Ein Gastbeitrag von Marcus Klöppel
im Rahmen des Gastautoren-Specials GASTSPIELER III.
Eine junge Frau sinkt in die schwarzen Tiefen eines scheinbar bodenlosen Meeres, umhüllt von einem bläulichen Leuchten. Gehüllt in Luftblasen scheint sie gerade erst ins Wasser gestürzt zu sein. Obwohl sie ihre Hand nach oben streckt, wirkt die Szene friedlich, zugleich melancholisch und beinahe schon beruhigend.
Dieses Bild, befestigt an einer Häuserwand, strahlt eine Ruhe aus, wie sie an diesem Ort nur selten erlebt wird. Es hängt über dem dunklen Wasser der Moldau. Dieses Bild ist ein Teil von Prag – einer Stadt der zwei Klassen. Einer Stadt der Apartheid. Einer Stadt gespalten zwischen augmentierten, d.h. durch technische Implantate verbesserte Menschen, und sogenannten Naturals, natürliche Menschen. Dieses Bild hängt in Deus Ex: Mankind Divided; und es ist Werbung.
Vielleicht ist es den meisten Spielern nie aufgefallen, oder sie haben es auf ihrem Weg zur nächsten Mission nur kurz wahrgenommen. Doch in diesem Bild steckt so viel mehr als nur der Versuch ein Produkt zu bewerben. Es verrät uns etwas über die Welt von Deus Ex, etwas aus dem Leben der Bewohner Prags. Es ist der Spiegel eines offenen Geheimnisses.
Warum überhaupt Werbung?
Werbung wird selten besonders beachtet. Weder auf der Straße noch im Videospiel. Gerade im Kontext von Spielen ist sie meist nicht mehr als ein Bestandteil des visuellen Grundrauschens. Doch sie hat das Potenzial uns viel über die Spielwelt, in welcher wir uns bewegen, zu verraten. Weil Werbung immer ein Spiegel von Gesellschaft, Kultur und Menschen ist und weil Spieler sie aus ihrem realen Leben kennen, ist sie ein fantastisches Werkzeug des Worldbuildings.
Werbung ist beinahe so alt wie die menschliche Gesellschaft. Das Anpreisen von Waren, Dienstleistungen oder auch der eigenen Person gehört zu unserem Verständnis von Wirtschaft einfach dazu. Das oberste Ziel von Werbung ist die Vermittlung einer Botschaft. Diese Botschaft soll uns Gründe liefern, ein Produkt – ob Ware oder Dienstleistung – zu erwerben. Daher wird gewöhnlich nur beworben, was relevant auf dem Markt ist oder eine Chance hat, relevant zu werden – sprich, wonach ein Verlangen der Konsumenten besteht. Somit gibt uns jeder Flyer, jedes Plakat und jede Fernsehwerbung einen tieferen Einblick in die alltägliche Lebenswelt der Bewohner des Spiels, abseits von Helden und Hauptmission.
In Deus Ex ist Werbung allgegenwärtig. Sei es für Getränke, Filme, politische Debatten oder einen Zoo der kybernetischen Tiere. Einige der Plakate könnten genauso in heutigen Innenstädten hängen; diese Art von Werbung ist für die Betrachtung nicht relevant. Spannend wird es immer, wenn ein Bezug zur Spielwelt entsteht. So wirbt der Energydrink “Ishanti” mit dem Slogan „They may have batteries. But we got this.” Gefolgt von einer überlebensgroß abgebildeten Getränkedose. Nicht weniger offensiv der Slogan von „H2o Boost“. Dieses “Enhanced Water” verspricht: „It doesn’t have to feel like your are a broken machine.” Beide Unternehmen nutzen damit ein Klima der Separation zwischen augmentierten und nicht augmentierten Menschen. Es zeigt uns, dass dieses Thema gesellschaftlich relevant und akzeptiert genug ist, um es für wirtschaftliche Interessen zu nutzen. Es verdeutlicht, wie tief die Abneigung und das Misstrauen gegenüber den Augmentierten sitzt.
Besonders beeindruckend ist die Kunstinstallation für ein Aufputschpräparat von „VersaLife“. Riesige Pillen hängen reglos in der Luft, pulsieren abwechselnd in rotem und blauem Licht. Sie bilden einen ständigen Strom in Eingang einer Metrostation, welcher als riesiger Mund inszeniert wird. Dieser Darstellung kann sich kein Bürger und kein Spieler entziehen. Doch eine subtilere Darstellung offenbart uns manchmal mehr.
Eine Pille für den Seelenfrieden
Eine ganz besondere Art der Werbung – sowohl in ihrer Gestaltung als auch in ihrer Bedeutung – ist die am Anfang des Artikels beschriebene, im Meer versinkender Dame. Diese ist auf einer erleuchteten Reklametafel zu betrachten. Direkt an einer der Hauptstraßen der Stadt, mit freiem Blick auf die Moldau, ist dies der perfekter Ort für diese moderne Ophelia.
