Der SPIELKRITIK slowtalk: Vier Leute sprechen über ein Thema – mindestens eine ganze Woche lang. Das Thema diesmal: „Kanon Fodder: Zweck, Aufbau und Inhalt eines Videospiel-Kanons“.
Im ersten Teil unserer Unterhaltung sprach ich mit Nora Beyer, Aurelia Brandenburg und Christian Neffe vor allem über die Kriterien für eine Kanonisierung sowie über die existierenden Machtstrukturen, die den Kanon bestimmen. Vielen Dank an dieser Stelle für die rege Resonanz im Kommentarbereich!
Im folgenden zweiten Teil geht es nun verstärkt um Kategorien von Spielen, die – ungerechtfertigerweise? – bei der Kanonisierung unter den Tisch fallen oder „unter den Tische gefallen werden“, sowie um Probleme der Konservierung und Archivierung. Konkret auch um die Kanonwürdigkeit von Die Sims und GoldenEye. Wir wünschen euch erneut viel Spaß beim Lesen! [sk]
#11: christian
Zunächst erstmal zu Sylvios letztem Punkt: Diesen negativen Ansatz bei der Auswahl der Spiele finde ich eher kritisch. Ich denke nicht, dass es förderlich ist, sich auf Spiele zu konzentrieren, die quasi als “Underdogs” gelten. Da kommen wir dann ganz schnell in einen Bereich, in dem unsere persönlichen Vorlieben dem breiten Konsens widersprechen. Ich will nicht sagen, dass es solche Perlen nicht gäbe, dass nicht auch ein “vergessenes” Spiel einen Platz im Kanon verdient hätte. Davon abgesehen – und da wäre ich bei Noras Punkt angelangt – glaube ich aber auch nicht, dass es überhaupt eine relevante Zahl vergessener oder vernachlässigter Werke in diesem Medium gibt.
Den Vorteil, den wir nämlich gegenüber einem literaturwissenschaftlichen Kanon haben, ist ja allein schon dem gewaltigen Altersunterschied zwischen Videospiel und Buch geschuldet. Das erste existiert 50 Jahre, das zweite schon seit der Antike. Das erste Medium ist – bis auf ganz, ganz frühen Jahre, würde ich mutmaßen – dank Fachzeitschriften, Internet und moderner Archiv relativ komplett dokumentiert, beim zweiten wird es fraglos Werke geben, die im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit geraten oder gänzlich verschwunden sind. Auf jeden Fall haben wir Zeit und Technik auf unserer Seite.
So, nun lasst uns aber einmal zu den konkreten Beispielen kommen. Anstatt ganz vorn zu beginnen, wäre es ja auch eine Idee, uns auf eine erste größere Menge von Spielen zu fokussieren. Vielleicht könnte jeder von uns drei Spiele benennen, die aus ihrer/seiner Sicht unbedingt in einen Kanon gehören. Als Shooter-Fan werfe ich hier einfach mal Doom, Half-Life und Call of Duty 4 in den Raum.
#12: aurelia
Ich würde gerne kurz noch einmal deinen Punkt mit der guten Erfassung von Videospielen aufgreifen, weil ich fürchte, dass das zwar ein naheliegender Gedanke ist, aber so nicht vollkommen stimmt. Lässt sich denn wirklich heute noch rekonstruieren, warum ein altes Spiel irgendwann einen bestimmten Reiz ausgeübt hat, wenn man nicht dabei war und niemanden fragen kann, der dabei war? Ich würde da nämlich mal behaupten, dass das zumindest schwierig sein dürfte, weil diese Ebene ja z.B. in reinen Produkttests kaum abgebildet wird. Alte Fachzeitschriften können also dann in vielen Fällen nur Aufmerksamkeit und keine Gründe für eine bestimmte Faszination abbilden. Und was die Konservierung angeht, macht es uns die Technik wahrscheinlich eher schwerer. Dateiformate, Betriebssysteme, Datenträger – das alles hält sich im Verhältnis ja sehr viel schlechter als Text auf Papier oder Pergament, ganz zu schweigen davon, dass es sicher genug Spiele gibt, an die schon heute kaum noch zu kommen ist, geschweige denn, dass man die zuverlässig zum Laufen bekommt. In dem Punkt haben wir bei Spielen also wohl keinen Vorteil, sondern eher einen Nachteil und garantiert ist auch so längst eine große Masse von kleineren Spielen der frühen Jahre des Mediums längst für immer verloren. Die sind für einen Kanon vielleicht im Verhältnis nicht so bedeutend, aber eben trotzdem weg.
Bei konkreten Beispielen tue ich mich ehrlich gesagt schwer. Die ersten Spiele, die mir in den Sinn kämen, wären solche, die mich irgendwie geprägt und die ich als Kind oder Teenager viel gespielt habe, d.h. die sind auch sicher in meiner Erinnerung deutlich verklärter als sie es verdient haben. Trotzdem, wenn ich drei benennen müsste, dann wären das wohl Die Sims 2, Age of Mythology und Skyrim.
#13: sylvio
Ich muss dir da ebenfalls widersprechen, Christian. Allerdings glaube ich, dass du mich einfach nur ein Stück weit falsch verstanden hast: Es war nicht mein Anliegen, irgendwelche „vergessenen“ „Underdogs“ kanonisieren zu wollen, oder zu behaupten, dass die Exzellenz eines bestimmten Titels noch nicht hinreichend gewürdigt sei. Der von dir erwähnte „breite Konsens“ ist trotzdem ein gutes Stichwort. Denn die Frage lautet doch dann erneut: Wessen Konsens? Wie breit ist dieser Konsens wirklich, oder ist er nicht möglicherweise eher elitär? Mit meiner Frage zielte ich deshalb ab auf Spiele (oder ganze Genres), denen eine Kanonisierung mehr oder weniger bewusst verwehrt wird, obwohl stichhaltige Argumente für eine Kanonwürdigkeit sprechen. Das kann durch aktives Gatekeeping geschehen, dass nur eine bestimmte Art von Spielen als diskussions- und erinnerungswürdig akzeptiert, oder durch bloße Ignoranz aufseiten derer, die stärker als andere zu einer Kanonbildung beitragen.
