Stellt euch vor, es gäbe eine App, die Menschen automatisiert bei psychischen Problemen berät. Eliza, die neue Visual Novel der Puzzle-Profis Zachtronics, spielt im Seattle der nahen Zukunft. Psychische Erkrankungen sind in diesem Setting als logische Konsequenz unserer heutigen Zeit zu einer regelrechten Epidemie herangewachsen. Die fiktive Therapie-App „Eliza“ hört PatientInnen zu, analysiert die Inhalte und Nuancen der Interviews und schlägt eigenständig Lösungsansätze vor. Dass eine solche App nicht über das Feingefühl menschlicher TherapeutInnen verfügt, ist selbstredend. Doch macht diese Existenz einer kommerziellen App, die Profit aus Depressionen schlägt, die Geschichte des Spiels nur glaubwürdiger. Wir steuern nicht die App Eliza, sondern lediglich Evelyn Ishino-Aubrey, eine der ehemals leitenden Entwicklerinnen hinter dem Eliza-Projekt.

Die PatientInnen der App sind zahlreich, der quantitative Einsatz nahezu unbegrenzt. Doch vor allem die Lösungsansätze der virtuellen Therapeutin Eliza sind geradezu lächerlich pauschal. Ein paar Atemübungen hier, ein paar Pillen dort; im besten Fall verschreibt die App eine Packung Medikamente. Die Probleme der meisten PatientInnen reichen zu tief für solch generische Lösungsansätze.

Dabei ist Eliza deutlich mehr als nur ein digitales Frage-Antwort-Formular. PatientInnen installieren die Eliza-App nicht einfach auf ihrem Smartphone. Die Therapie findet ausschließlich in dedizierten Eliza-Praxen statt, in welchen menschliche Eliza-Proxies quasi als physisches Gefäß der KI dienen. Es finden tatsächliche Face-to-face-Gespräche von Mensch zu Mensch statt – nur, dass die therapierende Partei sämtliche Aussagen Wort für Wort aus einem Eliza-Skript abliest. Proxies, die vom Skript abweichen, werden gefeuert. Durch den Einsatz menschlicher Proxies soll die Therapie menschlicher und persönlicher ablaufen. Ein löblicher Ansatz mit eigenen Problemen.


Burnout in Spielen – mal ohne Autos

Unsere Protagonistin Evelyn arbeitet während der Geschichte als Eliza-Proxy. Einst einer der leitenden Köpfe hinterm Eliza-Projekt, verschwand sie infolge eines Burnouts für drei Jahre von der Bildfläche. Die Visual Novel erzählt die Geschichte ihrer erneuten Selbstfindung zwischen Selbstzweifeln und ethischen Bedenken bezüglich der KI, die sie selbst geschaffen hat.

Schnell wird deutlich, wie entfremdet die Eliza-Interviews trotz menschlicher Proxies ablaufen. Letztendlich ist Evelyns Anwesenheit reine Formsache. Sie muss ihrem Gegenüber nicht einmal zuhören, solange sie zuverlässig die von Eliza generierten Antworten vorliest. In der spielerischen Praxis bedeutet das: Mir gegenüber sitzt ein Mensch mit schwerwiegenden Problemen, doch meine Gedanken beginnen immer wieder zu driften – auch wenn die Dilemmata gelungen konzipiert, geschrieben und vertont sind. Das Verlangen, eigene Ratschläge unter Elizas Schablonen zu streuen wächst, doch das Spiel lässt es anfangs nicht zu.

Die Therapiegespräche machen das interaktive Medium konsequenterweise zu einem linearen Drama, in dem es auf jede Zeile nur eine mögliche Antwort gibt. So sind wir in dieser Situation genauso an Elizas Skript gefesselt wie Evelyn. Das Spiel merkt selbst an: „The only other human in the room had been reduced entirely to a machine.“ Dass ein Widersetzen hinterher möglich sein wird, liegt qua der Natur des Genres auf der Hand. Trotz der Vorhersehbarkeit ist das spätere Abweichen vom Skript äußerst befriedigend. Es veranschaulicht außerdem, wie eine automatisierte Software durch ergänzenden Input an den richtigen Stellen noch besser werden kann.

Im Großen und Ganzen scheinen die PatientInnen allerdings zufrieden mit dem komplett automatisierten Service. Nach jedem Interview erhält Eliza Feedback für die User Experience. Es gibt Ausreißer nach oben und unten, doch alles in allem scheint Eliza lukrativ und effektiv. Dennoch schwindet der dystopische Beigeschmack nie. Vielleicht ist ein komplett sozialer Ansatz wie das kürzlich erschienene „MMO-Seelsorger-Spiel“ Kind Words näher an einer Lösung für die „Mental Health-Epidemie“ unserer echten Gesellschaft. Dort helfen Menschen anderen Menschen – komplett anonym, aber voller Empathie. Nur weil die Spielenden von Kind Words keinen Doktortitel haben, macht sie das nicht unqualifizierter als einen Algorithmus wie Eliza. Nur so als Gedanken am Rande.


Visual Novel für Einsteiger

Bisher war ich absolut kein Fan von Visual Novels. Selbst Genregrößen wie Danganronpa oder 999 wirkten auf mich wie Valium. Wieso sprach Eliza mich trotzdem an? Die interessante Prämisse und kompakte Spiellänge gepaart mit einer englischen Vollvertonung ließen mich den Sprung ins kalte Wasser wagen. Auch, dass Eliza eine Visual Novel ist, die ausnahmsweise nicht japanisch ist oder aussieht, stimmte mich positiv.

