Eine rote Rose. Wenn wir Unknown Fate starten, sehen wir die Blüten einer roten Rose. Sie schimmert. Aus ihr kommen Federn geflogen. Der Hintergrund ist schwarz. Kleine helle Funken tanzen über den Bildschirm. Die herausfliegenden Federn tun es den tanzenden Funken gleich und lösen sich nach kurzer Zeit auf.

Eine mystische Atmosphäre, die nicht täuscht. Die Symbolik spricht Bände. Die Feder, der Bote des Jenseits. Aber zugleich steht sie auch für Stärke. Die Rose, das Zeichen der Entfaltung. Aber auch der Alchemie. Wir begeben uns auf eine Reise, eine Reise zu uns selbst. Die Mystik und Symbolik versprechen einen Streifzug in die tiefsten Gründe unseres Inneren. Und das erste Bild, welches Unknown Fate uns liefert, ist zugleich eine Metapher für seine komplette Handlung.


Das Schicksal sendet ein Zeichen

Das Spiel beginnt vor einem Haus, in einer standardisierten amerikanischen Vorstadt. Wir schreiten auf das Haus zu und – Schnitt. Rauschen. Leere. Plötzlich finden wir uns in einer schwarz-weißen Welt wieder. Die Umgebung ist dunkel, das Licht ist grell.

In was für einer Welt wir uns auch immer befinden, hier gibt es nichts als Extreme. Wir stehen auf einem Plateau und schauen über eine Schlucht auf die gegenüberliegende Seite. Dort steht eine ebenfalls farblose Gestalt und zerrt eine andere, kraftlose, fast leblose Gestalt an ihrem rechten Arm durch ein lichtdurchtränktes Portal. Wieder Stille. Wieder Schwarz. Zurück in der Realität? Mitnichten. Die Vorstadt wurde von einer Dystopie heimgesucht. Teile der Straße schweben in der Luft, darunter Abgründe, die in die endlose Leere führen. Doch ein Fünkchen Licht signalisiert uns, es ist an der Zeit: Wir müssen uns auf unseren Weg begeben. Langsam schreiten wir über die zertrümmerte Straße, deren Bruchstücke sich wie ein Puzzle Stück für Stück für uns zusammenzufügen. Doch damit nicht genug. Plötzlich fliegt ein Walfisch über uns hinweg durch den dunklen Nachthimmel.

Und er ist mehr, als die realgewordene Metapher eines Sternzeichens – er ist das Symbol für einen Reifungsprozess, der von unserem Selbst geleitet wird. Er bereitet uns darauf vor, dass wir uns nun erst einmal Zeit nehmen müssen. Zeit, uns mit uns selbst zu beschäftigen, um zu verarbeiten, um uns zu trennen, um neu gebären zu können. Loslassen, um losgelassen zu werden. Unsere kraftlose, beinah leblose Psyche muss sich regenerieren. Noch können wir nicht verstehen, was passiert ist und warum uns dies alles widerfährt. Doch der Weg ist das Ziel und somit lassen wir uns auf diese Reise durch unsere Psyche ein, auf dass wir mit der Vergangenheit abschließen und unser Leben zurückerlangen.


Die Symbolik floriert

Der erste Spielabschnitt von Unknown Fate ist von einer geradezu nostalgischen Melancholie geprägt. Immer wieder holen uns kurze Rückblenden in die Vergangenheit, allerdings ohne Aufschluss über konkrete Ereignisse zu geben. Dazu kommt, dass die Erinnerungen an unsere Vergangenheit – genau genommen an unsere Kindheit – geradezu forciert werden. Spielzeugautos, Teddybären, Spielzeugeisenbahnen – all das findet sich am Rande der düsteren Landschaft wieder, allerdings in Übergröße und begleitet von zunehmend schauriger Musik.

Durch die Kombination der Musik mit dem Leveldesign wird ein individueller Bezug hergestellt, der Bogen zu unserer eigenen Biografie geschlagen. Denn unser Denken besteht praktisch aus Erinnerungen; Gerüche, Haptik, Akustik – all dies ist eng mit unserem Archiv an Erinnerungen verknüpft. Während des Erinnerungsprozesses schaltet sich ein weiterer Teil des limbischen Systems ein und weist den Erinnerungen Emotionen zu. Diese Kette läuft bei jedem Spieler ab, doch ihre Ausprägung ist so individuell wie jeder einzelne Mensch. Wenn die Musik die schaurige, dunkle Umgebung untermalt, unser Gehirn eine Erinnerung assoziiert, und wir nur wenig später um die Ecke eine überdimensionale Spielzeugautobahn vorfinden, folgt umgehend die emotionale Verbindung – und die Brücke ist geschlagen, zu der längst vergangenen Nacht als wir in persona als Fünfjähriger angsterfüllt aus dem Bett gehüpft sind, weil wir gerade im Traum am Steuer unseres Spielzeugautos in eine unendliche Schlucht gestürzt sind.

