Cyberpunk, Weltraumoper, Krieg der Sterne… Das gibt es in Spielen zur Genüge. Science-Fiction ermöglicht kreativen Spielraum im Gamedesign und boomt vor allem im AAA-Segment. Was einst exotisch war, wirkt heute jedoch zunehmend gleichförmig. Die Unterschiede der Settings zwischen Anthem und Apex Legends mögen auf dem Papier gewaltig sein. Und doch wirken beide sehr ähnlich.
Das ist kein Stich gegen die Fantasie eines Mass Effect oder den Einfallsreichtum der jüngeren Deus Ex-Titel. Jedoch finden wir wahrhaft einzigartige Science-Fiction heute vor allem im Indie-Bereich. Kleinere Studios verwenden kreative und außergewöhnliche Konzepte, welche nicht nur unverbraucht sind, sondern auch perfekt zum Gameplay des jeweiligen Spiels passen. Settings wie das quirlige Pseudo-MMO in CrossCode oder den wirren Weltraumhafen in Diaries of a Spaceport Janitor finden wir nicht an jeder Ecke. Auch Outer Wilds bricht unsere Erwartungen und erinnert dabei häufig an Science-Fiction des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Das galaktische Hamsterrad
Damals wuchs auf der Venus noch ein Urwald und Menschen flogen mit Kanonen zum Mond. Die (sehr) frühe Science-Fiction der Jahrhundertwende bis zum Entsenden des ersten Sputnik-Satelliten zeigt ein Verständnis des Weltalls zwischen Aufklärung und Mondlandung. Auch wenn viele der Spekulationen überholt erscheinen, wirken die Ideen der Sci-Fi-Pioniere heute umso faszinierender. Manche sind wahnwitzig, andere sind erstaunlich nah an modernen Erkenntnissen. Outer Wilds erinnert in erster Linie an die wahnwitzigen Ideen.
In Outer Wilds erkunden wir als namenloser Astronaut ein fiktives Sonnensystem. Unser Ziel wird schnell klar – spätestens, wenn nach den ersten zwanzig Minuten die Sonne explodiert. In 20-minütigen Zeitschleifen suchen wir nach dem Grund und der Lösung für dieses rätselhafte apokalyptische Phänomen. Dafür erforschen wir komplett gewaltfrei die Oberflächen, Höhlensysteme und Bauwerke der insgesamt acht Planeten. Bei unserer Expedition auf und zwischen den Planeten entschlüsseln wir Inschriften einer ausgestorbenen Rasse, entdecken deren kulturelle Überreste und versuchen, aus alledem einen Reim zu machen. Mit jeder Zeitschleife verknüpfen wir mehr Hinweise für die Lösung des kosmischen Rätsels.
Wer nun ein Spiel im Stile eines No Man’s Sky erwartet, liegt gar nicht so daneben. Die Reise von Planet zu Planet läuft grundlegend ähnlich ab. Jedoch ist Outer Wilds deutlich kompakter und vor allem zielgerichteter als die schier endlose Odyssee in No Man’s Sky.
Als uns der Weltraum noch fremd war
Das Spiel ist wie eine Umsetzung naiver früher Weltraumliteratur. Schon das rustikale und rappelnde Raumschiff unserer Figur – eher eine Raumkapsel – erinnert an die improvisierte Methode, welche die Menschheit in Jules Vernes’ Von der Erde zum Mond (1873) anwandte. Auch in diesem Roman reist ein Team mutiger Astronauten in einer Kapsel zum Mond… Und zwar mittels einer 270 Meter langen und 68.000 Tonnen schweren Kanone aus Gusseisen und Aluminium. Wie man es in einer industrialisierten Gesellschaft eben tut.
Nach Vorlage dieses Romans entstand auch Georges Méliès’ berühmter Stummfilm Die Reise zum Mond (1902), welcher unter anderem das folgende ikonische Bild enthielt:
Meine allererste Raumfahrt in Outer Wilds erinnerte mich an exakt diese Szene. Man kennt es ja aus No Man’s Sky oder so ziemlich jedem anderen Spiel über realitätsnahe Raumfahrt: Das Schiff rast mit tausenden Metern pro Sekunde auf den nächsten Planeten zu. Der Planet kommt immer näher, wird immer größer, nimmt irgendwann unseren gesamten Bildschirm ein. Wir erkennen Details, bremsen ab, um zu landen… Doch nicht so in Outer Wilds.
