In den späten 1980er Jahren schufen Regisseure wie John Woo und Ringo Lam eine neue Ästhetik des Actionfilms: Mit kompromisslosen „Blutopern“ wie A Better Tomorrow (1986), City on Fire (1987), The Killer (1989) und Hard Boiled (1992) katapultierten sie das Actionkino Hongkongs in ein neues goldenes Zeitalter.
In den 1990ern konnten sie Elemente ihres Stils auch nach Hollywood exportieren: Hechtsprünge mit feuernden Kanonen, rabiate Shootouts auf engstem Raum und nicht zuletzt die charakteristischen Zeitlupensequenzen, die von dort in westliche Computerspiele übersprangen. Max Payne (2001) ist vermutlich der bekannteste Titel, der sich dieser Stilmittel bedient, tauschte die postmoderne Urbanität Hongkongs allerdings gegen eine melodramatische Noir-Atmosphäre. Aber auch Activisions frühe GTA-Kopie True Crime: Streets of L.A. (2003), das unter Beteiligung John Woos entstandene Stranglehold (2007) und schließlich Sleeping Dogs (2012) folgten der Bildsprache der Hongkong-Altmeister und zitierten oft auch in ihren Settings die Klassiker des Heroic Bloodshed-Genres.
Blut, Blei und bergeweise Leichen hinterlässt auch der namenlose Protagonist des Indie-Hits Hotline Miami, bedient dabei aber eine ganz andere Ästhetik. Mit Hotline Miami entwarf das schwedische Entwicklerduo Dennaton Games 2012 eine neue Art von Twin-Stick-Shooter, der die abgedroschenen Weltraumgefechte in den Ruhestand schickte und die lasterhafte Welt von Scarface und Miami Vice in groben Pixel neu belebte. Und in dessen grotesker Narration überdies eine gehörige Portion David Lynch mitschwang. Heroisch war an diesem irren Blutvergießen nichts.
Hard Boiled
Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung – das müssen sich auch die beiden Entwickler hinter VRESKI gedacht haben, ebenfalls zwei Schweden. Mit dem Begriff der „Hommage“ ist das Ergebnis ihres Schaffens wohlwollend beschrieben: The Hong Kong Massacre schickt sich an, die Ästhetik des Heroic Bloodshed-Genres mit dem blitzschnellen Arcade-Gameplay der Hotline Miami-Reihe zu kombinieren.
Den direkten Vergleich mit Dennatons Kritikerliebling wird sich The Hong Kong Massacre deshalb allerdings gefallen lassen müssen, und bekanntermaßen legte Hotline Miami die Latte ziemlich hoch. Wem das Miami der 80er noch in den Knochen steckt, der dürfte im Hongkong der 90er zunächst einige Spielmechaniken schmerzlich vermissen: Die Möglichkeit, Gegner schnell und lautlos im Nahkampf auszuschalten oder die (zugegeben eher alberne, und deshalb hier auch fehl am Platz gewesene) Möglichkeit, sie durch das abrupte Öffnen einer Tür geradewegs K.O. zu schlagen. Auch bei der Feind-KI ist Umdenken angesagt: In Miami war es strategisch sinnvoll, behutsam vorzugehen und möglichst wenige Gegner zugleich auf sich aufmerksam zu machen – oder aber gezielt Radau zu machen, Deckung zu suchen und anbrandende Verfolger im Schutz der nächsten Engstelle niederzumähen. Wirklich offensive Ballereien waren allenfalls ein Ding für Profis.
In VRESKIs Hong Kong Massacre ist das alles etwas anders. Von Schusswechseln in benachbarten Räumen zeigen sich unsere Gegner in der Regel unbeeindruckt und werden meist erst dann auf uns aufmerksam, wenn wir uns ihrer in den eigenen vier Wänden annehmen. Das wirkt zunächst nicht sonderlich nachvollziehbar und viele mögen die KI auf dieser Basis als dumm abstempeln. Dem Gameplay tut dieses Verhalten allerdings eher gut – verlangt es doch von den Spielern ein weitaus offensiveres Vorpreschen. Dass ein solches tatsächlich möglich ist, obwohl unser Held wie auch in Hotline Miami nach einem Treffer das Zeitliche segnet, verdanken wir nützlichen Spezialmanövern, die konsequenterweise den filmischen Vorbildern entlehnt sind: Zum einen ist es möglich, das Geschehen auf Knopfdruck in Zeitlupe ablaufen zu lassen, um exakter zielen und heransausenden Kugeln ausweichen zu können. Da sich die Leiste dieser Fähigkeit meist schneller wieder auflädt, als wir sie verbrauchen, dürfen wir ausgiebig von ihr Gebrauch machen. Darüber hinaus können wir – in Zeitlupe oder ohne – mit Hechtsprüngen und Slides selbst die dichtesten Kugelhagel-Breitseiten untertunneln und somit auch als Mittelpunkt eines ansonsten unausweichlichen Kreuzfeuers noch einmal mit dem Schrecken davonkommen.
Im Zusammenspiel mit der anders gelagerten Gegner-KI ermöglicht dieses Bewegungsrepertoire ein unterm Strich viel aggressiveres Vorgehen, eine blanke Rücksichtslosigkeit, die wir im Spielverlauf mehr und mehr verinnerlichen. Das Resultat ist ein erstaunlich andersartiges Spielgefühl und eine im Vergleich zu Hotline Miami letztlich größere Eigenständigkeit, als ich sie in den ersten Spielminuten für möglich gehalten hätte.
