Ich werde The Friends of Ringo Ishikawa so bald nicht durchspielen. Das Spiel setzt nicht nur voraus, dass ich mir Zeit nehme; es hat dies auch verdient.
Es ist ein zielloses Spiel über einen ziellosen Charakter. Ringo Ishikawa befindet sich im letzten Jahr der Oberstufe, verbrachte seine Zeit bisher aber lieber außerhalb des Klassenraums. Japanophile kennen den berühmten Charakter-Stereotyp des Raufbolds aus etlichen Manga mit Schulsetting. Häufig verbirgt die raue Fassade dieser Schlägertypen ein Herz aus Gold oder zumindest einen aufgeweckten Verstand.
Während des Spielverlaufs formen wir die Persönlichkeit unseres Protagonisten, indem wir ihn auf der Zielgeraden seiner Schullaufbahn durch den Alltag steuern. Und dieser Alltag könnte alltäglicher kaum sein – zumindest in meinem Fall…
In einer Symbiose aus Alltags-Simulation und Retro-Beat ’em up flanieren wir als Ringo Ishikawa durch einen japanischen Vorort der 1980er-Jahre. Wir gehen zur Schule, jobben in der Videothek, setzen uns in ein Café… Was man als japanischer Oberschüler eben macht. Da Ringo kein Musterschüler ist, schwänzt er jede Schulstunde, die wir ihn schwänzen lassen wollen.
Auf einigen Straßen des Vororts treiben rivalisierende Gang-Mitglieder ihr Unwesen, deren Gesichter wir nach eigenem Gutdünken neu arrangieren können. Das Ganze geschieht in spielinterner Echtzeit. Jeder Tag dauert einige Minuten und je nach Uhrzeit schließen Geschäfte sowie andere Institutionen.
Das Spiel beginnt mit einer gewaltigen Schlägerei zwischen Ringos titelgebenden Freunden und einigen verfeindeten Gangmitgliedern. Nach etwas Double Dragon-artigem Button-Mashing endet das Scharmützel und von diesem Punkt an bleibt das Spiel weitestgehend gewaltfrei – sofern wir Ärger aus dem Weg gehen.
Die ersten zwei Stunden mit Ringo Ishikawa sind spielerisch ein wenig holprig. Sämtliche Mechaniken werden wenig bis gar nicht erklärt. Das führt dazu, dass wir erstmal planlos durch eine Hand voll Hauptstraßen rennen. Für eine Figur, welche in diesem Vorort wohnt, hat unser Protagonist augenscheinlich erstaunlich wenig Ahnung von seiner Umgebung. Eine klare Schieflage zwischen den Spielenden und der Spielfigur.
Es gibt Spiele, die von minimalen Tutorials profitieren, aber dieses hier ist keines davon. Nach einem Blick in eine vom Entwickler bereitgestellte Anleitung auf Steam sind die größten Fragezeichen letztlich doch geklärt. Das ist so old-school, dass es fast schon wieder cool ist.
Der Flaneur im fernöstlichen Sonnenuntergang
Ringo Ishikawa ist wie ein Charakter der deutschen Spätromantik. Irgendwo zwischen Faulenzer und Freigeist, zwischen Taugenichts und Visionär. Wieso muss ich „was im Leben erreichen“, wenn es doch gar nichts kostet, am Fluss zu sitzen und Anna Karenina zu lesen?
Das Gros des Spiels besteht aus freier Beschäftigung; komplett selbstbestimmte Zeiteinteilung von früh bis spät. Solange man nicht verhungert, nach 48 Stunden ohne Schlaf in Ohnmacht fällt oder von Halbstarken verprügelt wird, ist alles in Butter. Dementsprechend ergeben sich hier unzählige potentielle Spielabläufe, die ich unmöglich alle selbst betrachten kann.
Wenn mir ein Spiel – vor allem eines mit äußerst realitätsnahem Setting – die Möglichkeit gibt, gewaltfrei zu agieren, dann ergreife ich diese Chance auch. Es kommt selten genug vor, dass mir ein Spiel überhaupt diese Option bietet. Nach ein paar Tagen freier Erkundung und nachdem ich mein komplettes Geld für Fast Food ausgegeben habe, gehen Ringos zeitliche Ressourcen 24/7 in seine Bildung.
