernen Wälzer „Das Haus – House of Leaves“ ansehen – mit seinen überfrachteten Meta-Ebenen, unzuverlässigen Erzählern und einer generellen Lust an der Uneindeutigkeit.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Max Payne, das sich ausgiebig die Strukturen des Film Noir und der Hardboiled-Romane von Dashiell Hammett und Raymond Chandler angeschaut hat. Wie Schauspiellegende Humphrey Bogart in Die Spur des Falken mimt Max den zynischen Antihelden mit einer recht freien Interpretation dessen, was rechtlich und moralisch vertretbar ist.

Fast noch mehr Spaß scheint Remedy aber daran zu haben, auf sich selbst zu verweisen und ihre Spiele untereinander zu verknüpfen. So hat Alan Wake in der Vergangenheit erfolgreiche Crime-Romane geschrieben, die verdächtig an einen gewissen Großstadt-Cop erinnern. In einer Ingame-TV-Show tritt Sam Lake sogar als Person auf und zeigt sein berühmtes Max-Payne-Knautschgesicht. Quantum Break ist wiederum voller Easter Eggs, die Alan Wake referenzieren und so andeuten, dass alle Remedy-Spiele im selben Universum stattfinden könnten.


Wie Control in die Remedy-Formel hineinpasst

Auch die jüngste Veröffentlichung der Nordeuropäer zeigt wieder Merkmale dieser mehrschichtigen Erzählweise. In Control erkunden die Spieler ein mysteriöses Regierungsgebäude, das scheinbar ein Eigenleben entwickelt hat. Wände verschieben sich und bringen neue Räume zum Vorschein. Hauptfigur Jesse Faden stolpert bei der Suche nach Antworten auf die Fragen ihrer mysteriösen Vergangenheit über das seltsame Bauwerk und wird plötzlich zur Chefin einer geheimen Untergrundorganisation ernannt. Remedy führt seine Hauptfigur also erneut auf einer Sinnsuche nach sich selbst entlang. Wichtige Charaktere im Spiel werden von alten Remedy-Weggefährten porträtiert, wie James McCaffrey (Max Payne), Matthew Porretta (Alan Wake) oder Courtney Hope (Beth Wilder aus Quantum Break). Die Grenzen zwischen ihren einzelnen Spielen bleiben also verschwommen. Genauso bleibt Remedy ein Hort der Zusammenkunft, wo auch Nischengenres strahlen dürfen.

Inspiration hinter Control ist nämlich die lose literarische Bewegung „New Weird“, die ungefähr ab den 1990er-Jahren entstand und verschiedene Genres wie Fantasy, Science-Fiction und Horror miteinander verwob, um daraus eine Gegenkultur zu etablierten Erzählmustern zu schaffen. Eine einheitliche Definition, was „New Weird“ ist, gibt es aber nicht. Es handelt sich mehr um ein natürlich gewachsenes Kreativbiom mit vielen Ausprägungen. Finnland, das bis vor einigen Jahrzehnten noch verhalten auf Fantasy- und Science-Fiction-Stoffe blickte, hat die Grundgedanken von „New Weird“ adaptiert und daraus eigene Interpretationen geformt. Unter Namen wie „Reaalifantasia“ oder „Finnish Weird“ sind Werke entstanden, die sich genreübergreifend aus dem Bestand der Weltliteratur bedienen und bisherige Standards über Bord werfen. Ziel ist es vor allem, den Leser zu überraschen, zu irritieren und eigene Gedanken über das Gelesene zu fördern. Zu den bekanntesten Vertreterinnen und Vertretern gehören Johanna Sinisalo, Anne Leinonen und J. Pekka Mäkelä.

Die Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Maria Antas fasste die finnische Sub-Kultur einmal folgendermaßen zusammen: „Nicht selten bewegen sich die Geschichten in realistischen Umgebungen, sind auf gewisse Weise jedoch bizarr in ihren eigentümlichen Wendungen, sodass sie sich klar von der traditionellen Erzählweise abgrenzen.“ So ließe sich auch Control wunderbar beschreiben. Remedy scheinen die Romane und Kurzgeschichten ihrer Landsleute ausgiebig gelesen zu haben und stehen mit ihrem neuesten Actionspiel in der Tradition von „New Weird“ beziehungsweise „Finnish Weird“. Sie folgen damit aber auch ihrem eigenen Erbe aus fehlerbehafteten Gegenwartshelden, subjektivem Storytelling und einer wilden Mixtur verschiedener Medienarten.


Gastautor Martin Dietrich hatte irgendwann die wahnwitzige Idee, freiberuflicher Journalist zu werden und über Videospiele zu schreiben. Nach einem Studium der Kommunikationswissenschaft, einigen journalistischen Praktika und viel zu vielen Stunden mit Bioware-Rollenspielen schien dies der nächstlogische Schritt zu sein. Er bündelt dann seine teils konfusen Gedanken und verarbeitet sie zu Artikeln für GameStar, Spiegel Online und weitere Publikationen. Neben dem zwanghaften Bedürfnis, die Zustimmungswerte aller Heldenbegleiter zu maximieren, ist Martin eine symbiotische Beziehung mit einem Kinosessel eingegangen. Und weil sich seine Filmbegeisterung ein Ventil suchen muss, podcastet er auf filmmagazin.audio.


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