Because I’m Cool
Um es noch einmal ganz klar zu sagen: The Hong Kong Massacre macht Laune. Unter Umständen könnte es sogar mehr Leuten mehr Laune machen, als Hotline Miami, nicht zuletzt denen, die sich vom krudem Look der Dennaton-Produktion abgeschreckt fühlten. Die geschliffene Präsentation von The Hong Kong Massacre lässt im Unterschied dazu fast vergessen, dass wir es auch hier mit einem waschechten Indie-Game eines gerade einmal zweiköpfigen Entwicklerteams zu tun haben. Etwas zu glatt wirken sie hin und wieder, die nächtlichen Szenarien unter dem Neon-Lichtermeer der Großstadt, aber doch auch sehr stilsicher und stilvoll, vor allem im Einsatz der Beleuchtung. Wenn die Kugeln fliegen, Einrichtungen bersten und Blutlachen die Böden zieren, sieht The Hong Kong Massacre nicht nur prachtvoll aus, sondern macht auch technisch eine gute und stets ruckelfreie Figur. Lediglich das starke Tearing sprang in der von mir gespielten PlayStation 4-Fassung negativ ins Auge, ohne aber dem Spielgenus im Weg zu stehen.
Genauso gelungen ist der Sound und insbesondere die Musik, die den Credits nach zu urteilen das Einzige am Spiel ist, was das Entwicklerduo VRESKI von einer weiteren Person beisteuern ließ. Von lässig über verspielt, bis hin zu bedrohlich treibend, klingt der Soundtrack weitaus moderner als die typischen Musikuntermalungen der filmischen Vorbilder, passt aber perfekt zur Action auf dem Bildschirm. Deshalb lässt sich auch damit leben, dass die Zahl der Musikstücke recht überschaubar ist.
Muss ich dem Spiel eine Sache ankreiden, dann vermutlich den Mangel an Abwechslung. Hier merkt man dann doch, dass zwei Leute an dem Spiel saßen, und nicht zweihundert, und so ähneln sich die einzelnen Levels spielerisch und optisch doch sehr. Mit 35 Missionen an der Zahl ist The Hong Kong Massacre immerhin recht umfangreich. Denn auch wenn eine Mission im Erfolgsfall kaum länger als ein oder zwei Minuten dauert, habe ich mir ob des Schwierigkeitsgrades an einzelnen Levels oft eine halbe Stunde oder länger die Zähne ausgebissen. Die Schwierigkeitskurve ist trotzdem gut gelungen, und als ich nach dem ersten Spieldurchlauf in die einst so herausfordernd erschienenen frühen Missionen zurückkehrte, war ich überrascht, wie leicht mir diese inzwischen inzwischen von der Hand gingen. Das spornt an, sich auch den optionalen Challenges zu stellen. Davon gibt es in jeder Mission drei: Eine bestimmte Zeitvorgabe unterbieten (relativ einfach). Den Level ohne Gebrauch der Zeitlupenfunktion beenden (schon schwieriger). Keine einzige Kugel ins Leere zu feuern (eine verdammte Friemelei). Kombiniert mit optionalen Online-Leaderboards und dem motivierenden Upgradesystem der vier hervorragend balancierten Waffen, konnte ich so eine ganz stattliche Spielzeit mit The Hong Kong Massacre genießen und habe sicherlich noch einige Stunden vor mir.
Fazit
Es war gerade erst ein paar Wochen her, dass ich Hotline Miami nachgeholt hatte und so erschien mir The Hong Kong Massacre anfangs als müder, wenn auch hübsch neonglänzender Abklatsch, der sich weniger auf den Punkt anfühlte als sein Vorbild und dem wichtige Mechaniken augenscheinlich fehlten. Den audiovisuellen Qualitäten sei Dank hatte ich trotzdem meinen Spaß – und als ich mich erst einmal im Hongkong der 90er akklimatisiert und meine alten Gewohnheiten über den Haufen geworfen hatte, machte sich irgendwann die unerwartete Erkenntnis breit: Ja, The Hong Kong Massacre ist tatsächlich das bessere Spiel. Lediglich die durch und durch uninspirierte Rachegeschichte, über die ich bis hierher aus purer Langeweile noch kein Wort verloren habe, kann mit der doppelbödigen Story und dem „environmental storytelling“ von Hotline Miami nicht im Ansatz mithalten. Immerhin drängt sie sich abseits von sekundenkurzen Cutscenes aber auch nicht auf. Und wer Action und eine Handlung sucht, der schaue doch noch einmal Actionklassiker von John Woo. [sk]
Diese Kritik erschien zuerst im April 2019 in Ausgabe #9 des GAIN-Magazins. Ein kostenloser Download-Code wurde mir bzw. dem GAIN-Magazin vom Hersteller zur Verfügung gestellt.
Für die kommende Ausgabe #10 des GAIN-Magazins schrieb ich den Artikel „Fleischeslust – Pandora’s Tower zwischen Mythos und Misogynie“ und spreche darin unter anderem über das ambivalente Frauenbild des Wii-Geheimtipps.
Das Heft erscheint am 30. Juni und kann auf gain-magazin.de vorbestellt werden. Es kostet 5 Euro oder 8 Euro für die Förderausgabe und umfasst 94 Seiten.
The Hong Kong Massacre
VRESKI, Januar 2019
PlayStation 4, Windows PC
Musik: Professor Kliq
Quelle Screenshots: Eigene Screenshots aus der PS4-Version