Was macht uns Menschen zum sozialen Lebewesen? Ist es die Tatsache, dass unsere längst vergangenen Vorfahren nach und nach erste Gesellschaften gründeten? Dass sie lernten, ihre Arbeiten aufzuteilen, ihre Professionen auszudifferenzieren und gemeinsam für ihre Gemeinschaften zu produzieren? Oder, dass unsere Spezies viele Jahre später damit begann, Institutionen zu etablieren und gesellschaftliche Gedankenkonstrukte zu entwerfen, auf die sich eine breite Bevölkerungsschicht gleichermaßen verlassen konnte? Regeln, Pflichten, gegenseitiger Verlass; alles dem Zweck dienend, unser Handeln in der kleinsten Ebene aufeinander abzustimmen, um dadurch ein funktionierendes System am Laufen zu halten, das dem Wesen des denkenden Sozialgeschöpfs Mensch gerecht wird.

Die Grundlagen dieses Handelns jedoch wurden nicht im luftleeren Raum erschaffen, sondern beherbergen jene immanenten Eigenschaften, die uns zurück zur Ausgangsfrage bringen. Gemeint dabei sind: Unsere Werte, unsere ethischen Grundpositionen, sowie unser Verständnis von Moral und moralischem Handeln, mit welchem wir uns tagtäglich auseinandersetzen müssen. Unsere jeweiligen Sozialisationen bieten dabei Regeln, oder sagen wie lieber Fallbeispiele, anhand derer wir uns diesen komplizierten Problemstellungen nähern können, die aber vielleicht weniger die Frage zu beantworten versuchen, inwiefern wir soziale Lebewesen sind, sondern vielmehr, inwiefern uns dieses soziale Leben dem eigenen Moralverständnis nach zu „guten Menschen“ macht.

Wichtiger Hinweis: Im folgenden Artikel geht es unter anderem auch um selbstverletzendes Verhalten und Suizid.


Mehr als Gut und Böse

Moralisches Handeln in Videospielen nimmt seit geraumer Zeit eine große Rolle ein. Spiele wie Mass Effect, Dragon Age, Star Wars: Knights of the Old Republic, Life Is Strange oder auch die Titel des mittlerweile insolvent gegangenen Studios Telltale bauen seit Jahren Spielmechaniken um das Modell der verästelten Moralentscheidungen. Dabei sehen sich die Spielenden oft mit Dilemmata konfrontiert, die in ihren subversivsten Formen vom klassischen Gut/Böse-Schema abweichen und die moralische Einschätzung der Spielenden in besonderer Weise fordert.

Ein kurzer Exkurs dazu: Vielen ist sicherlich das Trolley-Problem bekannt, ein moralisches Dilemma, bei dem ein Zug ein Bahngleis entlangfährt, an dessen Ende sich fünf Menschen befinden, die im Begriff sind, überfahren zu werden. Die Person, die vor dieses Problem gestellt wird, hat allerdings die Möglichkeit, einen Hebel umzulegen, der die Schienen verlegt, sodass der Zug eine andere Strecke entlangfährt – auf der sich lediglich ein Mensch befindet. Diese beiden Entscheidungen lassen sich grob in zwei Denkrichtungen einteilen: Das Umlegen des Hebels wäre dem sogenannten Konsequentialismus zuzuordnen, bei welchem „Der Zweck die Mittel heiligt“. Sich für die Möglichkeit einzusetzen, insgesamt fünf Menschenleben retten zu können, auch wenn es das Opfer einer weiteren Person bedeutet, wäre in diesem Fall also die oberste Doktrin. Dem Konsequentialismus lässt sich auch der Utilitarismus zuordnen, in dem zweck- und nutzenorientiertes Handeln an erster Stelle sehen.