Mein erstes Reiseziel war ein Himmelskörper mit dem Durchmesser eines überdimensionierten Heißluftballons. Nur habe ich das leider zu spät gemerkt. Mit Vollgas flog ich direkt gegen den Planeten, der plötzlich deutlich näher war als ich es erwartet hätte. Das Ergebnis: Eine skurrile Bruchlandung, nach der ich laut auflachte und sofort von Outer Wilds überzeugt war.
Outer Wilds misst seine Welt nicht mit Lichtjahren. Zwischen den einzelnen Planeten liegen jeweils nur ein paar dutzend Kilometer. Selbst der größte Himmelskörper hat nur einen Durchmesser von wenigen hundert Metern. Der Maßstab des Mondes in Méliès’ Stummfilm passt also beinahe zum Verhältnis zwischen Planet und Schiff in Outer Wilds.
Auch in H.G. Wells’ The First Men in the Moon (1901) reisen ein paar etwas zu ambitionierte Wissenschaftler in ihrer DIY-Kapsel ins All. Aber Moment – die ersten Menschen im Mond? Da hat sich wohl ein Tippfehler eingeschlichen! Weit gefehlt, denn H.G. Wells’ neugierige Briten sind tatsächlich nicht nur auf dem Mond, sondern im Mond unterwegs. Im komplexen Höhlensystem entdecken sie eine extraterrestrische Kultur wabbeliger Insektoiden – quasi unsere Nachbarn.
Auch die EntwicklerInnen von Outer Worlds glauben an hohle Planeten – und nicht nur das. Ein Planet, dessen Kern aus einem schwarzen Loch besteht; Planeten, deren Gravitation den einen Zwilling mit dem Wüstensand des anderen auffüllt… Das Verhalten der Himmelskörper bleibt über die gesamte Zeitschleife des Spiels aufregend und unvorhersehbar. Doch die Naturphänomene sind nicht nur in ihrer Kreativität beeindruckend.
Das komplette Sonnensystem scheint zu jeder Zeit komplett im Spiel geladen zu sein. So sind blitzschnelle Reisen von einem Ende der Spielwelt zum anderen möglich. Was passiert also bei einem Sturz in ein schwarzes Loch? Wir tauchen binnen Millisekunden Lichtjahre- pardon, kilometerweit entfernt am anderen Ende der Spielwelt auf. Auf einem der Planeten schleudern Wirbelstürme gar komplette Kontinente in den Orbit. Komplett ohne Ladezeiten steigen wir mit ihnen in den Himmel und stürzen anschließend zurück ins tosende Meer.
Wider den Realismus
Outer Wilds’ Sonnensystem ist geradezu irrsinnig, doch genau deshalb macht das Erkunden so viel Spaß. Selbst ohne spürbaren Fortschritt beim übergreifenden Ziel unterhält das Bereisen der fremden Welten für Stunden.
Das Spiel findet die perfekte Balance zwischen Fantastik und Realität. Die Welt ist naiv, aber das Abenteuer bleibt real. Grund für Letzteres ist unter anderem die hervorragend simulierte Physik, welche uns sowohl im Schiff, als auch zu Fuß (oder freischwebend im Vakuum) einiges abverlangt. Auch der begrenzte Sauerstoffvorrat sorgt immer wieder für spannende Situationen. Outer Wilds ist an genau den richtigen Stellen bodenständig – selbst wenn wild wuchernde Weltraumflora unseren O2-Vorrat auffüllt.
Im Jahr 2019 erkunden Drohnen den Mars und Bestseller wie Andy Weirs The Martian haben dadurch ihre ganz eigene Faszination. Dennoch hätten Stanley G. Weinbaums A Martian Odyssey (1934) oder Ray Bradburys The Martian Chronicles (1950) deutlich bessere Videospiele ergeben. Es muss eben nicht immer Hard Sci-Fi sein. [pg]
Outer Wilds
Mobius Digital / Annapurna Interactive, 29. Mai 2019
Xbox One, Windows PC
Director: Alex Beachum