Verdammt, Square Enix… Erst setzt ihr die Marketing-Kampagne zu Dragon Quest XI für PS4 komplett in den Sand (einige mögen sich fragen, ob es überhaupt eine gab) und dann kommt ihr an und beschwert euch darüber, dass die Zukunft der Reihe im Westen auf der Kippe stehe, sollten die Leute nicht langsam anfangen, Dragon Quest zu kaufen. Die Switch-Version Dragon Quest XI S genießt stärkeres Marketing, erscheint allerdings in direkter Konkurrenz zu einem neuen Zelda-Remake. Reicht ein Auftritt in Super Smash Bros. Ultimate für den großen Durchbruch im Westen?
Nun gut, ausnahmsweise helfe ich Square Enix ein wenig bei der PR-Arbeit. Ich hätte dabei ja ein schlechtes Gewissen, wäre Dragon Quest XI nicht so ein unfassbar großartiges Spiel. 2017 habe ich es geschafft, diversen Leuten Persona 5 und Yakuza 0 näherzubringen, obwohl diese vorher absolut nichts mit diesen Reihen am Hut hatten. Man könnte also sagen, ich habe Erfahrung im Feld des hartnäckigen Guerilla-Marketing für japanische Nischentitel.
Ganz unkritisch möchte ich die Situation natürlich trotzdem nicht betrachten. Dragon Quest XI hat seine Schwächen – genau wie das absolut großartige Persona 5 auch seine hatte. Gleich vorweg sei aber gesagt: Die traditionelle Ausrichtung des JRPG-Urgesteins gehört nicht dazu. Ohnehin scheint der Ruf Dragon Quests, so extrem „old-school“ zu sein, ein wenig wie der Ruf Dark Souls’, unfassbar schwer zu sein. Es ist alles eine Frage der Perspektive.
Old-school bedeutet im Sinne von Dragon Quest XI nicht, dass die Spielmechaniken veraltet wären oder nur für Retro-affine Spiele taugen. Es bedeutet lediglich, dass es auf gewagte Experimente verzichtet, mit denen Reihen wie Final Fantasy häufiger auf die Nase gefallen sind, als dass es sich ausgezahlt hätte. Dragon Quest XI reduziert sich auf Mechaniken, die schlicht funktionieren. Es schert sich nicht um den überflüssigen Quatsch, den Xenoblade Chronicles 2 uns selbst nach über zwanzig Stunden noch in Form trockener Tutorials den Rachen hinunterpresst.
Wird es dadurch zu simpel? Nein. Selbst das Kampfsystem, welches im Vergleich zu Octopath Traveler oder Trails in the Sky ein wenig simpel wirkt, bietet bis zum Ende genug Tiefe, um jeden Bosskampf aufregend zu halten – aber auch nicht so viel Tiefe, dass Standard-Gefechte zur Fleißarbeit werden. Es überträgt etablierte Mechaniken der goldenen Ära der JRPGs in die Gegenwart und passt sie so an, dass sie auch für Neueinsteiger im Jahr 2018 angenehm und aufregend sind… zumindest nach den ersten fünf bis sechs Stunden, in denen stumpfes Auswählen des „Angriff“-Befehls tatsächlich oft die effizienteste Methode darstellt. Zumindest in den Standard-Kämpfen.
Die latente Sperrigkeit, welche wir häufig mit Retro-RPGs assoziieren, fehlt in Dragon Quest XI vollkommen. Komfortable Schnellreise-Optionen, kein Grinding, keine endlos langen Dialogwüsten und vor allem: keine Zufallskämpfe. Dank der für den West-Release hinzugefügten Renn-Taste ist es kein Problem, geschätzt 99% aller Kämpfe im Spiel auszuweichen, sollte man dies wollen. Für mich persönlich hat es wunderbar funktioniert, nur dann vermehrt gegen Monster zu kämpfen, wenn ich gemerkt hab, dass ich allmählich mal wieder ein oder zwei Level Ups vertragen könnte. Ansonsten habe ich Gegner nur angegriffen, wenn die Monsterdesigns und –Animationen so quirlig aussahen, dass ich mich ihnen unmöglich entziehen konnte – und das kam häufiger vor, als ich zugeben möchte. Selbst Statusprobleme machen in Dragon Quest XI Spaß:
Auf diese Weise balanciert der Schwierigkeitsgrad sich auf natürliche Weise aus. Viele Kritiker redeten zum PS4-Release davon, dass Dragon Quest XI zu leicht sei. Diese hatten dann aber auch stets knapp fünfzehn Stunden Spielzeit mehr auf dem Tacho als ich, weil sie vermutlich links und rechts auf jeden Gegner eingedroschen und dessen EXP gesammelt haben. Legitimer Kritikpunkt – keine Frage. Aber man kann ihn relativ einfach umgehen und nebenbei ein besseres Pacing genießen.
