Wer Her Story mochte, wird auch mit Telling Lies seinen Spaß haben. Eine empfehlungsorientierte Einordnung von Sam Barlows neustem „Datenbank-Thriller“ (wer eine Idee für eine bessere Genre-Bezeichnung hat, möge sie bitte in die Kommentare schreiben) wäre damit im Grunde schon abgeschlossen. Auf den ersten Blick scheint Telling Lies gleichzeitig Kopie und logische Erweiterung eines Spielkonzepts zu sein, das sich sowohl in der Kritik als auch in der Spielerschaft bereits bewährt hat. Abermals spielen wir eine Figur, die vor einer Desktop-Oberfläche sitzt. Abermals durchforsten wir mit Hilfe einer Suchmaske eine Datenbank nach etlichen transkribierten Videoclips, um sukzessiv an immer mehr Informationen zu kommen, die uns dabei helfen, den vor uns liegenden Fall zu entschlüsseln.

Doch während sich in Her Story noch auf eine einzelne Schauspielerin und ein konsistentes Setting beschränkt wurde, spielt sich die verschachtelte Geschichte von Telling Lies an vielzähligen Schauplätzen ab und involviert dieses Mal eine ganze Bandbreite an unterschiedlichsten Figuren. Handelt es sich also lediglich um alten Wein, der in neue, größere und schickere Schläuche abgefüllt wurde?

Ich selbst bin zwar noch nicht ganz durch, habe mir allerdings in den letzten Tagen, vor allem aufgrund der teilweise divergierenden Meinungen zum Titel, einige Gedanken zum Spielkonzept gemacht. Oberflächlich betrachtet ist dieses mit dem von Her Story beinahe identisch, jedoch gibt es eine elementare narrative Neuerung: Bei der Mehrzahl der Clips handelt es sich nämlich um Aufzeichnungen von Videogesprächen, bei denen ihr allerdings immer nur eine Partei zu sehen und zu hören bekommt – das heißt, dass sich unter den knapp 170 Schnipseln eine Vielzahl an „gespiegelten“ Perspektiven und Gesprächsfetzen verbergen.

Ähnlich wie in Her Story gibt es auch in Telling Lies keine aufgezwungene Spielweise, nicht den einen „goldenen“ Weg. Insofern bleibt es einem jedem selbst überlassen, mit welchem Ansatz man die umfangreiche Datenbank durchsucht. Versucht man, zunächst alle Namen der Figuren rauszufinden? Orientiert man sich an räumlichen Bezugspunkten und Dingen, die vielleicht im Hintergrund sichtbar sind? Fokussiert man sich primär auf eine Figur?

Auch wenn die meisten Spielenden sicherlich auf eine wilde Mischung aus all diesen Strategien zurückgreifen werden, gibt es doch einen spielerischen Ansatz, der das Potential hat, die resultierende Spielerfahrung in eine etwas andere Richtung zu lenken. Dank der ergänzenden Perspektiven ermöglicht sich nämlich nicht nur, wie in Her Story, die puzzlehafte und stückweise Entschlüsselung eines großen Ganzen, sondern auch die narrative Wiederherstellung komplementärer „Bilder“, respektive Gespräche.

Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich damit. Wo man sonst noch nach generell interessanten Keywords Ausschau gehalten hat, scannt man das vorliegende Gespräch plötzlich nach möglichen Begriffen ab, die die Gegenseite in den vorhandenen Leerstellen genannt haben könnte. Statt des unstrukturierten und zerfaserten Plot-Teppichs, den man sich in Her Story noch Masche für Masche zusammennähte, bekommt man mit diesem Ansatz eine Spielerfahrung präsentiert, die mehr einem abstraktem Theaterstück ähnelt. Die dadurch zeitlich und räumlich zusammengebrachten Gesprächsfetzen sorgen im Umkehrschluss möglicherweise auch für eine nähere und persönlichere Bindung zu den Figuren und deren Beziehungen untereinander.

Denn an diesem Aspekt scheiden sich offenbar die Geister: Während beispielsweise für mich (und meine noch an Her Story orientierte Spielweise) die Entschlüsselung der sich darbietenden Ereignisse im Mittelpunkt steht, erleben manch andere Telling Lies anscheinend viel eher als eine figurengetriebene und emotional involvierende Geschichte, die ihre menschlichen Tragödien in den Vordergrund stellt. Obwohl diese unterschiedlichen Rezeptionen sicherlich zu einem großen Anteil durch abweichende persönliche Geschmäcker entstehen, würde ich zumindest die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass auch der gewählte Spielstil und mit ihm die individuelle narrative „Zurechtlegung“ einen entscheidenden Einfluss auf das Spielerlebnis und die figurenbezogene Wahrnehmung haben.

Eine weitere Betrachtungsweise bezüglich der identifizierbaren Spielweisen ergibt sich aus der Tatsache, dass Videoclips nicht per se von Sekunde Null an abspielbar sind, sondern sich stets nur an den Momenten starten lassen, in denen das momentan gesuchte Keyword genannt wird. Da Zurückspulen aufgrund seiner umständlichen und zeitintensiven mechanischen Umsetzung oftmals sehr mühsam ist, offenbart sich hier möglicherweise eine weitere (bewusst angelegte?) Spielart: Verzichtet man auf häufiges Zurückspulen und orientiert sich stattdessen konsequent an den vorgegebenen Video-Stellen, erzeugt das direkte Springen zwischen Clips, die jeweils in medias res beim gerade genannten Begriff starten, sicherlich einen genuinen erzählerischen Flow, der anderen Spielweisen verwehrt bleiben könnte.

Telling Lies zeigt mit all dem auf, wie bewährte Spielkonzepte bereits durch simple narrative Ergänzungen (wie die perspektivische Aufteilung einzelner Szenen) und minimale mechanische Anpassungen (in diesem Fall die Möglichkeit, direkt von Keyword-Nennung zu Keyword-Nennungen zu springen und die Tatsache, dass sich Clips nicht standardmäßig von Beginn an starten lassen) eine Vervielfältigung der Wahrnehmungsmöglichkeiten und Spielweisen hervorrufen können. Wie auch immer man die Qualität des Titels letztendlich in seiner Gänze bewertet: Diese freigelegte Erkenntnis, so simpel sie letztendlich vielleicht klingen mag, verdient es allemal,  hervorgehoben zu werden.

Habt ihr Telling Lies schon gespielt? Wenn ja, mit welchen Techniken und Ansätzen habt ihr euch dem Spiel angenähert? Schreibt es gerne in die Kommentare! [ja]


Telling Lies
Sam Barlow & Furious Bee / Annapurna Interactive, 23. August 2019
iOS, macOS, Microsoft Windows
Writer: Sam Barlow
Composer: Nainita Desai