Die andere Möglichkeit, also sich zu entscheiden, nicht in die Situation einzugreifen, ließe sich wiederum der Deontologischen Ethik zuordnen. Ein anschauliches Beispiel hierfür wäre der kategorische Imperativ von Kant, also die Aussage, dass das persönliche Handeln in einer Form ausgeübt werden soll, die sich als allgemeingültiges Gesetz etablieren lassen könnte. Da ein selbstverursachter Tod nach unserem gängigen Moralverständnis da eher nicht drunter fällt, bleibt nichts anderes übrig, als den Zug ungestört weiterfahren zu lassen. Exkurs Ende!

Eigentlich soll sich dieser Artikel auch gar nicht exklusiv mit Moralauseinandersetzungen innerhalb von Spielen beschäftigen. Ich war ehrlich gesagt positiv überrascht, als ich bei meiner Recherche feststellte, wie ausführlich dieses Feld bereits bearbeitet wurde. Von kurzen Kolumnen bis hin zu didaktischen Dossiers, wissenschaftlichen Forschungsprojekten und Design-Handbüchern ist alles vertreten. Die besondere Möglichkeit der Interaktivität und Handlungsfreiheit (wenn auch immer innerhalb der vom jeweiligen Spiel festgelegten Regeln) ermöglicht es in der Theorie, Spiele zu einem Ausprobier-Spielplatz zu machen, in dem moralische Dilemmata das eigene Denken in dieser Hinsicht schulen und der persönlich Horizont um die gemachten Erfahrungen erweitert wird.


The Missing und der Schmerz des Spielens

Eine dieser Erfahrungen war es auch, die den Funken gezündet hat, der schließlich diesen Text zur Folge hatte. Vor einigen Wochen spielte ich das im letzten Oktober erschienene The Missing: J.J. Macfield and the Island of Memories. Entwickelt wurde der Titel von Hidetaka „Swery 65“ Suehiros (D4, Deadly Premonition) in Zusammenarbeit mit seinem neu gegründeten Studio White Owls. Das Spiel stellte sich als seltsamer Trip aus Swery-typischer Abstrusität, herzerwärmender Menschlichkeit heraus und überraschte mit der Thematisierung von (im Spielebereich) selten behandelte LGBTQ-Themen. Die zentrale Spielmechanik war es allerdings, welche es mir besonders angetan hatte. Zur Erklärung: Eure Spielfigur, J.J. Macfield, wird ziemlich zu Beginn des knapp achtstündigen Plattformers mit der absonderlichen Fähigkeit ausgestattet, ihren eigenen Körper in sekundenbruchteilen von jeglichen Verletzungen zu heilen. Der Preis dieser übermächtigen Kraft, die Wolverine sicherlich neidisch machen würde: Eine bevorstehende Reise voller Strapazen, Schmerz, Verletzung, Verstümmelung und allerlei weiteren körperlichen Schäden, die man sich nur vorstellen kann. Was in einem Titel wie NeverDead zum halbgaren Witz missbraucht wurde, ist in The Missing kein Spaß. Im absoluten Gegenteil.

Um Fortschritt im Spiel zu machen und eurer fortgelaufenen Freundin Emily hinterher zu kommen, seid ihr permanent darauf angewiesen, euch selbst zu verstümmeln. Also rennt ihr gegen Metallspitzen, Stacheldraht, in sengendes Feuer, gegen schwingende Abrissbirnen, verliert eure Beine, eure Arme, brennt, brecht sogar euer Genick, nur um im Anschluss mit unmenschlich schiefem Kopf und gebrochenem Bein zur nächsten Rätsellösung zu schlurfen. Begleitet wird diese Selbstverletzung von den markerschütternden Schreien von J.J. Versagt ihr in bestimmten Spielabschnitten oder kommt nicht gleich auf des Rätsels Lösung, werdet ihr direkt doppelt bestraft: Neben dem puren spielmechanischen Versagen seid ihr dazu gezwungen, eure Spielfigur ein weiteres Mal in ihr eigenes Verderben zu schicken, abermals begleitet vom Schreien und Schluchzen J.J. Macfields. Das selbstschadende Verhalten, die gewaltsame Umwelt, mit der wir es zu tun haben, all das macht im Kontext der spielerischen Auflösung durchaus Sinn und dennoch war mein Spielerlebnis eines, das mir sehr an die Nieren ging. So stellte ich mir im Laufe der acht Stunden, lange vor der finalen Auflösung, folgende Frage: Wäre es nicht vielleicht moralisch richtiger, dieses Spiel nicht weiter zu spielen?