Der unnachahmliche Dragon Quest-Faktor
Das klang jetzt alles danach, als würde Dragon Quest XI ein ziemlich sicheres Spiel spielen. So, als würde sich das Spiel eher durch die Abwesenheit von Schwächen als durch das Vorhandensein von Stärken auszeichnen. Und ganz so falsch ist das nicht. Die größten Stärken der Dragon Quest-Reihe lassen sich nur schwierig empirisch belegen, da sie sich nicht auf kühle Spielmechaniken belaufen.
Stellt euch als Fundament erstmal ein JRPG vor, welches euch über den kompletten Spielverlauf nie auf den Sack geht – ohnehin schon eine ausgesprochene Seltenheit. Selbst Octopath Traveler war für mich letztes Jahr eine Achterbahnfahrt der Höhen und Tiefen. Ich klebte tagelang wie gebannt vor meiner Nintendo Switch, wollte mir ein Drittel der Zeit aber einfach nur die Augen auskratzen. (In der Regel sobald bestimmte Charaktere ihren Mund geöffnet haben.) Solch ein Sturm der Emotionen wird von Dragon Quest XI nicht vermittelt.
Stattdessen ist Dragon Quest XI der absolute Goldstandard der vielzitierten „warmen Decke“, in welche wir uns einwickeln. Aus dem Herzblut, das in dieses Spiel geflossen ist, könnten andere Entwickler zehn Blockbuster entwickeln. Das einzige Franchise, welches in Sachen Liebe zum Detail, Kreativität und Hingabe mit Dragon Quest mithalten könnte, wäre vielleicht Animal Crossing.
Die märchenhafte Erzählung von Dragon Quest XI, welche komplett ohne Fremdscham auslösenden Pathos und jegliche Längen daherkommt, ist da nur der Anfang. Dragon Quest XI erzählt eine klassische Heldenreise, die Kurzgeschichten-ähnliche Ereignisse in einzelnen Städten und Ortschaften elegant zu einem großen Ganzen verflechtet. Diese Art von Stadt-zu-Stadt-Narrative erinnert, gepaart mit der herzerwärmenden Gruppendynamik der Hauptcharaktere, häufig an leichtfüßige Epen wie One Piece.
Diese Qualität ist nicht zuletzt dem erstklassigen Writing sowie den grandiosen deutschen und englischen Übersetzungen geschuldet, welche rein stilistisch in der obersten Liga mitspielen. Jede der etlichen Städte im Spiel hat ihre ganz eigenen sprachlichen Eigenheiten – von einfachen Dialekten bis hin zu komplett in Versform schwafelnden Populationen. Das japanisch-angehauchte Dorf, dessen Bewohner sich nur in Haikus ausdrücken, ist da lediglich die Spitze des Eisbergs.
Und wir reden hier nicht von einer Hand voll Personen pro Stadt. Zwar wird man im normalen Handlungsverlauf nie dazu gezwungen, mit allzu vielen NPCs zu reden. Aber selbst ich – ein extremer Streamliner, wenn um das Ignorieren jeglichen optionalen Contents geht – habe in jeder Stadt jedes Haus durchsucht und jeden kleinsten Bürger angequatscht. Einfach, weil das Dargebotene so unterhaltsam und herzerwärmend war.
