Playing by the books? Ludonarrativer Ungehorsam und die Open World der Fabled Lands.

5. Ludonarrativer Ungehorsam

Das Spannende ist: Wir als Leserinnen/Spielerinnen haben die Möglichkeit, diese und viele andere Defizite und Ungereimtheiten zu beheben. Wer ein Adventure-Book spielt, war schon immer Spielerin und Spielleiterin bzw. Regelwächterin in Personalunion. Aber erst der Open World-Ansatz der Fabled Lands eröffnet uns darüber hinaus die Möglichkeit, zur „Modderin“ zu werden, auf spielmechanischer als auch auf narrativer Ebene. Den einen oder anderen „Bug“ beheben wir im Vorbeigehen übrigens auch.

Ich, der ich mit digitalen Videospielen aufgewachsen bin, empfand die Möglichkeiten, dir mir Gamebooks insgeheim boten, zunächst als Bürde. Gamebooks erlaubten mir zu cheaten, zurückzublättern, „weil ich diese Entscheidung ja ohnehin nicht wirklich treffen wollte“, heimlich noch einmal zu würfeln, „weil die Würfel beim ersten Mal nicht richtig gerollt sind“, aber natürlich nur dann, wenn das Ergebnis nicht zu meinen Gunsten ausfiel. Diese Möglichkeit zum Cheaten irritierte mich, doch ebenso wenig konnte ich sie ignorieren. Unklarheiten im Regelwerk – der Verteidigungswert berechnet sich aus der Summe des Rüstungswertes, des gesellschaftlichen Ranges und des Kampfwertes, doch welches Kampfwertes? Ist damit der Basiswert gemeint oder der Wert nach Berücksichtigung des Waffenbonus? – wollte ich zunächst unter Rückgriff auf eine „Instanz“ beantworten („Vielleicht steht das ja in irgendeinem Internet-Forum?“). Bis ich erkannte, dass ich sie einfach zu meinen Gunsten interpretieren konnte, wo ich das Spiel doch ohnehin schwer genug fand, und deshalb wie oben beschrieben cheatete, und niemandem außer mir selbst Rechenschaft schuldig war. Andererseits erkannte ich aber auch, dass das Ausnutzen regelkonformer „Exploits“ und ein vornehmlich effizienzgeleitetes Spielen zwar den Erfolgschancen, nicht aber der Immersion zuträglich war. Ich setzte mir daher eigene Restriktionen, achtete darauf, mich auf meinen Reisen durch die Welt weitestgehend natürlich zu bewegen. Nicht im Kreis zu laufen – auch buchstäblich. Und Lücken im Regelwerk schlüssig zu interpretieren: Zum Beispiel trägt man zu Beginn des Spiels ein einfaches Schwert ohne Combat-Bonus im Inventar. Ein gewinnbringende und regelkonforme Reaktion war stets die, dieses Schwert bei der erstbesten Gelegenheit zu verkaufen, da es den Combat-Wert ohnehin nicht erhöht und zu Spielbeginn selbst die kleinsten Geldmengen unseren Handlungsspielraum erheblich erweitern. Erzählerisch ergibt es hingegen keinen Sinn, ein Waffe abzugeben, dabei aber nichts an Kampfkraft einzubüßen. Ich entschied daher, als „Spielleiter“ ein Machtwort zu sprechen, und mir selbst, auch wenn das Spiel dadurch schwieriger wird, den Verkauf dieser Waffe zu verbieten.

Irgendwann gelangte ich schließlich zu dem Schluss, die verschiedenen Probleme, Bugs und Lücken im ludonarrativen Gerüst der Fabled Lands gar nicht mehr als Bürde oder gar als Defizit, sondern als Chance zu betrachten, und auf dieser Grundlage die Spielregeln nicht nur nach meinen Bedürfnissen zu optimieren, sondern auch zu modifizieren. Und auf diese Weise die Fabled Lands nicht nur (nach meinem Empfinden) zugänglicher und glaubwürdiger zu gestalten, sondern tatsächlich noch einmal ganz anders zu erleben. Meinen aktuellen Spieldurchgang spiele ich nun mit folgenden Modifikationen, die vor allem den sonst so mühsamen und inzwischen auch monoton gewordenen Spieleinstieg leichter gestalten und mir außerdem eine zusätzliche, alle Bände übergreifende Haupt-Quest verschaffen sollten:

Statt mit mickrigen 16 Goldstücken zu starten, gewährte ich mir Goldstücke in Höhe eines Wurfs mit zwei Würfeln multipliziert mit zehn. Ich entschied, dass ich zusätzlich zu den Startwerten eines Priesters noch 6 Skill-Punkte zusätzlich verteilen dürfe und erschuf mir damit eine Art Kriegerpriester. Ich legte fest, dass ich mehr als eine Wiederbelebungsvereinbarung gleichzeitig haben darf. Mehr noch, ich entschied, dass ich mit 5 „Continues“ starten und mit jedem Aufstieg im Rang ein weiteres erhalten würde, und dass ein derartiges Continue mir erlaubt, an jeder beliebigen Stelle beliebig weit zurückzublättern, um mich anders zu entscheiden oder noch einmal zu würfeln. Im Gegenzug würde ich von weiteren, unkontrollierten Schummeleien allerdings komplett absehen. Und schließlich setzte ich mir ein zusätzliches Spielziel, nämlich dass mein Charakter es sich zur Aufgabe gemacht habe, alle Religionen der Spielwelt kennenzulernen. Während man eigentlich nur Anhänger eines Kults zugleich sein kann, darf ich die religiösen Zugehörigkeiten nun sammeln. Und zu guter Letzt warf ich die Inventarsbeschränkung ab, die meist nur nervte, zumal das Spiel auch so genügend Anreize bietet, aus Sicherheitsgründen nicht das gesamte Inventar und alles Gold ständig mit sich rumzuschleppen, sondern in erworbenen Häusern zwischenzulagern.

Mit diesen Regeln habe ich nun schon viele Abenteuer erlebt, vor allem im ersten Band, denen es an Spannung nicht mangelte. Ich kann mich freier, mutiger bewegen, komme mir aber auch nicht wie ein Betrüger vor, und habe außerdem ein zusätzliches Fernziel vor Augen. Sicher sind noch extremere Modifikationen möglich: Wieso nicht auf dem höchsten gesellschaftlichen Rang anfangen, aber jedes illegitime Zurückblättern mit dem Abstieg um einen Rang bestrafen? Das würde zu Spielbeginn große Handlungsfreiheit ermöglichen, das Spiel dann aber immer mehr zuspitzen. Warum nicht im Falle unseres Ablebens unseren gesammelten Besitz am Ort des Dahinscheidens eintragen und in den Item-Boxen belassen, auf dass er im nächsten Spieldurchlauf von einem anderen Avatar dort aufgenommen werden kann? Oder warum nicht Fabled Lands als Koop-Multiplayer ausprobieren und dabei auf die Folgen der Handlungen der anderen Spielerin stoßen, ihr „begegnen“ und mit ihr Items tauschen können, wenn wir die Textstelle erreichen, an der unsere Mitspielerin zuvor aufgehört hat?

Das Medium Gamebook macht es möglich, derartige Modifikationen ohne technisches Hintergrundwissen und ohne den speziellen Segen der Autorinnen (etwa in Form eines offiziellen Leveleditors) umzusetzen. Und ohne den Unmut etwaiger Mitspielerinnen, versteht sich. Allerdings können derartige Modifikationen in lineareren Gamebooks kaum mehr als eine Veränderung des Schwierigkeitsgrades bewirken. Erst in einer non-linearen Open World wie der der Fabled Lands, in der wir uns nicht bloß auf sich verzweigenden Einbahnstraßen auf ein vorgegebenes Ende hinbewegen, ist es möglich, dass diese Mods die erlebte Geschichte tiefgreifend verändern oder dass wir die Handlung selbst modifizieren. Letzteres ist allerdings erheblich schwieriger, da es fundierte Kenntnisse der Spielwelt voraussetzt, ein Wissen darüber, welche Abenteuer überhaupt möglich sind.


6. Ich widersetze mich, also bin ich.

Im Vergleich mit den komplexen digitalen Rollenspielen der Gegenwart mag unser Handlungsspielraum in einem Gamebook, selbst in einem so komplexen wie Fabled Lands, noch immer ziemlich eingeschränkt erscheinen: Wir bewegen uns auf einer endlichen Zahl von vorgezeichneten Pfaden und haben augenscheinlich kaum eine Möglichkeit, kreativ auf Herausforderungen zu reagieren, auf eine Weise also, die nicht bereits die Autorinnen des Abenteuers als Handlungsoption erdacht und vorgegeben haben. Doch schauen wir genauer hin, dann können wir eine zusätzliche Dimension der Interaktivität entdecken, die ihren Ursprung darin hat, dass sozusagen wir selbst die Hardware sind, die das Spiel zum Laufen bringt, dass wir es sind, die auf die Einhaltung der Regeln achten – oder mehr oder weniger selbstbewusst darauf pfeifen. Denn immer schon verlangten analoge, auf Papier gedruckte Adventure-Books von ihren Spielerinnen eine fortwährende Auseinandersetzung nicht nur mit den Regeln des Spiels, sondern im Zuge dessen auch mit sich selbst. Und so betrachtet lässt sich letztlich vielleicht doch noch sagen, dass wir stets ein ganz eigenes, „unser“ Abenteuer erlebten, auch wenn die Hintergrundgeschichten als solche kaum wirklich interaktiv waren.