Ein hämischer Kommentar?

Hat Swery hier möglicherweise ein moralisches Dilemma inszeniert, in welchem die Entscheidung der Abkehr vor weiterem Schmerz für meine Spielfigur eine valide Option ist? Zu Beginn erschien mir Vieles an The Missing als eine reine Verhöhnung der Spielerschaft, eine Veralberung der spielerischen Angewohnheit, mechanischen Fortschritt als oberste Doktrin anzusehen und alles spielerisch Mögliche aus einem Titel rauszuholen, so lapidar jene Aktivitäten sich auch gestalten, die letztendlich zum 100% Score oder der Platinmedaille führen.

Eine der ersten Interaktionen mit der Spielwelt von The Missing ist das Einsammeln eines Donuts. Von diesem könnt ihr während des Spielverlaufs etliche weitere sammeln, durch welche ihr optionale Chat-Nachrichten auf eurem Smartphone freischalten könnt. Viele dieser Donuts sind wiederum damit verbunden, optionale Rätsel zu meistern, und damit auch indirekt mit weiterem Schmerz und Leid für eure Spielfigur. Dass es sich hierbei ausgerechnet um Donuts handelt, kann natürlich nur ein zufälliger Einfall sein – oder man liest diese Entscheidung für die optionale Suche nach diesen eigentlich lapidaren Gegenständen im Kontext einer ansonsten überraschend humorbefreiten und ernsten Geschichte als bewussten Kommentar. Als direkte Fragestellung, wie wichtig es der Spielerschaft tatsächlich ist, am Ende des Spieldurchgangs einen möglichst hohen Score erreicht und eine möglichst beachtliche Anzahl sinnloser digitaler Gegenstände gesammelt zu haben. Dafür weitere Stunden das schmerzvolle Geschrei von J.J. mitanhören zu müssen: ein notwendiges Übel, so sind Spiele eben. Herzlichen Glückwunsch, lieber Spieler, diese 20 weiteren Enthauptungen und Genickbrüche gehen aufs Haus.

Und dann fing ich an, den Gedanken, den The Missing in mir geweckt hat, weiter zu spinnen. Von der bloßen Moralentscheidung in Spielen zur moralischen Frage des Spielens. Dieses Thema ist ein heikles, kämpfen Spiele doch seit jeher darum, ihre Kunstfähigkeit und kreatives Potential, ungeachtet von Faktoren wie grafischer Gewalt, für sich zu beanspruchen. Durch Amokläufe wie in Winnenden gerieten Spiele jedoch in den Verdacht, Gewalt zu fördern und durch die Rolle des Akteurs zu verharmlosen. Die Gegenposition zu diesen Behauptungen, die vor allem im politischen Bereich gerne immer wieder geäußert wurden, blieb bis heute standhaft: Spiele sind fiktionale Erzeugnisse die genauso eine Abstraktionsfähigkeit voraussetzen wie andere Medien. E-Sports-taugliche Titel wie Counter-Strike priorisieren Taktik und Teamgeist, und nicht etwa das stumpfe Abknallen anderer Menschen.

