Würde man die Entwicklung von Medienformen mit Verkehrsmitteln vergleichen, so wäre die Evolution von Videospielen in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich mit dem TGV oder dem Shinkansen gleichzusetzen. Ein Medium, das wie ein Schnellzug voranprescht, stetig angetrieben vom technischen Fortschritt, die Ausreizung seiner inhaltlichen und vor allem formalen darstellerischen Finesse anstrebend.

Die rasante Reise hin zu immer schärferen und immer immersiveren Welten offenbart sich, betrachtet man sie einmal rein oberflächlich und mit ein paar Schritten Abstand, als eindrucksvolle Erfolgsgeschichte. Angefangen bei der Genese der ersten interaktiven und kommerziellen Pong-Pixel bis hin zur konstanten Annäherung an mitunter fotorealistische Darstellungen, wurden hier in vergleichsweise kurzer Zeit technische Quantensprünge bewerkstelligt, die selbst vom größten Videospielkritiker nicht verleumdet werden können. Und dennoch, so sehr sich Spiele seit Anbeginn ihrer Zeit auch im konstanten Wandel befanden, so gleichbleibend präsent waren die Identitätskrisen, mit denen das Medium immer wieder zu kämpfen hatte und welche bis heute zu spüren sind.

Was klar ist: Neue Medienformen werden natürlich nicht plötzlich und ohne Bezug auf ihre äußeren Umstände geboren, sondern sind das Resultat vorangehender Prozesse im Bereich Kunst und Kultur. Dabei offenbaren sie, ohne dies kaschieren zu wollen, welche spirituellen Vorgänger ihnen als Einflussfaktor dienten und den Weg bereiteten:

“Film imitated theater (hence the word „photoplay“). Television imitated radio, which had imitated vaudeville. Poetry imitated song. Only when each of these media emerged as the dominant medium of its respective era, with a confident work of art that did not mimic the conventions of old media but instead used the new medium in unique ways (in a dare I say it, Citizen Kane moment) did the other media begin, instead, to mimic it.”


Auf der Suche nach der eigenen Identität

Videospiele sind da selbstverständlich keine Ausnahme. Angefangen in der Blütezeit der Text-Adventure, als der Vorteil der digitalen Interaktivität dafür genutzt wurde, um neue Experimente im literarischen Bereich zu wagen. So standen dank technischer und grafischer Einschränkungen stark textbasierte Titel eine Zeit lang im Mittelpunkt. Spätestens mit der Verbreitung von Videosequenzen trat jedoch der Film als inspirierendes und einflussreiches Medium in den Vordergrund und wurde zum Vorbild und Objekt der Begierde sämtlicher Spieleentwickler.

Im Zuge all der Fragen, die mit der Diskussion über einen möglichen Spiele-Kanon einhergehen, scheint allerdings eine unausweichlich zu sein: Was genau definiert eigentlich die einzigartige Identität von Videospielen? Im Kampf um die Legitimation des eigenen Mediums tauchten daher immer wieder gedankliche Ansätze auf, in denen nach dem einen Vorzeigewerk, dem Heilsbringer, dem Nonplusultra des digitalen Spiels Ausschau gehalten wurde. Eine romantisierte und erlösende Vorstellung umgibt diesen theoretischen Titel. Einzigartig exemplarisch für das Medium als Ganzes und zugleich stilprägend, selbst für künftige Generationen, soll er sein. Der Superlativ jenes Wunsches nach diesem schwammigen Konstrukt wurde gerne mal mit der diskussionswürdigen Fragestellung „Was ist das Citizen Kane der Videospiele?“ beschrieben.

CitizenKane
Wird gerne mal als Paradebeispiel für ein Werk herangezogen, das einst sein Medium definierte: Citizen Kane (1941)

„Vielleicht werden wir erkennen, dass das Streben danach, so wie Hollywood zu sein, uns in die Irre geführt hat. Vielleicht werden wir erkennen, dass klassische Erzählstrukturen in Videospielen nicht funktionieren.“

Dass es ausgerechnet ein Film ist, der als Maßstab für ein richtungsweisendes Spiel herangezogen wird, von welchem erwartet wird, ähnliche Spuren zu hinterlassen wie das 1941 erschienene Langfilm-Regiedebüt von Orson Welles, kann exemplarisch für die Richtung gesehen werden, in die sich vor allem aufwändige AAA-Produktionen in der jüngeren Zeit entwickelt haben. Der eigentliche Wunsch dahinter scheint klar: Spieler wollen den einen Titel bekommen, mit dem sie sich endlich aus der Komfortzone der eigenen Blase trauen dürfen und den sie süffisant lächelnd jedem noch so zynischen Kritiker unter die Nase halten können, um dadurch ein Gefühl von Anerkennung und Legitimation zu ernten. „Herzlichen Glückwunsch, dein Lieblingsmedium ist jetzt weitergezogen und hat ein neues Bewusstseinslevel erreicht“.


Wunschdenken trifft Realität

Doch so inspirierend dieser Wunsch auch klingen mag, so schwierig vereinbar ist er mit den realen Zuständen. Das Streben nach dem einen definierenden Spiele-Heiland, der die Szene wie wir sie kennen auf den Kopf stellen und eine Zäsur lostreten soll, wird, mit aller Wahrscheinlichkeit, vergeblich bleiben. Diese Meinung vertritt beispielsweise der Spieleforscher und Game Designer Ian Bogost gegenüber Gamasutra: „It’s a red herring, because we think that having a Citizen Kane will prove our artistic legitimacy, but masterworks are not how artistic legitimacy is proven anymore“.