Der Reiz einer Visual Novel liegt üblicherweise in der narrativen Entscheidungsfreiheit. Eliza bietet uns allerdings überraschend wenig Möglichkeiten, die Geschichte mitzugestalten. Tiefgreifende Entscheidungen gibt es auch nebst den komplett rigiden Therapiegesprächen kaum bis gar nicht.

Zwischen den Therapien interagiert Evelyn ausgiebig mit ehemaligen KollegInnen und Bekannten. Sie kann hier und da mal ein Treffen annehmen oder ausschlagen, doch ansonsten scheint die Handlung komplett linear. Die insgesamt sechs Kapitel des Spiels, von denen jedes etwa eine Stunde dauert, dienen in erster Linie zur Information für eine einzige große Entscheidung am Ende.

Für Visual Novel-Casuals wie mich, die das Spiel nicht zehnmal mit verschiedenen Pfaden durchspielen wollen, ist das tatsächlich ein großer Pluspunkt! Durch den narrativen Scheitelpunkt am Ende der Hauptkapitel kann ich mit wenig Aufwand sämtliche Enden sehen, ohne dass es sich falsch anfühlt. Es ist sozusagen ein umgedrehtes Life is Strange. Während es dort eher um die Reise geht, geht es in Eliza vor allem ums Ziel. Natürlich heißt dies nicht, dass die Interaktionsmöglichkeiten während der Kapitel komplett belanglos und irrelevant sind. Sie stellen lediglich nicht die Weichen für neue erzählerische Abzweigungen.


Ethik und Philosophie automatisierter Therapie

Die Entscheidungen und Konflikte des Spiels drehen sich hauptsächlich um die ethischen und philosophischen Implikationen einer Technologie wie Eliza. Auch technische Limitationen und Ungewissheiten spielen eine Rolle. Teils liegen die Zwickmühlen auf der Hand, teils sind die Probleme etwas tiefer begraben.

Das Schicksal der Protagonistin ist eng verwoben mit unseren Entscheidungen bezüglich Eliza. Soll Evelyn sich erneut den utopischen Zielen ihrer mittlerweile rivalisierenden Ex-Vorgesetzten anschließen? Soll sie einfach weiterhin als Proxy arbeiten und auf diese Weise für Menschen da sein? Oder entscheidet sie sich für ein Leben als Freigeist? Entweder als Künstlerin oder gar fern von allem, was sie kennt; ein kompletter Neubeginn, weit weg von Seattle?

Auf diese finale Entscheidung läuft das Spiel hinaus. Zumindest für mich gab es allerdings nur zwei valide Wege, die wirklich einzigartige und spannende Enden mit sich zogen. Wer mehr über diese Enden erfahren möchte, darf gern den folgenden Spoilerteil lesen.


SPOILERTEIL

Evelyns ehemalige Vorgesetzte, Rainer und Soren, streiten sich um Evelyns Talent als ehemalige Eliza-Entwicklerin. Rainer plant als nächsten Schritt nach dem Erfolg der Eliza-App, die von Eliza gesammelten Gesprächsdaten – bald Milliarden in ihrer Zahl – zur Entwicklung einer wahrhaft eigenständig denkenden KI zu entwickeln. Diese KI soll intelligenter und kompetenter werden als jeder Mensch – sogar bei emotionalen Themen. Mittels dieser vollständig autonomen KI will Rainer das Leid der Menschen lindern, aber bewusst keine allumfassende Lösung schaffen. Unterm Strich zählt noch immer der Profit; und glückliche Menschen zahlen nicht für Therapien. Für ihn ist das Erschaffen einer solchen KI außerdem der nächste logische Schritt in der Evolution der Menschheit.


Soren hingegen trennte sich von seinem alten Arbeitgeber und gründete ein eigenes Startup-Unternehmen. Dort möchte er eine Technologie entwickeln, welche Feinjustierungen am menschlichen Gehirn vornehmen kann. Er konzipiert dieses Produkt für den Massenmarkt und möchte so auf lange Sicht jegliches Leid der Welt minimieren; für jeden, der es möchte.
Er verfolgt ein augenscheinlich altruistisches Ziel mit einer egozentrischen, aber nicht-monetären Motivation. Er möchte diese Technologie schlicht deshalb entwickeln, weil auch er selbst sein eigenes psychisches Leid nicht mehr ertragen kann. Doch was bedeutet ein solch leidfreies Leben für die Gesellschaft der Zukunft? Werden die Menschen zu emotional tauben Zahnrädern im Kapitalismus? Oder wird sich die Gesellschaftsform komplett ändern? Wird die Menschheit auf lange Sicht zu einer Gesellschaft glücklicher, aber nutzloser Hüllen? Und inwiefern gehört Leid zum Menschsein dazu?


SPOILERTEIL ENDE

Es gibt also zwei Parteien, die solch extreme Ideen vertreten, dass man sich am liebsten komplett raushalten möchte. Aber das wäre ja langweilig. Dass die Ideale der Charaktere eng an ihre jeweiligen Persönlichkeiten gekoppelt sind, sorgt für weiteres Salz in der Suppe. Was ist, wenn ich mit den Visionen des einen Charakters d’accord bin, ihn aber menschlich für einen Schleimbolzen halte?

Ich kann Eliza – auch und insbesondere für Visual Novel-Skeptiker – vollends empfehlen. Es erzählt eine der bisher interessantesten und einzigartigsten Spielegeschichten des Jahres und eignet sich perfekt als flotte Lektüre fürs Wochenende. Genre-Puristen mögen Kritikpunkte finden, die ich einfach übersehen habe; gerade deshalb bin aber außerordentlich gespannt auf den Austausch in den Kommentaren! [pg]


Eliza
Zachtronics, 12. August 2019
PC, Mac, Linux (GOG, Humble, Steam)
Writer/Director: Matthew Seiji Burns

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