In den letzten Jahren hat sich vieles getan und so steht der öffentliche Zeitgeist Spielen nicht mehr in der gleichen aggressiven Zensurhaltung gegenüber, wie es vielleicht noch vor 10-15 Jahren der Fall war. Die damals notwendige Verteidigungshaltung aus dem Lager der Videospieler lebt allerdings immer noch weiter. Das sehen wir in vielen Diskussionen und lautstarken Auseinandersetzungen über die Fragen, wie Spiele zu sein haben, wen sie ansprechen sollen, und in welche Richtung sich das Medium generell weiterentwickelt. Spiele mit Easy Modus und Walking Simulator-Komponenten? So vermeintlich trivial solche Themen auch klingen mögen, so führen diese neuen Gedanken und Ausrichtungen doch immer wieder zu manch hitziger Diskussion.


Künstliche Intelligenz: Wie wir in Zukunft mit der Moralfrage umgehen werden

Vielleicht ist es an der Zeit, eine Diskussion zu eröffnen, die sich ungeachtet des Ballasts vergangener Kontroversen und Debatten tatsächlich mit der Frage beschäftigt, in welcher Verantwortungsposition wir selbst als spielende Person stehen. Gibt es heutzutage eine moralische Fragestellung, die nicht nur unsere Spielfigur sondern auch uns selbst tangiert? Und wenn es sie nicht heute gibt, gibt es sie vielleicht in absehbarer Zeit? Ein lesenswertes Interview zu diesem Thema aus dem Jahr 2014 mit Brian Tomasik, einem Forscher des Foundational Research Institute, findet man auf dem Nachrichtenportal Vox:

“As computing power increases, both on Earth and perhaps eventually in other parts of the galaxy, humans may run massive numbers of computations at high speed, some of which may embody morally relevant processes. Video-game NPCs are one example of this. In addition, as these NPCs become more life-like, intelligent, and affectively sophisticated, the moral weight of any given individual will increase. It’s possible that video games in 50 years will routinely contain characters as sentient as a minnow or salamander is today.” – Dylan Matthews & Brian Tomasik, vox.com

Künstliche Intelligenzen haben sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt, aber vergleichen wir ihre Fähigkeiten mit menschlicher und tierischer Kognition, liegt noch ein weiter Weg vor der Technik. Deswegen vorweg: Natürlich lässt sich der Angriff auf einen NPC nicht per se mit der Gewaltausübung gegenüber Menschen oder Tieren vergleichen. Dennoch müssen wir uns die Frage stellen, wo wir bereit sind, eine Grenze zu ziehen, und wie wir vorhaben, mit dieser zu verfahren – was sich als gar nicht so einfach herausstellt, wie man vielleicht denken mag:

“We might think there should be a threshold of cognitive complexity below which computational agents stop mattering, but it’s not clear where to set such a threshold. Each step in increasing an artificial agent’s mental abilities by itself looks rather trivial; it generally means just adding some extra lines of code. It’s when all of these seemingly trivial steps are added together that the agent traces out patterned behavior that looks more meaningful to us. If we insist on self-reflection as a clear cutoff for moral concern, we run into the problem of specifying where „self-reflection“ begins and ends. Even a trivial computational agent may monitor its own state variables, assess its performance, generate statements about itself, store and retrieve memory logs of its past experiences, and so on. Without a clear dividing line here, I think a computational agent with these trivial abilities ought to be called marginally self-aware, and an agent with more powerful and advanced self-reflection ought to be called more self-aware.” – Dylan Matthews & Brian Tomasik, vox.com

Nochmals die Frage: In welcher Verantwortungsposition stehen wir möglicherweise selbst, als Akteure, die dadurch oftmals mit einer besonderen Macht ausgestattet sind, wenn es um unsere moralische Entscheidungsgewalt in und über Spielwelten geht? Gelegentlich sind wir auch ein Gott, der über den Aufbau ganzer Zivilisationen entscheiden darf. Wie sollten wir uns dabei fühlen? Sollten wir überhaupt etwas empfinden?


Die Machtfrage: Der Gott außerhalb der Maschine?

