Was macht man, wenn man krank ist und im Delirium vor sich her vegetiert? Richtig, man schnappt sich drei Walking Simulatoren, die noch ungespielt in der eigenen Steam-Bibliothek herumlungern, und spielt diese. Und dann schreibt man einen subjektiven Erfahrungsbericht, der wahrscheinlich selbst mit einer Prise Fiebertraum gewürzt sein wird. Eine andere Antwort auf die Ausgangsfrage wäre mir auch nicht eingefallen. Es folgt: ein Experiment.
The Wood
In schlichter Polygon-Optik starte ich unmittelbar im leicht nebeligen Dickicht eines Waldes. Statt vom Startmenü gemächlich ins Spiel übergeleitet zu werden, wie man es sonst kennt, blendet sich hier selbiges einfach aus und übergibt mir sofort Kontrolle – bereits der Start-Hintergrund entpuppt sich damit als zuvor maskiertes Spielelement. Die schnelle Übergabe dieser Kontrolle schlägt jedoch schon bald in Überforderung um und weist mir schnell meine Grenzen auf. Unfokussierte Freiheit beherbergt stets ein Element von Ziel- und Orientierungslosigkeit, und vor allem letztere wird mir nur allzu rasch bewusst. Gefangen in dieser plötzlichen, einschüchternden Autonomie, versuche ich, mich meiner räumlichen Situation bewusst zu werden, stolpere los durch die waldige Region und kurze Zeit später über eine auflesbare Landkarte. Nicht unweit davon finde ich zudem noch einen Kompass. Die Karte besteht aus einer etwas ungenauen, krakelig gezeichneten Darstellung meiner Umgebung. Ich versuche kurz, meine eigene Position inmitten der minimalistisch verzeichneten Teiche, Baumarten und Berge zu finden, gebe aber relativ schnell auf. Also mache ich das Erstbeste, das mir übrig bleibt: In eine beliebige Richtung loslaufen und sehen, ob und wenn ja was mich hier erwartet.
Und tatsächlich: Kleine blaue Lichtpunkte, die mir schon Kompass und Landkarte als aufnehmbare Gegenstände markiert haben, finden sich offenbar an den unterschiedlichsten Orten der über alle Maßen weitläufigen Landschaft wieder. Durch sie fallen mir mit zunehmender Spielzeit weitere Gegenstände in die Hände, beispielsweise eine Angel oder ein Fernglas. Viel öfter stoße ich jedoch auf unterschiedlichste schriftliche Hinterlassenschaften. Ausgehend von meiner Rolle als vollkommener Ahnungsloser, erschließe ich mir so nicht nur den konkreten physischen, sondern auch den scheinbar verloren gegangenen Wissensraum dieser dystopisch-leeren Welt. So ganz sicher bin ich mir aber immer noch nicht, was hier genau passiert ist. Anscheinend befinde ich mich im menschenverlassenen Amerika der Zukunft. Es gab Konflikte aufgrund einer Technologie, die Unsterblichkeit versprach. Eines führte zum anderen, es gab gegenseitige Abschottungen von verschiedenen Gruppierungen der Bevölkerung, und schließlich… verschwanden die Menschen? Lediglich vereinzelte Tiere finde ich auf meinen Streifzügen durch die verlassene Tristesse jenes Spiels, das sich selbst als „post-human“ bezeichnet. Und selbst diese werden meist Opfer meines gerade aufgelesenen Bogens, um zur Lösung für mein permanentes Hungerproblem zu werden.
Allmählich merke ich jedoch, wie ich dem Ganzen müde werde. Mittlerweile habe ich eine große Menge an Notizen, Flyern und Briefen gesammelt, deren neue extrahierte Informationen über die Umgebung mich wiederum an die entlegensten Orte dieser seltsamen Welt führen wollen. Doch die weitläufigen Wege werden trotz der teilweise faszinierenden polygonalen Flora zur Last. So sehr ich es geliebt habe, bei Nacht durch ein Meer an Glühwürmchen zu waten oder bei verregneter Atmosphäre den seichten Klängen des beruhigenden Soundtracks zu lauschen, heißt es nun Abschied zu nehmen.
Mein Wandergang führt mich weiter, in eine vollständig neue Umgebung, die geprägt ist von einem Grad der Abstraktion, der den vorigen noch übertrifft…
The Weird
Wo bin ich? Bin ich? Ein schwarzes Nichts, das nur geschmückt ist von einem sich langsam aufknotenden weißen Knäuel, irgendwo, ganz weit weg von mir. Ich beobachte das Ganze, aber anders als noch in meiner vorigen Situation, ist meine Handlungsfähigkeit hier geprägt von… Abwesenheit. Für mehrere Minuten bin ich lediglich der hilflose Beobachter eines sich langsam entfaltenden Wusts von schwarzweiß getränkten Formen und Bewegungen. Die Undefinierbarkeit dieses Schauspiels, so schwer lässt sie sich beschreiben, durchläuft allmählich einen Wandel hin zum Konkreten, und endet schließlich damit, dass mir die Sicht freigegeben wird auf ein Konstrukt, das einer unebenen Kugel ähnelt. Eine Metapher für die Entstehung des Seins? Des Universums? Die Entwicklung vom ungeordneten Chaos hin zur geordneten Struktur?