Im Zusammenspiel mit der Open World der Fabled Lands-Reihe eröffnet sich nun allerdings ein Spielerlebnis, das noch viel mehr eine Konfrontation mit uns selbst ist: Wie reagiere ich auf Unschärfen und Lücken im Regelwerk? Wann erlaube ich mir, zu schummeln? Welche Modifikationen betrachte ich als fair, welches Verhalten als schlüssig? In den Antworten auf diese Fragen liegt eine Dimension von Agency, die uns in den meisten digitalen Spielen fremd ist (sofern diese nicht von vornherein einem Sandbox-Konzept folgen oder von uns auf technischer Ebene durch Modding verändert werden). Der Spielerin, die danach sucht, bieten die Fabled Lands ein Spielerlebnis, das Regeln und Vorschriften in einem anderen Licht zeigt, als die meisten digitalen Spiele es tun. Nämlich als etwas, das nicht hingenommen und durch Anpassung gemeistert, sondern hinterfragt und gegebenenfalls geändert werden kann, das ad-hoc gebeugt werden kann, Unschärfen kennt und Interpretationsspielraum lässt, statt in festen Strukturen zu verlaufen. Nicht wir passen uns der Welt an, sondern wir machen die Welt zu der unseren. Wir widersetzen uns den vorgefundenen Regeln.

Nicht zuletzt deshalb ist das Spielerlebnis in digitalen Portierungen von Gamebooks nie dasselbe (ein Problem, das auch Versoftungen von Brettspielen kennen, die wohl auch deshalb nie zu größerer Popularität gelangten). Komfortfunktionen mögen für ein schnelleres Spielerlebnis sorgen und niemand muss sich Gedanken machen, eine Regel falsch zu interpretieren. Allerdings können die Unschärfen und regelverletzenden Freiheiten gedruckter Bücher so nicht emuliert werden. Ähnlich verhält es sich mit dem derzeit beliebten Softwaretool Twine, auf dessen Grundlage zwar viele interessante Spielkonzepte entstanden sind, welche dem Genre digitaler (Text-)Adventures einen neuen Frühling beschert haben, aber die besondere Natur analoger Spielebücher bleibt auch hier außen vor.

Es sind jedoch nicht nur neue Spielerlebnisse, die wir im Regelbruch und im Setzen neuer Regeln finden können. Egal, ob wir streng den vorgegebenen Regeln der Fabled Lands folgen, ob wir sie hin und wieder zu unseren Gunsten beugen, sie ergänzen oder gleich komplett über den Haufen werfen, wir sind stets im Dialog mit uns selbst, begegnen uns dabei selbst, werden auf unserer Reise in diese zusätzliche Dimension der Interaktivität schließlich wieder auf uns selbst zurückgeworfen. Mut zum Regelbruch, das ist Mut zum Ungehorsam, zur Rechenschaft uns selbst gegenüber, zur Verfolgung eigener Ideale und zur Erkundung neuer Wege. Und mögen dies auch große, bedeutungsschwere Worte sein: Dieser Mut und dieses (Selbst-)Bewusstsein erfahren ihre Erprobung im Spiel.

Doch leider ist das, was die meisten Computerspiele von uns erwarten, auch weiterhin vor allem Internalisierung und Anpassung. Die Fabled Lands und ihr Medium eignen sich demgegenüber wunderbar als Sandbox, um zu testen, wie weit wir uns einem vermeintlich starren Gefüge von Regeln und Narrativen widersetzen können – im Zuge eines wirklich „interaktiven“ Spielerlebens, bei dem sich Autorin und Rezipientin auf Augenhöhe gegenüberstehen. [sk]

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Eine ältere Version dieses Artikels erschien im Juli 2018 als Beitrag zu den Interactive Fiction Days von Language at Play – eine Onlineplattform, die sich mit „Sprache und Sprachwissenschaft im und ums Videospiel“ beschäftigt. Mehr Informationen zu den #IFDays gab es auch bei uns.


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Fotos: Xuân Pham


Behandelte Texte:

  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands I: The War-Torn Kingdom. Fabled Lands Publishing 2010.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands II: Cities of Gold & Glory. Fabled Lands Publishing 2010.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands III: Over the Blood-Dark Sea. Fabled Lands Publishing 2010.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Fabled Lands IV: The Plains of Howling Darkness. Fabled Lands Publishing 2010.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1996). Fabled Lands V: The Court of Hidden Faces. Fabled Lands Publishing 2012.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1996). Fabled Lands VI: Lords of the Rising Sun. Fabled Lands Publishing 2012.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Sagaland: Auf dem blutroten Meer. Deutsch von Astrid Frank. Ravensburger Buchverlag 1998.
  • Morris, Dave & Jamie Thomson (1995). Sagaland: Die endlose Steppe. Deutsch von Astrid Frank. Ravensburger Buchverlag 1999.
  • Smith, Mark & Jamie Thomson (1986). Das Schwert des Samurai. In Das 6. große FantasyAbenteuerSpielBuch. Eds. Steve Jackson & Ian Livingstone. Deutsch von Dirk und Frank Schulter. Stuttgart, Wien & Bern: Thienemann 1999.
  • Poole, Steven (2000). Trigger Happy: The Inner Life of Videogames. London: Fourth Estate.