Diese Wärme erstreckt sich auf jegliche visuellen Elemente des Spiels. Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters. Aber man kann der Umgebungsgestaltung sowie den aufwendigen Charakter- und Gegnerdesigns von Akira Toriyama ihre handwerkliche Qualität nicht absprechen. Besonders die wunderbar verspielten Animationen lassen selbst die Pokémon-Reihe vor Neid erblassen. Die visuelle Faszination geht so weit, dass nicht nur ich, sondern sogar meine Freundin – ehemals bekennende Akira Toriyama-Hasserin – bei jeder neuen Variation des Schleim-Gegnertypus quietschend vorm Bildschirm saßen. (Nun gut, nur ich habe wirklich gequietscht.)
Ja, die Midi-Qualität des PS4-Soundtracks ist absolut unentschuldbar und ich würde dem erzkonservativen Komponisten (nicht nur deswegen) gerne mal aufs Dach steigen. Aber nach kurzer Eingewöhnung summt man selbst diese PS2-Ära-Instrumentalisierung mit. Auch die Länge des Spiels lässt die Frage offen, ob man nicht – trotz des Fehlens erzählerischer oder spielerischer Längen – an einigen Stellen etwas hätte trimmen können. Tim Rogers sagte in seiner Gamespot-Review zu Dragon Quest XI, das Spiel beinhalte eigentlich drei Vollpreistitel in einem – und wie ich feststellen musste, hat er das wörtlicher gemeint, als ich erwartete.
Dennoch ist es ein klares Zeichen, dass Dragon Quest XI mich in seinen (für mich) knapp über 50 Stunden Spielzeit zu keinem Zeitpunkt gelangweilt hat. Ich weiß nicht, über welches JRPG – oder welches Spiel generell – ich ein solches Loburteil aussprechen könnte. Vielleicht über keines. Ich würde mich nämlich eher zur ungeduldigeren Sorte Spieler zählen und hatte selbst in Persona 5 meine genervten Momente, selbst wenn diese letztendlich nicht allzu schwer ins Gewicht fielen.
Wenn ich mit diesem Text nur einer einzigen Person die Dragon Quest-Reihe nähergebracht habe, hat sich die Mühe schon gelohnt. Seit Dragon Quest XI ist es – zumindest für mich – keine offene Frage mehr, welche RPG-Reihe von Square Enix die beste ist. [pg]
Dragon Quest XI: Streiter des Schicksals
Square Enix, 29. Juli 2017 (Japan), 27. September 2019 (Switch)
PlayStation 4, Nintendo 3DS (nur in Japan), Windows PC, Nintendo Switch
Director: Takeshi Uchikawa
Writer: Yuji Horii
Artist: Akira Toriyama
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. Oktober 2018 auf kritischertreffer.wordpress.com.
Für mich wirkte sich „Dragon Quest ist halt Oldschool“ hauptsächlich in dem Sinne auf XI aus, als dass alles in dem Spiel eine gemächlichere Art angeht. Obwohl ich am Ende meiner 90(! dabei bin ich bei Spielen eigentlich schnell) Stunden dennoch sagen kann, dass das Pacing insgesamt sehr stringent ist, ist der Moment-zu-Moment langsamer, als man das so ziemlich von jedem RPG seit PSX-Zeiten gewohnt ist. Alles dauert in DQXI scheinbar einen Tacken länger.
Kann sich die Reihe in Japan ja auch absolut erlauben. Wenn da ein neuer Teil erscheint, kaufen das vier Millionen Leute und lassen alles stehen und liegen, um DQ so lange zu bezocken, wie das Spiel halt eben braucht.
Ich fand jene chillige und wenig gehetzte Art letztendlich sogar sehr angenehm, aber ich musste da echt erst Mal wieder reinkommen. So bis Hotto war ich noch etwas „meh“ gegenüber DQXI eingestellt, danach hab ich mich dann aber in es verliebt.
Ich bin übrigens auch kein großer Fan von Toriyamas Artstyle, habe aber über Dragon Quest gemerkt, dass dies mehr auf die menschlichen Designs zutrifft und weniger auf seine Monsterdesigns.
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„Stattdessen ist Dragon Quest XI der absolute Goldstandard der vielzitierten „warmen Decke“, in welche wir uns einwickeln.“
Das hat mich überzeugt, das Spiel zu besorgen :)
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… und ich kann bestätigen, es ist eine sehr kuschelige Decke.
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