Ich stehe auf einem schmalen Steg, links und rechts von mir tosen die Wellen. Vor mir offenbart sich ein Gebäude, und beflügelt von der Befreiung meiner interaktiven Gefangenheit von gerade eben spurte ich sogleich los, rein in das ungewisse Innere der schwarzweißgrauen Anlage. Dort drinnen erwarten mich verschachtelte Gänge und irreführende Treppen. Ein Ort, der Struktur verspricht, aber inhärent immer noch chaotisch und überfordernd wirkt. Licht und Schatten geben sich hier in den verwobenen Korridoren in einem stetigen Wechselspiel die Hand und führen mich nur weiter ins Innere. Doch allmählich scheint die Struktur selbst porös zu werden.
Mein Sichtfeld verdunkelt sich ein ums andere Mal und ich finde mich wieder in neuen, auszughaften Momenten der räumlichen Erfahrung. So werde ich für einige Sekunden in einem leicht sepiafarbenen Raum zum Beobachter einer kugelartigen, in der Luft schwebenden Struktur, die sich aus vielen kleinen schwarzen Strichen oder Stangen zusammensetzt und einen wilden Tanz veranstaltet. Kurze Zeit später bin ich an einem Ort, der einer Wüste gleicht und mit seiner sich im fernen Hintergrund auftürmenden Struktur eines futuristischen (aber irgendwie unnahbaren) Wolkenkratzers ein seltsames Gefühl der Abgekapseltheit präsentiert.
Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Was ich zuletzt zu Gesicht bekam, bietet nochmals eine völlig neue Lesart und versucht einen Einklang zu schaffen zwischen Abstraktion und Erfahrung. Doch ich werde meine Zunge hüten, seht selbst.
Stattdessen mache ich mich auf zu meinem letzten Abstecher, ein letzter Spaziergang der mich zurückholt in eine vermeintlich vertrautere Umgebung, die zuerst Heimeligkeit verspricht, die sich aber kurz darauf entpuppt als…
The Ugly
Hässlichkeit. Ich stehe in einer Wohnung. Genauer gesagt in einer Küche. Vor dem Fenster sehe ich sanfte Schneeflocken langsam zu Boden fallen. Ich befinde mich in einem höheren Stockwerk eines schlichten Plattenbaus. In der Küche kann ich mit allerlei Dingen interagieren: Mein Kühlschrank ist gefüllt mit Nahrungsmitteln, die ich herumtragen oder direkt essen kann, und auch die vielzähligen Küchenutensilien, die mich umgeben, sind potentielle Opfer meiner interaktiven Experimentierfreude. Auf Knopfdruck ertönt aus dem Küchenradio die Stimme einer Frau, die kryptische Worte von sich gibt. Ich kann kein Russisch und verstehe daher nur die ins Englische übersetzten Zeilen. Ich weiß nicht, ob die Übersetzung Schuld daran trägt, aber die Worte der Unbekannten fühlen sich ein wenig an wie rostige Poesie, die mit einer Eisenstange in schnöden Beton gekratzt wurde. Hässlich und etwas trostlos.
Hier in meiner Wohnung bin ich noch Herr über die Dunkelheit, in die ich unvermittelt hinein geworfen wurde – zumindest, nachdem ich die Lichtschalter gefunden habe. Draußen schneit es durchgehend, die einzigen Lichtquellen sind vereinzelte Straßenlaternen, die ihren gelblichen Schimmer auf die dicken Schneemassen projizieren. Nachdem mir die vier Wände meiner Wohnung auf den Kopf zu fallen drohen, wage ich mich ins Treppenhaus und nach draußen. An den Türen, die ich bei meinem stockweisen Abstieg passiere, kann ich zwar klopfen, doch empfängt mich keine Antwort. Als ich schließlich aus dem Gebäude trete, finde ich mich in einem kleinen Innenhof mit einem provisorischen Spielplatz wieder. Die anderen Gebäude, die den Innenhof einzirkeln, sehen genauso aus wie jenes, das ich gerade verlassen habe. Irgendwo in der Ferne vernehme ich das Brummen eines Motors.
Ich verlasse den Innenhof und gelange auf eine Straße, auf der ein Schneepflug seine Runden dreht. Ins Innere der Fahrerkabine lässt sich nicht schauen; die Maschine fährt nur unbeirrt weiter ihren Weg entlang. Auch ich beginne, die Straße entlang zu laufen, und merke schließlich, wie sich der Schneesturm verdichtet und ich plötzlich in einem durchdringenden Weiß gefangen bin. Orientierungslos stolpere ich weiter, vorbei an Bäumen und noch mehr Schnee, bis ich irgendwann am Horizont wieder etwas Klarheit erkenne – ich bin wieder am Ausgangspunkt der Straße, auf der der Schneepflug noch immer langsam vor sich her tuckert. Das ganze Spiel wiederholt sich, als ich es mit einer anderen Himmelsrichtung versuche und mich in ein kleines Waldgebiet begeben möchte. Was ich auch mache: Ich scheine gefangen zu sein in dieser verschneiten Vorhölle, die der Entwickler selbst als „post-soviet“ und „russian sadness“ bezeichnet.
Ich habe genug von der Kälte. Nachdem ich den Eingang meines Wohnhauses endlich wiedergefunden habe (was sich als schwieriger herausstellt, als ich dachte), begebe ich mich zurück in meine eigenen vier Wände und in mein schlichtes Schlafzimmer. Hiervon geht zwar ebenfalls eine gewisse Tristesse aus, jedoch gibt mir das Wohnungsinnere zumindest eine Art vertrautes Gefühl, um besser mit dieser umgehen zu können. Ich glaube, ich habe für heute genug gesehen. Licht aus. [ja]
Eidolon
Ice Water Games, 2014
Windows PC, Mac
Fugue in Void
Moshe Linke, 2018
Windows PC, Mac
ШХД: ЗИМА / It’s Winter
ИЛЬЯМАЗО, 2019
Windows PC, Mac