Ein Spiel, das in besonderer Weise an seine SpielerInnen appelliert, ist Undertale von Toby Fox. Die JRPG-Hommage aus dem Jahr 2015 narrativiert und dekonstruiert in einer besonderen Weise Spielmechaniken, die von Fans dieses Genres über Jahrzehnte hinweg angelernt wurden. Vom Speichern bis zum Level Up liest sich alles als ein bewusster Kommentar, welcher sowohl unsere Welt und Existenz als Spieler, als auch die Spielwelt selbst tangiert. Spielt ihr Undertale im True Pazifist Run (in welchem Kämpfe gänzlich vermieden werden müssen) durch, gibt es am Ende von diesem eine explizite Ansprache an euch, in der ihr gebeten werdet, die Spielwelt ein für alle Mal ruhen zu lassen. Nach all den Strapazen seid ihr an einem Happy End angekommen, das für eure Spielfiguren Frieden und Eintracht bedeutet. Das Spiel ist sich dabei bewusst, welche Macht ihr habt, dass es nur ein paar Tastendrücke im Menü für euch bedeuten würde, den Spielstand mit euren glücklichen, liebgewonnenen Spielfiguren zu tilgen und durch einen neuen Anlauf zu ersetzen. Die Figuren sind Zahlen und Buchstaben auf eurer Festplatte, und doch werdet ihr gebeten, diese Zahlen in Frieden zu lassen. Es ist eine hypothetische Frage, die hier gestellt wird:

“Undertale uniquely places this ethical dilemma on the player’s side of the screen and asks: ‘What kind of person are you when you have this power in your hands?’” – Kat Smalley, popmatters.com

Ein ähnliches Gefühl vermittelt auch NieR:Automata. Während ihr als die YoRHa-Einheiten 2B und 9S auf die Erde geschickt werdet, um diese von seinen Invasoren, den Maschinen, zurückzuerobern, geratet ihr an mehr und mehr Informationen, die euch doch sehr an der vermeintlichen Feindseligkeit eures Gegners zweifeln lassen. Die offene Welt, die ihr in Automata durchwandert, zeichnet das Bild einer Postapokalypse, in der die Natur bereits im Begriff ist, sich allmählich zurückzuholen, was ihr die Zivilisation und jahrhundertelange Kriege genommen haben.

Auf euren Reisen von Punkt A nach Punkt B stoßt ihr immer wieder auf Gruppierungen von Maschinen, die bei genauerem Hinsehen ein friedvolles Dasein fristen – Seite an Seite mit Elchen und Ebern, die ebenfalls im hohen Gras vor sich hinvegetieren. Die Entscheidung, wie ihr mit diesen umgeht, inwiefern ihr mit den Informationen, die das Spiel euch über die Herkunft und wahren Motive der Maschinen mitteilt, verfahrt, liegt völlig bei euch. Automata legt euch keine moralische Pistole auf die Brust und zwingt euch nicht das Dilemma in diesen Momenten überhaupt erst anzuerkennen. Akzeptiert ihr die Indoktrination eines Feindbilds seitens YoRHa und nehmt die zusätzlichen Erfahrungspunkte dankend an? Oder weigert ihr euch, zusätzliche Gewalt gegen die Lebensformen auszuüben, die eure Ausbildungsbasis als zu minderwertig, zu unterkomplex ansieht, um überhaupt erst als solche anerkannt zu werden?


Mehr Realismus, mehr Immersion, mehr Probleme

Wir haben natürlich keine Ahnung, in welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sich künstliche Intelligenzen in Zukunft entwickeln werden. Vielleicht würde Undertale, wäre es in 50 Jahren entwickelt worden, eine ganz andere Wucht in seiner Entscheidung vermitteln. Wenn dann wie Brian Tomasik beschrieben, die mentale Kapazität eines NPCs möglicherweise auf dem Level eines Salamanders wäre. Inwiefern hätten wir dann Schwierigkeiten damit, eine ganze Spielwelt aus ihrer Existenz zu tilgen?

