Bevor Undertale übermäßig skurrile Indie-Games zum Trend gemacht hat, gab es Anodyne. Die erste Assoziation mit dem postmodernen Zelda-like ist häufig schlicht: Seltsam. Und doch fällt es schwer, das Spiel lediglich als „noch ein skurriles Spiel“ abzustempeln. Während das erste Anodyne aber häufig zu wenig greifbar war, wirkt der Nachfolger Anodyne 2: Return to Dust von Beginn an handfester.
Ein klarer roter Faden sowie zentrale Figuren neben der Protagonistin bewahren diesmal das narrative Kartenhaus vorm wirren Mischmasch. Gleichzeitig bleibt Anodyne 2 unberechenbar surreal. Noch immer sprechen die unzähligen NPCs in non sequitur zwischen Alltag und Philosophie. Der Plot kann all die wirren persönlichen Themen und Referenzen nicht im Zaum halten. Doch selbst wenn NPCs die vierte Wand durchschreiten, geschieht dies meist subtil oder zumindest auf eine Weise, die sich kohärent in die übergreifende Tonalität des Spiels integriert.
Also ja – es ist nach wie vor das Seltsame, das Anodyne 2 auszeichnet. Nur ist es diesmal nicht der alleinige Stützpfeiler. Der Hauptplot des Spiels erzählt die Geschichte von Nova, welche als letzte Nano Cleaner(in) die Welt vom Staub befreien muss. Dieser Staub beeinflusst das Leben der Bewohner der Spielwelt auf verschiedene Weisen – meist negativ, manchmal auf zwiespältige Art und Weise. Kleine erzählerische Vignetten begleiten jede Säuberung. Besonders die ambivalenten Fälle, in denen die Befreiung vom Staub keine Schwarz-Weiß-Lösung ist, bringen Würze in die Erzählung.
Die Charakterprogression Novas und anderer zentraler Figuren unterstreicht das insgesamt verkommene und hoffnungslose Gefühl der Spielwelt. Anodyne 2 erzählt keine sonderlich fesselnde Geschichte im klassischen Sinne, wird aber nie uninteressant. Das Elend, welches sich durch alle Facetten der Narrative erstreckt, tritt dank seiner Originalität und Abstraktion nie in die Fallen stereotyper (post)apokalyptischer Settings, genau wie beispielsweise Nier: Automata dies vermeidet.
Der Sprung ins 3D-Zeitalter!
Fast wie in den 90ern: Ein ehemalig zweidimensionales Spiel überträgt sein Spielkonzept in die dritte Dimension! Rein ästhetisch hätte Anodyne 2 diesem historischen Sprung nicht treuer bleiben können. Die Playstation 1-ähnliche Optik kitzelt nicht nur nostalgische Erinnerungen aus Millennials; sie ergänzt außerdem auf wunderbare Weise die Atmosphäre des Spiels. Sicherlich hätte der ausdrucksstarke und einzigartige visuelle Stil auch mit mehr Polygonen und ohne prähistorisches Texture Mapping funktioniert. Doch schon andere Spiele wie Paratopic (oder damals Silent Hill) haben bewiesen, dass weniger manchmal mehr ist.
Durch die Low-Poly-Optik saugt Anodyne 2 uns noch tiefer in seine Spielwelt. Anstatt jedes Detail visuell zu erklären, lässt es uns die Lücken mit unserer eigenen Fantasie füllen. Gleichzeitig sorgen der hohe Abstraktionsgrad sowie die unnatürlichen Animationen dafür, dass die Spielwelt noch fremdartiger und surrealer erscheint. Wenn es einen Grund gibt, Anodyne 2 unbedingt zu spielen, sind es die 3D-Areale, welche trotz ihrer (auch spielerischen) Leere geradezu hypnotisierend wirken. Screenshots werden der Optik leider absolut nicht gerecht.
Der Interaktionsgrad der 3D-Areale beschränkt sich fast ausschließlich aufs Fortbewegen, das Interagieren mit NPCs sowie simple Hüpfeinlagen. Damit hat Anodyne 2 immerhin beinahe die spielerische Tiefe der 2D-Oberwelt des Vorgängers repliziert. Tatsächlich stört der Mangel an Interaktion nur selten; das Betrachten der Umgebungen ist spannend genug. Außerdem findet die richtige Action ohnehin in den Dungeons statt.