Keine zwanzig Meter weiter steht der Spieler plötzlich unter einer Reklame, welche ihm einen schreienden Mann im freien Fall zeigt. Das Besondere hier ist jedoch die Position der Reklame im Raum. Diese hängt waagerecht über der Straße. Zwischen dem Fallenden und seinem Aufprall liegen nur wenige Meter – und der Spieler.
Beide Plakate tragen in auffälligem Gelb den Schriftzug „There’s a better solution“. Auf beiden Plakaten wird deutlich mit dem Thema Selbstmord gespielt. Auch zeigt sich auf beiden in der linken Ecke eine nüchterne weiße Tablette. Direkt daneben der Name des Medikaments: MoodeX. Es handelt sich dabei um einen Stimmungsstabilisator, quasi ein Antidepressivum. Überall im dystopischen Prag wird somit ein Produkt beworben, welches den Käufer vom Selbstmord abhalten soll oder ihn zumindest nicht weiter in die Abgründe seiner Gedanken versinken lässt. Wir finden MoodeX in einigen Apotheken und Geschäften, direkt in der Selbstbedienungsauslage. Es ist demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Rezept erhältlich.
Diese Kombination von Werbung und unbeschränkter Zugänglichkeit verfestigt einen Verdacht, welchen wohl die meisten Spieler während ihrer Streifzüge durch die dreckige, graue der Stadt hatten: Das Zukunftsprag macht depressiv. Die gesellschaftliche Situation treibt viele Menschen nicht nur in Widerstandsgruppen oder religiösen Sekten, sondern auch direkt in den Selbstmord. Weder das Thema Depression noch Selbstmord wird in Deus Ex von Nebencharakteren direkt thematisiert. Durch Werbung wird uns jedoch gezeigt, dass es allgegenwärtig ist.
Wer ist schuld? Der Markt oder die Politik?
Eine weitere Beobachtung ist das Fehlen von Werbung für Konkurrenzprodukte. Dafür mag es eine Vielzahl an möglichen Erklärungen geben, sowohl innerhalb der Spielwelt als auch in der Entwicklung des Spiels. Zwei Gründe halte ich mit Blick auf die Atmosphäre der Deus Ex-Reihe und den Informationen, welche uns geliefert werden, für wahrscheinlich. Das macht sie nicht zu den einzig möglich richtigen, aber sie liefern einen spannenden Blick auf das Prag des Spiels und sind dazu noch unterhaltsam.
Die erste mögliche Erklärung ist die, dass es sich bei der im Spiel sichtbaren Werbung nur die Überreste eines Kampfes um den Kunden handelt: Unterschiedlichste Anbieter von Antidepressiva hätten demnach versucht ihre Medikamente an den Kunden zu bringen. Ganz Prag muss zu dieser Zeit gefüllt gewesen sein mit den lockenden Rufen nach dem einfachen Glück in Pillenform. Am Ende setzte sich einzig MoodeX als Gewinner durch. Scheinbar gelang es dem dahinterstehenden Unternehmen, als Monopolist aus diesem Werbungskrieg hervorzugehen. Doch das führt uns zu der Frage: Warum werben sie noch immer? Ein Monopolist muss nicht werben, um erfolgreich zu sein; einfach weil es keine Alternativen zu ihm gibt. Außerdem ist stationäre Werbung immer ein teures Unterfangen. Neben Kosten für Miete, Herstellung und Wartung der Reklame muss auch bedacht werden, dass, solange MoodeX abgebildet ist, das Unternehmen kein anderes Produkt an dieser Stelle bewerben kann. Entweder bringt MoodeX so viel Umsatz, dass die Kosten nicht ins Gewicht fallen, oder die Werbung wird nicht vom Unternehmen bezahlt.
Ein weiterer Grund für die fehlende Werbung konkurrierender Antidepressiva kann deshalb im politischen Willen liegen. Es ist möglich, dass sich MoodeX gut verkauft, aber nicht genügend Menschen auf diese Möglichkeit zurückgriffen. Als die Selbstmordraten in Prag stiegen, suchte die Regierung eine Lösung für dieses Problem. Das Ergebnis ist eine Kampagne, in welcher die medikamentöse Behandlung eine wichtige Rolle spielt. Um die Aufmerksamkeit der Bürger auf diese Option zu lenken, verteilte die Stadt an verschiedenen Orten Reklamen, welche das Thema Selbstmordprävention stärker in den Fokus rücken als das eigentliche Produkt. Das Heilmittel MoodeX wird im Rahmen einer Produktplatzierung auf den Plakaten eingebunden. Von dieser Variante würde sowohl das Unternehmen als auch die Regierung profitieren.