Wir befinden uns in einem künstlerisch vielfältigen Spiele-Zeitalter, in dem sich unkonventionelle Darstellungsweisen wie die eines GRIS oder eines Low-Poly-Titels wie Virginia die Hand reichen, und doch ist es gerade die Darstellung und Simulation eines realistischen Spielgefühls, die vor allem im AAA-Markt oftmals stark propagiert wird. Zuletzt sahen wir dies am Beispiel von Red Dead Redemption 2 – das allerdings auch nicht bedingungslos positiv mit dieser Vision ankam und bei einigen Spielern eher genervte Reaktionen hervorrief. Während die Darstellung von dem was als „authentisch“ oder auch „historisch korrekt“ wahrgenommen wird wieder ganz andere Diskussionen mit sich bringt, steht zumindest außer Frage, dass Entwicklungen auf einer rein technischen Ebene weitergehen werden. Auch wenn die Verbesserungen von künstlichen Intelligenzen innerhalb der Spieleentwicklung eher zäh voranschreiten: In anderen Fachbereichen, beispielsweise an Universitäten, wird bereits versucht, die Grenzen des bisher Machbaren so gut wie möglich auszuloten.

Neben dem Drang nach Realismus und möglichst detailgetreuen Darstellungen unserer Wirklichkeit, versorgen uns VR-Brillen nun auch mit einer neuen Art der immersiven Spielerfahrung, die unseren Aktionen innerhalb der virtuellen Spielwelten einen noch größeren Wert verleihen. Die zuletzt zunehmende Akzeptanz von VR lässt vermuten, dass auch zukünftige Konsolen mit jener Technik ausgestattet sein könnten, und so scheint es, dass uns diese Technologie nach anfänglichen Zweifeln doch nicht mehr so schnell verlassen wird. Über deren Zukunft lässt sich jedoch nur spekulieren: Wird es einen Zeitpunkt geben, an dem Spiele nur noch in einer Form wahrgenommen werden, die einen selbst zum Teil der Spielwelt machen? Man stelle so manchen entscheidungsträchtigen Moment der vergangenen Videospielgeschichte in einer weit fortgeschrittenen virtuellen Realität vor, ausgestattet mit künstlichen Intelligenzen, die unsere jetzigen weit in den Schatten stellen. Wer kann dann noch von sich selbst behaupten, dass seine eigenen, möglicherweise moralisch fragwürdigen Handlungen in dieser Welt keinerlei Auswirkungen haben? Oder in irgendeiner Art weniger verwerflich sind, als die Entscheidungen, die man trifft, sobald die Realitäts-Brille wieder abgenommen wurde?


Demut vor der (digitalen) Welt?

Zusammenfassend stehen wir also vor zweierlei: Zum einen ist da die Tatsache, dass wir Spielen mittlerweile, gleich der Literatur oder dem Film, die Fähigkeit zusprechen unser moralisches Denken zu schulen. Gleichzeitig wissen wir allerdings, dass künstliche Intelligenzen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch in den kommenden Jahren an Leistung zunehmen werden, was dazu führt, dass moralisches Handeln, das sich gegen jene Intelligenzen richtet, zunehmend problematischer wird. Und so sind wir es möglicherweise, die sich auf jene ethischen Fragen vorbereiten müssen, die uns in dieser Zukunft erwarten könnten. Fragen, die sich damit auseinandersetzen, inwiefern mit künstlichen Intelligenzen gefüllte Spiele weiterhin die unproblematischen Selbstverwirklichungs- und Probierspielplätze bleiben können, die sie heute größtenteils noch sind. Dieser Zustand könnte womöglich schneller erreicht werden, als wir denken. Vielleicht ist es ja nie zu früh, damit anzufangen, Spielwelten und ihren Figuren mit einer gewissen Demut zu begegnen. [ja]


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