Zwischen den dimensionalen Stühlen
In den Dungeons zeigt sich außerdem: Anodyne 2 ist beim Sprung in die dritte Dimension mit einem Bein am Zaun hängengeblieben. Sämtliche Dungeons sehen wir zweidimensional aus verpixelter Vogelperspektive. Doch das beschränkte Budget des Spiels wird gewissermaßen zum Verkaufsargument – denn wo gibt es diesen Ansatz bitte sonst? 3D-Oberwelt, 2D-Dungeons? Das ist zumindest unverbraucht und frisch. Jeder Dungeon repräsentiert einen Charakter oder ein Objekt, in welches Nova mittels ihrer Nano Cleaner-Ausrüstung hineinschrumpft. Im Inneren geht es schließlich darum, den großen Staubquell am Ende zu tilgen.
Spielerisch ähneln die Dungeons stark dem ersten Anodyne, setzen aber in vielerlei Hinsicht einen drauf. Für Neulinge heißt das übersetzt: Die Dungeons sind wie in 2D-Zeldas, nur eben nicht ganz so gut. Sind sie deswegen schlecht? Keineswegs! Doch auch der verstärkte Fokus auf Rätsel sowie die weniger verworrenen Strukturen machen die Dungeons nicht zur Leveldesign-Offenbarung.
Dafür sind die Dungeons kompakt, zahlreich und haben – im Gegensatz zum Vorgänger – eine stärkere eigene Identität. Nicht nur visuell, sondern auch spielerisch. Denn viele der Level haben ein zentrales Gimmick, welches im Verlauf auf kreative Weise iteriert. Immer wieder gibt es stärkere Momente, in denen Anodyne 2 durch schieren Einfallsreichtum oder Subversion bekannter Gamedesign-Stereotype überrascht. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Wrestling in Spielen auch dann funktioniert, wenn der ausgetragene Kampf wirklich nur Schauspiel ist und wir aktiv zur Illusion echter Action beitragen müssen?
Solche Überraschungen kommen häufig komplett aus dem Nichts. Unberechenbarkeit wird dadurch zu einer der großen Stärken des Spiels. Trotz gewisser spielerischer Längen bleibt stets die Vorfreude auf den nächsten Aha-Moment. Durch die allgemein skurrile Tonalität wirkt außerdem kein spontaner Einwurf je deplatziert.
Schon jetzt ein Liebhaberspiel?
Man merkt an allen Ecken und Enden, dass keine Millionen Dollar oder Jahre an Entwicklungszeit in Anodyne 2 geflossen sind. In gerade mal knapp über einem Jahr entstand das komplette Spiel, welches sich seiner Grenzen bewusst ist, diese so gut wie möglich kaschiert und alles, was es nicht kaschieren kann, selbstbewusst am Revers trägt.
Anodyne 2 ist das psychedelisch-experimentelle Garage-Rock-Album unter den Indie-Spielen. Das Gesamtkunstwerk ist einzigartig, authentisch und charmant – nicht trotz, sondern teils auch wegen seiner vielen kleinen Unzulänglichkeiten. [pg]
Das Rezensionsexemplar wurde uns vom Entwicklerteam bereitgestellt.
Anodyne 2: Return to Dust erscheint am 12. August 2019.
Anodyne 2: Return to Dust
Analgesic Productions, 12. August 2019
Windows PC, Mac, Linux (itch.io, Kartridge, GOG, Humble Store, Steam)
Sean Han Tani: Programming, Marketing, Music, Sound, Business, Game Design, World Design, Coding, Subscenario Writing
Marina Kittaka: 2D Art, 3D Art, Animation, Main Story and Subscenario Writing, Game Design, World Design, Character Design
Danke für diese lesenswerte und differenzierte Rezension! Bin eigentlich nur darauf gestoßen, weil ich Anodyne (1) im Bundle for Racial Justice and Equality gesehen habe und per Zufall beim Anschauen unserer Seitenstatistik diesen Artikel entdeckt habe… :)
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