Wieso, liegt auf der Hand: Der schulische Fortschritt ist zu Beginn des Spiels der offensichtlichste greifbare Fortschritt neben den EXP-Balken der Streets of Rage-Kloppereien. Prozentzahlen erhöhen sich, Noten verbessern sich – fast wie in einem Clicker-Spiel. Noch dazu bringen gute Schulnoten ein überraschend zuverlässiges Einkommen. Für Bestleistungen in Tests erhält Ringo wöchentlich Stipendien in Höhe von bis zu 10.000 Yen. Das Geld braucht er, um seine Hungeranzeige zu füllen und sich sonstige Spielereien leisten zu können. Ich spare aktuell auf einen gebrauchten Röhrenfernseher und ein Famicom mit Super Mario Bros. Dann kann Ringo vielleicht endlich mit seinem nerdigen Klassenkameraden mitreden.
Es heißt also erstmal büffeln, büffeln, büffeln… Vor der Schule lerne ich eine Stunde am heimischen Schreibtisch, dann geht es ab in die Bibliothek. Den ersten Unterricht um neun Uhr morgens besuche ich erst um 09:50 Uhr, um die Verspätungstoleranz der Lehrenden maximal auszureizen (so kann ich länger in der Bibliothek bleiben). Zwischen den beiden täglichen Unterrichtsstunden schreibe ich an meiner Facharbeit in Physik und nach dem Unterricht lese ich auf einer Parkbank Die Brüder Karamasow. Sobald es dunkel wird, geht es zurück an den Schreibtisch und dann ab ins Bett.
Unterm Strich bin ich im Spiel also deutlich disziplinierter als im echten Leben. Ist kompromissloses Lernen meine eskapistische Fantasie? Wohl kaum. Denn auf Dauer wird diese Routine äußerst langweilig. Vor allem, wenn die Hälfte des Gameplay daraus besteht, A gedrückt zu halten und wachsende Prozentangaben anzustarren. Manchmal verbringe ich also auch Zeit mit schönen Dingen.
Ich laufe einfach durch die Straßen, halte manchmal die R-Taste gedrückt, um Ringos Hände in die Hosentaschen zu stecken und dadurch noch entspannter auszusehen. Oder ich halte A gedrückt und neige das Steuerkreuz nach unten, sodass Ringo lässig in die Hocke geht – einfach, weil ich es kann.
Die Momente, in denen Ringo still in die Ferne starrt, beweisen eindrucksvoll, welch starke Emotionen selbst gröbste Pixelart durch Abstraktion vermitteln kann. Ein Steg, ein Geländer, ein Sonnenuntergang und ein wunderbarer Soundtrack ergeben zusammen einen Moment der Entschleunigung. Spielerisch hat dieser Moment nicht den geringsten Wert und trotzdem sind die Hintergrundpanoramen ein essentielles Highlight der Gesamterfahrung. Die stereotype Ästhetik des urbanen Japans der 1980er: Eine scharfkantige Skyline bricht den Blick auf idyllische Berge.
Wohin führt das Ganze?
So befreiend das virtuelle Faulenzen für einige Zeit ist, so gut tut es, wenn ab und an ein roter Faden durchschimmert. Alle paar Ingame-Tage geschehen geskriptete Story-Events. Diese umfassen meist nur wenige Zeilen Dialog und kontextualisieren viel mehr Ringos Freizeitgestaltung, als tatsächlich eine Geschichte von A nach B zu treiben.
Ein Beispiel: Ringos Kumpel Ken ist ambitionierter Boxer. Boxen ist sein Leben und die Hoffnung für seine zukünftige Existenz; schließlich sind Ringos Freunde allesamt keine Musterschüler. Eines Nachmittags verwickelt ein verfeindetes Gangmitglied Ken in eine Schlägerei. Ringo hat die Möglichkeit, seinem Kumpel beizustehen oder sich dem Konflikt zu enthalten. Letzteres geschieht auf natürliche Weise durch einfache Inaktivität am Controller, während der Kampf vonstattengeht.
Mein persönlicher Ringo – der neue Klassenbeste und Liebling aller Lehrer – hat selbstverständlich nicht an dieser Schulhofschlägerei teilgenommen. Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht. Was ich jedoch nicht ahnte: Ken würde sich in dieser Schlägerei seine Hand verletzen. So schwer, dass seine Karriere als Boxer infolge einer Fraktur auf dem Spiel stehen würde.