Es gibt keine Beweise, was genau hinter der MoodeX-Kampagne steckt. Doch nach über tausend Wörtern kann ich sagen, dass Werbung eine lebendigere, tiefere und vertrautere Welt für den Spieler erschafft. Gewiss nicht immer, aber wenn sie geschickt eingesetzt wird, wie in diesem Beispiel, dann erzählt sie ihre eigene Geschichte.
Deus Ex: Mankind Divided wird durch Werbung sicher nicht zu einem spaßigeren oder aufregenderen Spiel. Aber sie gibt der Welt eine Tiefe und Vertrautheit, welche uns im Falle ihrer Abwesenheit fehlen würden. Gut genutzt, gibt sie uns den Blick frei in die Gesellschaft der Spielwelt – und manchmal auch in ihre Abgründe.
Der Autor: 
Marcus Klöppel
Organisiert die Lange Nacht der Computerspiele.
Marcus studiert in Leipzig eigentlich was mit Büchern und Wirtschaft. Das hält ihn aber nicht davon ab, immer wieder Videospiele in sein Studium zu integrieren – sehr zum Leidwesen seiner Professoren. Er interessiert sich für alle Aspekte des Mediums, egal ob Spieleentwicklung, -kultur, -forschung oder Gamification. Wichtiger als perfektes Gameplay oder Grafik sind ihm die Prämisse und das Design eines Spiels. Je verrückter oder abwegiger desto besser. Das ist wohl auch der Grund, warum alles von Suda 51 und Swery einen besonderen Platz in seiner Spielesammlung hat – und in seinem Herzen. In seiner Freizeit organisiert Marcus die „Lange Nacht der Computerspiele“ und ist im Gamewirtschaftsverband „Games & XR Mitteldeutschland“ tätig. [sk]
Danke für den tollen Artikel, Marcus!
Die Idee fand ich ja direkt ansprechend, als du sie mir zum ersten Mal vorschlugst, da Deus Ex: Human Revolution wohl zu meinen Lieblingsspielen zählt und mir auch schon dort die fiktive Werbung aufgefallen war, wenn auch eher in ästhetischer als inhaltlich Hinsicht.
In Ermangelung einer passenden Plattform hatte ich trotz meiner Begeisterung für Human Revolution seinen Nachfolger lange nicht spielen können, bis letztes Jahr, wo ich aus Zeitgründen dann aber recht früh wieder abbrach. Auch inspiriert durch deinen Gastartikel habe ich nun aber noch einmal neu angefangen und kann natürlich nicht mehr durch die Straßen von Prag gehen, ohne über die dort sichtbare Werbung nachzudenken. Im Vergleich zu Human Revolution und seiner Darstellung von Detroit ist mir dabei aufgefallen, dass in beiden Spielen bzw. Städten bzw. Zeiten die Werbung für „Körperoptimierungen“ dominieren. In HR sind das technische Implantate, die in MD natürlich nicht mehr beworben werden, aber stattdessen treten Medikamente an ihre Stelle. Aber nicht nur das: die Implantate in HR wurden meist als eine Möglichkeit dargestellt, über die Grenzen des „normalen“ menschlich Möglichen hinauszugehen, während die Produkte in MD augenscheinlich „nur“ dazu dienen, das Funktionieren des Einzelnen zu Gewährleisten. Auch hierin wird also deutlich, wie sich die Erfordernisse bzw. Wünsche der in den Spielen dargestellten Gesellschaft verschoben zu haben.
Nichtsdestotrotz finde ich die Prämisse von MD – nun, wo ich es spiele – nicht annähernd so interessant wie die von HR. Der Grund dafür dürfte sein, dass mich HR immer wieder mit neuen Ideen überraschte, die irgendwo im Bereich des Möglichen (oder zumindest des Vorstellbaren) lagen. Dagegen ist MD im Grunde nur eine Parabel auf Phänomene, die wir aus der Realität kennen (und nicht einmal eine besonders gute). Dass Golem City frappierend an manche Locations in Killzone: Shadow Fall erinnert, verdeutlicht auch sehr gut, wie vertraut viele der Ideen sind.
Doch wie dem auch sei, ein schlechtes Spiel ist MD deshalb nicht (und seine schwerwiegenderen Probleme sehe ich auch eher anderswo – etwa beim im Vergleich zu HR sperrigen, überladenen Interface). Allein schon die Ästhetik und die Spielwelt im engeren Sinne begeistern mich wieder einmal sehr und stehen dem Vorgänger in nichts nach (zumindest soweit ich MD bisher gespielt habe).