Spiele haben sich ausdifferenziert, in zahllose Verästelungen weiterentwickelt und mit der Zeit immer diversere Züge angenommen. Die Identität des Spielemediums? Vielleicht gar nicht so einfach an einem einzigen Werk festzumachen, betrachtet man die Schwemme an verfügbaren Titeln, Genres und Vorlieben die im Markt existieren. Ein Blick auf die Entwicklung kooperativer und multiplayer-fixierter Spiele beispielsweise lässt ganz andere Titel als Einflussfaktoren hervorstechen, als wenn man sich ansieht, welche Spiele Fortschritte im Erzählen von Geschichten zu verantworten haben.

Hinzu kommen natürlich noch die unterschiedlichen Schulen der Ludologie und Narratologie, die beide mit einem jeweils anderen Blick auf Spiele und die in ihnen ablaufenden Prozesse schauen. Lassen sich diese Schulen vereinen und steckt in diesem Versuch vielleicht die Möglichkeit, das Medium weiter voranzubringen? Vielleicht. Vielleicht verfalle ich in diesem Moment allerdings auch nur dem romantisierenden Traum eines „Citizen Kane der Videospiele“. Persönliche Präferenzen sind untrennbar mit einem Wunsch nach Fortschritt verbunden, damit, in welche Richtung die Galeere namens Videospiel denn nun in Zukunft steuern soll.

Es wäre gelogen, wenn ich verneinen würde, dass ich nicht auch gelegentlich diesem Wunschdenken verfalle. Und meist ist es dabei tatsächlich die hypothetische Verbindung zwischen Spielmechanik und Vermittlung von Erzählungen, um die meine Gedanken kreisen. Wie lässt sich Steuerung narrativieren? Wie erzählen erkundbare Umgebungen von sich aus Geschichten? Wie schafft man die schwierige Gratwanderung zwischen geleitetem An-der-Hand-führen und freiem Spiel?


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Game Designer wie Jonathan Blow (Braid, The Witness) …
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… Yoko Taro (NieR, Drakengard) …
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… oder auch Davey Wreden (The Stanley Parable, The Beginner’s Guide) erwähnen in ihren Vorträgen immer wieder das bisher unentdeckte Potenzial von Spielen und den Wunsch, bestehende Herangehensweisen aufzubrechen.

Moderner Design-Anarchismus

Vor allem in jüngster Zeit tauchten immer wieder Titel auf, deren Design-Ansatz sich stark mit dieser Frage beschäftigte, oder die anderweitig neue Akzente setzten. Die Weiterentwicklung des Mediums stand zwar niemals still, doch ist vor allem in den letzten Jahren eine Aufbruchsstimmung in den Designideen mancher Entwickler zu erkennen, die tatsächlich an den Wunsch einer Zäsur erinnern. Designer wie beispielsweise Jonathan Blow (Braid, The Witness), Yoko Taro (NieR, Drakengard) oder Davey Wreden (The Stanley Parable, The Beginner’s Guide) eint der Wunsch, das bisher unentdeckte Potenzial von Spielen herauszukitzeln und bisherige, meist wenig hinterfragte, Strukturen des Mediums auf radikale Weise neu anzugehen.

Dieses Denken halte ich für unheimlich wichtig und für lange überfällig. Spiele werden vielleicht nie ihr „Citizen Kane“ oder „2001: Odyssee im Weltraum“, und damit ein alle Qualitäten des Mediums vereinendes Nonplusultra-Werk besitzen. Aber durch den avantgardistischen Ansatz so mancher Designer gibt es zumindest Nährboden für Titel, die unser bisheriges Verständnis von Spielen hinterfragen könnten, sei es im Bereich spielmechanischer, Flow-basierter Titel oder im Erkunden neuer narrativer Erzählmöglichkeiten. Durch den Blickwinkel der Retrospektive werden wir schließlich irgendwann im Stande sein, diese Spiele besser einzuordnen, sie in einen Kanon einzugliedern oder als große Meilensteine für bestimmte Entwicklungen innerhalb des Mediums zu sehen.

Dafür braucht es Offenheit für Neues, Mut seitens der Hersteller und vielleicht auch das nötige Quäntchen Glück. Der Wunsch, ausgetretene Pfade verlassen zu wollen, ist daher einer, der von Konsumenten und Produzenten gleichermaßen befürwortet werden muss. Wie Umberto Eco in seinem Buch „Das offene Kunstwerk“ aufführt, ist es das Zusammenspiel beider Seiten, das den interpretativen und gedanklich einordnenden Prozess erst lostritt. Auf Videospiele scheint diese Aussage umso zutreffender zu sein. Das Steuerrad der zuvor erwähnten metaphorischen Galeere namens Videospiel liegt daher in den Händen von all denjenigen, denen das Medium am Herzen liegt. Wenn wir es gemeinsam wagen, hin und wieder die uns bekannten Gewässer zu verlassen, könnten wir mit faszinierenden Abenteuern belohnt werden. Also Leute, alle Kraft voraus! [ja]


Dieser Artikel erscheint im Rahmen des Themenmonats Kanon Fodder. Im Mittelpunkt des Specials steht der dritte SPIELKRITIK slowtalk zum Thema „Zweck, Aufbau und Inhalt eines Videospiel-Kanons“.