Im Jahr 1348 begann die schlimmste Pestpandemie der menschlichen Geschichte. Binnen fünf Jahren tötete die Seuche ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Ein geläufiger Name für die Krankheit war Schwarzer Tod. Ebenso schwarze Hausratten sollen, laut Volksmund, für die enorme Verbreitung der Pest verantwortlich gewesen sein. Doch moderne Erkenntnisse widerlegen die Schuld der Tiere. Ein frühes Argument für deren Unschuld lautete: Im Europa des 14. Jahrhunderts hätten gar nicht genug Ratten existiert, um den Pesterreger derartig effizient zu verteilen. Die Ratten von A Plague Tale: Innocence hätten damit keine Probleme gehabt.
Bis zu 5.000 Ratten wuseln (angeblich) gleichzeitig über den Bildschirm. Eine Zahl, bei welcher selbst die Dynasty Warriors-Entwickler vor Neid erblassen… und Phobiker Reißaus nehmen. Das Meer aus Ratten ist pechschwarz; genau wie der Schwarze Tod. Welch ein Zufall.
Die Ratten sind zugleich Allegorie und physische Manifestation der Pest. Als solche ermöglichen sie spielerische Interaktion mit der Krankheit. Sowohl der Hauptkonflikt, als auch der Großteil der Rätsel von A Plague Tale dreht sich um die lichtscheuen Ratten. Meist geht es darum, sie zu lenken, sie zu manipulieren oder ihnen auszuweichen. Denn besiegen lassen sich die Nagetiere nicht. Wie Wasser bahnen sie sich den Weg des geringsten Widerstandes zwischen Lichtquellen zu jeglichem Frischfleisch, das bei drei nicht im Lampenschein ist.
The Last of de Rune
Die adligen Geschwister Amicia und Hugo de Rune flüchten nicht nur vor Ratten, sondern auch vor der britischen Inquisition – kein unglaubwürdiges Szenario in dieser frühen Periode des Hundertjährigen Krieges. Aus anfangs unerklärlichen Gründen hat die Inquisition großes Interesse am jungen Hugo und dessen mysteriöser Erbkrankheit. Die britischen Soldaten überfallen den Adelshof der Familie de Rune und massakrieren sämtliche Bedienstete. Amicia und Hugo sind – dem Opfer ihrer Eltern zum Dank – die einzigen, die entkommen können. Es entsteht ein Spannungsdreieck zwischen den Hauptcharakteren, der Inquisition sowie der unbändigen Rattenplage.
A Plague Tale ist das erste eigene Spiel der französischen Asobo Studios seit dem 2008 erschienenen Rennspiel Fuel. Zwischendurch halfen sie bei diversen Lizenzspielen, Ubisofts The Crew sowie einigen Microsoft-Produktionen wie ReCore oder Zoo Tycoon. Viel hat sich getan seit 2008 und A Plague Tale trägt seine größte Inspirationsquelle des letzten Jahrzehnts unverkennbar auf der Brust.
Die Parallelen zu The Last of Us sind nahezu erdrückend. Zwei Hauptcharaktere mit Altersabstand, sterbende Familienmitglieder, eine unkontrollierbare Plage bedroht sämtliche Menschen – egal, ob gut oder böse… Und natürlich: schleichen, Steine schmeißen und Kisten schieben. Erzählerisch und strukturell orientieren Asobo Studios sich am großen Vorbild. Doch wer dachte, The Last of Us sei linear, hat A Plague Tale noch nicht gespielt.
I Want to Hold Your Hand
Das Spiel hält unsere Hand so fest wie Amicia de Rune die ihres kleinen Bruders. Fast sämtliche Rätsel folgen rigidem binären Design. Meist gibt es nur einen bestimmten Lösungsweg und häufig ist selbst dieser mit wenig Denkschmalz zu erraten. Spätestens nach einer Minute des Grübelns sorgt ein begleitender Charakter oder ein innerer Monolog für den entscheidenden Tipp.
Den menschlichen Widersachern der Schleichpassagen hingegen fehlt nicht nur ein peripheres Sichtfeld, sondern auch jegliches Maß an Flexibilität. Selbst die Schlosspatrouillen in Ocarina of Time waren 1998 weniger berechenbar als A Plague Tales Pappkameraden.
Seichte Survival- und Crafting-Elemente erschaffen eine Illusion von Unsicherheit, doch schnell wird klar, dass die Ressourcen des Spiels nie knapp werden können. Rätsel und Kämpfe sind unabwendbar auf einen Überfluss an Items angewiesen. Wo Ratten sind, muss auch Brennstoff sein, um sie zu verscheuchen – ansonsten geriete das Spiel in eine Sackgasse. Zum Glück gewinnt Amicias Arsenal im Laufe des Spiels gehörig an Varianz. Auch wenn Lösungsansätze nach wie vor eindimensional bleiben, wird die Herausforderung dadurch selten langweilig.
A Plague Tales eng geskriptete Spielszenarien sind Schwäche und Stärke zugleich. Die Tricks des Spiels sind einfach zu durchschauen, aber der Zauberhut ist tief genug, um immer wieder neue Häschen (oder Ratten) auszuspucken. Trotz ihres geringen Anspruchs tauchen nur wenige Hürden und Ideen so häufig auf, dass sie sich abnutzen könnten.