Doch was ist mit der anfangs erwähnten Symbolik und den Metaphern? Waren sie nur eine Einleitung, die im Nichts verpufft? Keineswegs. Die Symbolik setzt sich fort und begleitet das Spielgeschehen bis zum Ende. Ein Beispiel ist der Verweis auf einen der bedeuteten Autoren der Renaissance: Giovanni Boccaccio.

Dieser wird im Mittelteil des Spiels zum zentralen Thema. Die Spielwelt sieht nun aus, wie die exzentrische Grabstätte eines Journalisten und Literaturliebhabers. Notizzettel zieren Bäume oder Felsen, oder strecken sich in einer strudelförmigen Spirale als Pflanze Richtung Himmel. Überdimensionale Audiokassetten formen Treppen, den Superlativ bilden Bücher in Übergröße. Sie fungieren als dekorative Ausschmückung des Leveldesigns, aber eben auch als Botschaft: Manche Bücher tauchen immer wieder auf, unter ihnen das Decamerone von Giovanni Boccaccio. Diese Sammlung von 100 Novellen handelt vom Florenz des Jahres 1348. Zu diesem Zeitpunkt brach die Pest in der Toskana aus. Sie dient in Boccaccios Werk als Rahmenhandlung und diese wird geschickt in das Spiel integriert: So sind überall in der Spielwelt Tintenfässer verteilt, mit der Aufschrift „Inchiostro Nero“ – schwarze Tinte.

Sämtliche Gewässer der Welt wurden durch die schwarze Tinte ersetzt. Das Wasser – der Ursprung allen Lebens – wurde vom schwarzen Tod heimgesucht, ebenso gnadenlos wie die berüchtigtste Seuche der Menschheitsgeschichte unsere Vorfahren heimsuchte. In Florenz starben damals vier Fünftel der Bürger. Darüber hinaus steht es aber auch als Metapher für den psychischen Verfall von Richard, dem Protagonisten von Unknown Fate. Doch Florenz erholte sich vom Zerfall und auf der Asche der Pest entstand neues Leben – eine Metapher für das, was Richard bevorstehen mag.


Fazit

Unknown Fate macht sehr vieles richtig. Das Spielgeschehen baut geschickt Spannung auf und kann diese über die verhältnismäßig kurze Spieldauer hinweg meist auf einem hohen Niveau transportieren. Die Symbolik und die Metaphern sind die Stärke des Spiels. Wenn man ein wenig über den Inhalt nachdenkt, und wenn sich zur Spielmitte hin langsam aber sicher das Puzzle zusammenfügt, dann ist das Ende leider ein wenig zu früh ersichtlich. Doch der Weg dorthin ist dies keineswegs und besticht durch seine starke Inszenierung. Gerade die Traumsequenzen beziehungsweise die Rückblenden während des Spielverlaufs sorgen für intensive Eindrücke, sind rätselhaft, aber inszenatorisch ein expressives Stilelement.

Darüber hinaus sorgt das Zusammenspiel von akustischen und visuellen Elementen für ein Spielerlebnis, bei dem ich nicht nur konsumiere, sondern auch mitfühle, eigene Emotionen mit einbringe und sie mit dem Spielgeschehen verschmelzen lasse. Und schließlich vermittelt der Handlungsverlauf des Spiels eine Botschaft, die sich jeder Spieler individuell zu Herzen nehmen kann: Zum einen kann es sinnvoll sein, sich auf eine Sache einzulassen, in der man nicht von Anfang an den Sinn erkennt. Und zum anderen, sich für sein Leben einzusetzen, um es lebenswert zu machen, auch wenn das bedeutet, dass man loslassen und ganz von vorne anfangen muss. Es wird es immer wert sein. [mw]

Es ist besser zu genießen und zu bereuen, als zu bereuen, dass man nicht genossen hat.

Giovanni Boccaccio; Decamerone, 3. Tag, 5. Erzählung


Unknown Fate
MarsLit Games, 06. September 2018 und 05. März 2019
PlayStation 4, Nintendo Switch, Windows (inkl. VR Support), Xbox One geplant
Director, Designer, etc.: Andrea Farid Marsili & Marco Karim Marsili

Quelle Bilder: Eigene Screenshots aus der PC-Version