Wo Ringos „Freunde“ ihn vorher schon stichelten, wieso er denn plötzlich zum Streber geworden sei, verloren sie nun noch mehr ihr Vertrauen in ihn. Auch Ringo selbst plagten Gewissensbisse über sein Nichteingreifen in Kens Schlägerei. Eine packende Konfliktsituation, mit der ich so plötzlich nicht gerechnet hätte. Das Problem ist jedoch: Bisher gehen mir Ringos Freunde ziemlich am Allerwertesten vorbei. Er mag sie schon seit Jahren kennen, ich aber erst seit ein paar Stunden.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich nicht häufig genug (oder gar nicht) in Prügeleien stürze. Für etwas anderes als Prügeleien oder ein paar Billardpartien in der Kneipe sind Ringos Freunde nämlich nicht zu gebrauchen. Ich könnte sie jeden Tag einladen, sich mir anzuschließen und zusammen ein paar Köpfe einzuschlagen. Doch diese rauen Burschen sind für die Welt meines pazifistischen Ringos genauso ein Fremdkörper wie die Straße, auf der irgendwelche Halbstarken rund um die Uhr ihre Kleinkriege austragen.
Ich hätte gern mehr Dialoge mit den Mädchen in der Schule. Nicht, um sie auszuführen, sondern einfach, weil sie mir bereits nach wenigen Zeilen sympathischer erschienen als Ringos Freunde. Wer steht nochmal im Titel des Spiels?
Generell verschenkt das Spiel einiges an Potential durch seine spärlich eingestreuten Dialoge. Die vorhandenen Gespräche sind wunderbar prägnant, authentisch und vielschichtig. Nur bleibt es häufig bei zwei bis drei wirklich lesenswerten Zeilen pro Ingame-Tag. Die Namen vieler Charaktere in der Umgebung sind einfach ausgegraut – ein Zeichen dafür, dass sie nicht reden wollen.
Die Taten und Entscheidungen Ringos haben offensichtlich Auswirkungen auf seine eigene Gefühlswelt und darauf, wie andere Charaktere ihn wahrnehmen. Dennoch wirken die zwischenmenschlichen Beziehungen für ein Spiel, welches das Wort „friends“ im Namen trägt, für die ersten fünf Stunden zu distanziert.
Einige der größten Werke der Literaturgeschichte finden fast ausschließlich im Kopf ihrer Hauptfiguren statt. The Friends of Ringo Ishikawa schließt sich der Funktionsweise solcher Coming-of-Age-Klassiker wie Catcher in the Rye oder so gut wie jedem Natsume Sōseki-Roman an. Der Schauplatz des Geschehens ist das Innere des Protagonisten. Hier findet die Reise statt.
Die Freiheit und Interaktivität des Spiels ermöglichen es uns, an der Gesinnung des Protagonisten teilzuhaben. Ringo Ishikawas existentielles Abenteuer umarmt die bittersüße Romantik der Ziellosigkeit, umarmt die Möglichkeiten, die mit ihr verbunden sind, und umarmt die Spielenden gleich mit. [pg]
The Friends of Ringo Ishikawa
yeo, 17. Mai 2018 (Erstveröffentlichung), 04. April 2019 (Nintendo Switch)
Nintendo Switch, PC, Mac
Mehr zu ähnlichen Themen:
Kompliment, ein wirklich starker Artikel. Da passt so vieles so gut zusammen, ich glaube, das ist bisher mein Liebling unter deinen Artikeln für Spielkritik! Vor allem hast du es geschafft, eine Seite des Spiels in den Vordergrund zu stellen, die mich nun doch neugierig auf ein Spiel gemacht hat, an das ich ansonsten keine Erwartungen hinsichtlich der Narration (oder der Möglichkeit zum Erleben einer eigenen Geschichte) hatte.
Gut gefällt mir auch, dass du das Spiel nicht nur innerhalb seines Mediums eingeordnet hast (tatsächlich hast du das sogar nur sehr bedingt), sondern auch im Kontext anderer Medien. Vermutlich ist das ein Grund, warum sich der Artikel so erfrischend liest, auch wenn Ringo Ishikawa auf den ersten Blick wohl nicht gerade die Assoziation weckt, besonders innovativ zu sein.
Beim Lesen kam mir zuerst der NES-Klassiker Street Gangs (aka. River City Ransom) in den Sinn. Da kann man nicht nur optisch eine gewisse Verwandtschaft mit Ringo Ishikawa erkennen, sondern auch in dem Punkt, dass auch Street Gangs über das reine Beat ‚em up-Gameplay hinausging und den Spielern erlaubte, an Alltäglichkeiten wie Imbiss-Besuchen teilzuhaben, und so die Stats zu entwickeln. Als ich Street Gangs (1989) über die Wii-VC erstmals spielte, erinnerte mich das entfernt an Shenmue, inzwischen lässt mich die Kombination aber eher noch an Yakuza denken. In jedem Fall ist es immer noch ein sehr unterhaltsames Spiel, gerade im Koop.