Ein Balanceakt mit Sicherheitsgurt
A Plague Tale ist ein Spiel, welches weder überfordert, noch unterfordert. Die goldene Mitte des Spielflusses trägt wunderbar zum Pacing der Geschichte bei. Die durchweg liebenswürdigen Hauptcharaktere und die erfrischende Ästhetik des mittelalterlichen Frankreichs machen selbst schnöde Laufpassagen charmant und unterhaltsam.
Trotz des ganzen Händchenhaltens hat die Beziehung zwischen den Geschwistern Amicia und Hugo jedoch ihre Startschwierigkeiten. Genau wie die Spielenden hat auch Amicia anfangs keine sonderlich enge Verbindung zu ihrem Bruder. Bedingt durch Hugos rätselhafte Krankheit lebten die Geschwister vor Beginn der Handlung in kühler Distanz. Der größte intrinsische Motivator, den Bruder im frühen Handlungsverlauf zu beschützen, geht somit verloren. Bis zum Ende erreicht die Beziehung zu Hugo nie den emotionalen Grad einer Elli in The Last of Us – obwohl A Plague Tale vor allem im letzten Viertel versucht, uns mit ähnlichen Tricks zu erreichen.
Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr entmystifiziert sie auch den Horror der Rattenplage. Gleichzeitig verwischt das Spiel immer weiter die Parallelen zwischen fiktiver übernatürlicher Plage und realer Pest. Brauchte es anfangs nur eine Prise „suspension of disbelief“, so benötigt der „What if“-Charakter des dargestellten Mittelalters später einen ganzen Eimer.
A Plague Tale beginnt mit beiden Stiefeln fest auf dem französischen Boden: Zwei hilflose Kinder ohne lächerliche Videospielwaffen kämpfen mit Steinen und Fackeln ums blanke Überleben. Angenehm frisch für Spiele dieses Genres sind beide Charaktere geradezu machtlos.
In bestimmten Momenten versucht das Spiel, durch Interaktivität die Grausamkeit und die ethischen Konflikte eines Kampfes um Leben und Tod zu betonen. Es scheitert daran, dass auch diese Momente fast immer so schwarz-weiß sind wie jegliche anderen Interaktionen. Wenn Amicia den sterbenden Soldaten in Brand stecken muss, um mit seinem lodernden Leichnam Ratten zu vertreiben, führt daran kein Weg vorbei. Die einzige Handlungsalternative wäre, das Spiel abzubrechen. Dieses verschenkte Potential ist besonders ärgerlich, weil A Plague Tale an anderen Stellen durchaus weiß, wie man einen emotionalen Schlag in die Magengrube austeilt.
Zwei kurze Absätze mit vagem Mini-Spoiler: Später dreht A Plague Tale sein Spielprinzip komplett auf den Kopf. Ging es das gesamte Spiel darum, Feuer zu entfachen und Gegner zu vermeiden, ist nun das genaue Gegenteil der Fall. Diese Umkehr gibt dem Finale die nötige Würze, auch wenn A Plague Tale hier vermehrt ins Straucheln gerät. Durch das konfrontative Gameplay steigt der Frust mit der Anzahl der Bildschirmtode.
Denn Amicia ist auch nach dem Gangwechsel auf Action immer noch so fragil, dass sie nach einem Treffer stirbt. Dies führt zu stupidem Trial-and-Error, welches das ansonsten so makellose Pacing des Spiels ruiniert. Wie David Cage in einem seiner wenigen brauchbaren Zitate schon sagte: Game Overs ergeben in einer Story-getriebenen Erfahrung keinen Sinn. Gerade weil das Spiel keine verschiedenen Schwierigkeitsgrade bietet, könnten narrativ interessierte SpielerInnen ohne Action-Erfahrung hier plötzlich vor Probleme stoßen.
Was nach dem Ende der Geschichte hängenbleibt, ist ein wunderbar unterhaltsamer Trip durch ein unverbrauchtes Setting. A Plague Tale ist nicht komplett frei von Gewalt als treibende Spielmechanik, doch es trifft einen angenehmen Pfad zwischen „Walking Simulator“ und Action-Blockbuster à la Naughty Dog. Es ist wie ein sehr guter Jugendroman, der von Anfang bis Ende mitreißt, aber außer historischer Immersion und gelungener Dramaturgie nicht viel Substanz im Abgang bietet. Man darf nur nicht zu sehr auf die unsichtbaren Fäden im Hintergrund achten, welche die Mehrzahl der Mechaniken trivialisieren. [pg]
A Plague Tale: Innocence
Asobo Studios / Focus Home Interactive, 14. Mai 2019
PS4, Xbox One, PC
Directors: David Dedeine, Kevin Choteau
Writer: Sébastien Renard
Quelle Titelbild: Pressematerial
Screenshots: eigene Screenshots (gespielt auf PS4 Pro)
Ohhh, ein toller Artikel! Warum lese ich den denn erst jetzt? *grübel* Hat mir äußerst gut gefallen und ich kann mich in allen Punkten nur anschließen.
Ich fand es einen prima Storytelling-Trick, dass Amicia auch im Spiel Hugo kaum kennt. Dadurch entsteht keine Diskrepanz zwischen dem Empfinden der Figur, mit der ich mich identifiziere (also Amicias) und meinem eigenen. Aber ja, so richtig eng wird die Bindung bis kurz vor Schluss nicht. Obwohl ich den kleinen Kerl dann irgendwie doch ins Herz geschlossen habe… :)
Danke auch für deinen äußerst erfrischenden Schreibstil und die kreativen Überschriften – da hat das Lesen gleich noch viel mehr Spaß gemacht! :)
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