Daher hoffe ich auch, dass die Rezeption von MD irgendwann vielleicht doch noch eine Renaissance erlebt, oder das Spiel zumindest nicht ganz in Vergessenheit gerät – und ich bin froh, dass dein Artikel etwas dazu beiträgt, einen der gelungenen Aspekte des Titels zu diskutieren. Abseits seiner oftmals unbeholfen erzählten, und entsprechen viel und kritisch diskutieren Segregationsthematik hat MD nämlich noch so viel mehr zu bieten, was einen eingehenderen Blick wert wäre.
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Bei der Überschrift habe ich erst an eine ganz andere Art von Werbung gedacht. Ich weiß noch, wie empört damals alle waren, als EA Werbeplakate realer Produkte in Burnout Paradise eingebunden hat und ich konnte es nie so ganz verstehen.
Nun gut, Burnout ist jetzt vielleicht nicht unbedingt DIE Reihe mit höchstem Realitätsanspruch, aber an sich finde ich reale Produkte und Artefakte in realitätsverankerten Settings fast immer nur immersionsfördernd statt immersionsbrechend – meistens sind sie schließlich recht authentisch und subtil integriert.
Aus diesem Grund find ich es auch immer schön, wenn Filme für Smartphone-Konversationen unter Charakteren iMessage statt irgendeiner generischen fiktiven Chat-App nutzen – nur so als Beispiel. Dass Apple dadurch in irgendeiner Weise finanziell in diesen Film involviert ist, ist für mich dann erstmal zweitrangig.
Spiele nutzen solche Produktplatzierungen VIEL seltener. Und wenn, dann sind es meist irgendwelche oberflächlichen Werbedeals für Multiplayer-Titel, die dann tatsächlich die Spielerfahrung stören oder zumindest wie Fremdkörper wirken.
Was du da im Artikel behandelt hast, finde ich aber tatsächlich noch interessanter. Die GTA-Reihe spielt ja ebenfalls unglaublich viel mit solchen Mitteln, auch wenn der Subtext dort nie Bezug zum großen Hauptplot hat. Ich werd meine Augen in Zukunft mal etwas mehr nach Werbung in Spielen offen halten. :)
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Ich denke, das Paradebeispiel für „reale“ Werbung in Spielen ist Crazy Taxi, wo die realen Marken tatsächlich viel zur Atmosphäre beigetragen haben. Wobei Werbung da fast nicht mehr das richtige Wort ist, schließlich hat Sega damals noch dick Geld dafür bezahlt, die Marken in die Spielwelt aufnehmen zu dürfen. :D
Die Sache mit Burnout Paradise habe ich nicht mitbekommen, ich glaube aber, das mich das eher nicht gestört hätte. Wenn z.B. Werbeplakate zum Worldbuilding dazugehört, weil wir sie im Vorbild der dargestellten Spielwelt auch haben, und „echte“ Werbung für reale Produkte einen zusätzlichen Profit bringt, den man ansonsten über Microtransactions o.ä. einspielen wollen würde, ist das zumindest nicht grundsätzlich ein Problem.
Da muss ich jetzt noch an Beach Spikers denken, wo Sega das ziemlich auf die Spitze getrieben hat und es dann etwa einen Nissan-Court und einen Pringles-Court gab. Das fand ich eigentlich immer recht lustig und ich hoffe, dass Sega hier nicht mehr draufzahlen musste. ;)
https://spielkritik.com/2016/08/21/kritik-beach-spikers-virtua-beach-volleyball/
Ebenfalls ein schönes Beispiel ist Yakuza, wo Kiryu etwa in Yakuza 6 ganz selbstverständlich ein Sony-Mobiltelefon nutzt (und auch Xperia-Werbung im Stadtbild zu sehen ist), und nicht irgendeine Fantasiemarke. Auch sonst gibt es in der Spielwelt immer wieder reale Marken (auch wenn Nicht-Japaner viele davon nicht kennen werden). Dazu kommen dann allerdings auch ausgedachte Marken, etwa die App „Troublr“, die anstelle von Realismus dann wieder eine satirische Komponente ins Spiel bringen, wie sie ja auch in GTA im Vordergrund steht.
Deus Ex ist sehr gut darin, fiktiven Konzernen VersaLife oder Tai Yong Medical eine Identität zu geben, sodass stets der nötige Ernst gewahrt wird. Viele Cyberpunk-Erzählungen in anderen Medien erzeugen diese bedrohliche Glaubwürdigkeit, indem sie neben fiktiven Konzernen auch reale einbauen: Etwa Pan Am damals in Blade Runner, oder Braun und andere in William Gibsons Neuromancer. Heute morgen hab ich mit Erstaunen festgestellt, dass in Adam Jensens Schlafzimmer der PC mit AMD beschriftet ist; und auch das Modelabel ACRONYM ist real.
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