Schließlich musste ich beim Lesen deines Artikels aber ebenfalls an einige japanische Coming-of-Age-Geschichten denken, etwa an Ryu Murakamis Roman „69“ oder an den Film „19“. Die sind ebenfalls ganz stark darin, die Ziellosigkeit von Halbstarken einzufangen (und romantisch zu verklären).
LikeLike
Ich musste beim Sichten der Screenshots und Hören, dass es Beat em Up Elemente hat, ganz wie Sylvio auch direkt an die Kunio-kun Reihe denken.
Klingt ja eigentlich sehr interessant das Spiel, aber ich glaube ich, als jemand, den das erste Shenmue schon schnell gelangweilt hat, zieht sich hier eher wenig heraus. Zumal das Ausweichen aufs Beat em Up mir auch nicht mehr liegen würde.
LikeGefällt 1 Person
Stichwort Zen-Gaming. Ist im Augenblick auch nichts, worauf ich Lust habe. Was nicht heißt, dass ich irgendwie durch Spiele hetzen oder nicht auch ihre kontemplativen Momente genießen würde. Im Allgemeinen ist es aber so, dass ich in den letzten Jahren den meisten Spaß mit Spielen habe, die mir eine möglichst „intensive“ Erfahrung bieten (und wenn ich etwas Ruhigeres möchte, lese ich eher ein Buch oder schaue einen Film). Früher mochte ich das „Langsamkeit“ von z.B. Shenmue hingegen sehr gern, und wie bewusst langsam ich damals Shenmue II durchgespielt habe, wäre eigentlich ein Achievement wert… Anders gesagt: Ringo Ishikawa wirkt auf mich eigentlich sehr sympathisch, aber im Moment ist es nicht so ganz das, was mich fesseln würde. Oder ich würde mich kloppen. :D
LikeLike
Laut Aussage des Entwicklers war River City Ransom übrigens tatsächlich einer seiner größten Einflüsse – wer hätte es gedacht? 🙃
LikeGefällt 1 Person
Seit gestern spiele ich das Spiel auch und ich mag es sehr. Auch wenn ich zu Beginn das Gefühl hatte, dass ich es falsch spiele. Denn ich hab ziemlich schnell den Beat’em Up-Part beiseite gelegt und mich in der Hauptsache um mein Schullaufbahn gekümmert. Mittlerweile versuche ich einen Weg zwischen lernen und trainieren zu finden. Aber Prügeleien gehe ich meist aus dem Weg. Ich weiß auch noch nicht so ganz was ich von den titelgebenden Freunden halten soll. Meistens ignoriere ich sie, aber wenn es dann gescriptete Szenen gibt, ist das allen irgendwie egal. Deshalb habe ich immer noch das Gefühl, dass ich irgendwas bei Ringo Ishikawa noch nicht so ganz verstanden habe. Vielleicht sagt das aber auch mehr über mich aus.
Was ich aber ganz toll finde, ist der Soundtrack. Der gefällt mir richtig richtig gut.
LikeGefällt 1 Person
Ich muss meinen positiven Eindruck leider doch etwas revidieren. Der konnte sich nämlich bis zum Ende nicht halten. Zum einen war ich doch sehr erstaunt, dass ich das Spiel jetzt schon durchgespielt habe. Ich bin kein Freund von Preis und Spielzeit-vergleich, aber da war ich doch enttäuscht, dass ein Spiel für 15€ so schnell beendet ist.
Viel enttäuschender war aber das ganze Ende. Denn dort war vieles vorgegeben und ich hatte den Eindruck, dass alles was ich vorher gemacht habe vollkommen egal war, denn das Ende ist immer gleich. Vielleicht ist da auch eine tiefere Aussage hinter, dass es egal ist was man macht, am Ende hast du keinen Einfluss. Hier entscheidet sich aber meine Spielfigur so zu handeln und zwar ohne meinen Einfluss. Mein Einfluss im Spiel hat aus der Figur aber einen ganz anderen Charakter gemacht. Und das war jetzt egal. Ich hätte nichts in dem Spiel machen müssen und es wäre genauso ausgegangen. Und da ist es mir dann auch egal, ob das nur ein kleines Indiespiel ist. Da passt einfach Geschichte, Spiel und meine Handlungen nicht zusammen.
LikeGefällt 1 Person