Denn auch wenn sich etwa die journalistische Landschaft im Bereich Games gewandelt hat und deshalb auch spielmechanisch eher unscheinbare Spiele wie Life Is Strange und Spec Ops: The Line heute als kanonisiert gelten dürfen, prägt ein gewisses elitäres Denken auch weiterhin den Diskurs. Wenn wir also einen bestehenden “Konsens” nicht hinterfragen, dann sagen wir damit, dass dieser Konsens stets fair und vorurteilslos, und unter ausgewogener Partizipation der Rezipienten gefunden wurde. Das ist aber nicht der Fall. Schauen wir uns dazu einmal diesen Tweet an, der derzeit die Runde macht:
Dazu sollte ich anmerken, dass ich die Ausgangsthese nicht für sonderlich akkurat halte und Ursache und Wirkung dort nicht klar genug voneinander getrennt werden. In den Comments wird das Grundproblem schon deutlicher, ironischerweise gerade in der Gegenposition dieses Users, der unter anderem die sehr steile These aufstellt, dass Die Sims keine innovativen Spielmechaniken habe.
Um das Ganze abzukürzen: Ich sehe bei The Sims (und bei vielen anderen vermeintlichen Casual-Games noch viel stärker) ein Gatekeeping in zweifacher Hinsicht: Die Qualitäten der Sims gelten nicht oder werden als minder wertvoll gegenüber kompetitiven und story-lastigen Spielen verstanden, und werden deshalb im nächsten Atemzug als reizvoll für Frauen angenommen. Dann haben wir also ein Spiel vor uns, das enorm erfolgreich ist, dessen Qualitäten aber nicht dem klassisch-elitären Verständnis von einem guten Computerspiel entsprechen, und dann wird als Ursache für den Erfolg die Popularität bei Frauen ausgemacht, aber nicht als Lob, sondern immer wieder mit einer gewissen Geringschätzung. Die richtet sich genauso gegen Kinder, Senioren, Chinesen, Mobile- und Konsolengamer, die nämlich alle nicht wissen, was wirklich gut ist; und dann sind wir bei der Frage nach der Kanonwürdigkeit von Nintendogs angelangt, von Dr. Kawashimas Gehirnjogging und Rayman Raving Rabbits, von Pokémon sogar.
Das alles sind weder Underdogs, noch sind dieses Spiele per se vergessen, aber wenn es um so etwas wie einen Kanon geht, scheinen sie nicht auf dem Schirm derer zu sein, die diese Erinnerungskultur entscheidend mitprägen, egal ob sie im Elfenbeinturm der Gamerz oder der New Game Journalists sitzen.
Und zur Frage nach drei Kanon-Games. Wo wir schon bei dem Thema sind, würde ich Harvest Moon (SNES) und Animal Crossing mit Die Sims auf einer Stufe sehen. Und als kanonischen Shootern nominiere ich Turok (2) weil GoldenEye und Halo vermutlich ohnehin gesetzt wären.
#14: christian
Dann habe ich dich da tatsächlich falsch verstanden, Sylvio. Die von dir genannten Beispiele sind ja alles andere als Underdogs, ich ging da eher von persönlichen Lieblingen aus, denen es nicht gelungen ist, auch nur mittlere Bekanntheit zu erlangen. Ich erinnere mich da an ein frühes RPG-Maker-Spiel, von dem ich wirklich begeistert war: Unterwegs in Düsterburg. Sehr wahrscheinlich, dass ich das heute viel schlechter einschätzen würde, aber damals war es für mich eines der besten Spiele, die ich bis dato erlebt hatte. Ich hatte bei deiner Argumentation dann eher an so etwas gedacht…
Bei dem Tweet zu den Sims musste ich stutzen. Ich empfinde es zwar auch so, dass Die Sims eher als Spiel wahrgenommen wird, das vor allem Frauen für sich entdeckt haben – aber keinesfalls habe ich den Eindruck, als würde es deshalb quasi “unter den Tisch gekehrt” werden, oder wie auch immer man das nennen möchte. Eher im Gegenteil. Es sind ja aber eben nicht nur selbsterklärte Core-Gamer, die in der öffentlichen Debatte mitmischen. Insofern sehe ich durchaus, dass die Tore auch für Spiele offen sind, die – wie du es nennst – nicht dem klassisch-elitären Verständnis eines guten Spiels entsprechen. Möglicherweise wäre das ja auch ein weiterer Ansatzpunkt für den Kanon: Spiele, die das Medium einem neuen, breiteren Publikum geöffnet haben. Da würden Die Sims und Pokémon ebenso darunter fallen wie Wii Sports oder Dr. Kawashima. Wobei ich letzterem eher skeptisch gegenüber stehe.
In euren Beispielen finden sich jedoch zwei interessante Punkte. Zum ersten, dass Aurelia Die Sims 2 und nicht den ersten Teil nennt. Liegt das nur daran, weil du mit dem zweiten Spiel in die Reihe eingestiegen bist?
Und bei dir Sylvio fällt mir insbesondere die Nennung von GoldenEye auf, das für mich wohl nicht mal eine Erwähnung wert wäre. Ganz einfach deshalb, weil ich es aufgrund seiner Indizierung nie gespielt habe. Was hier so interessant ist, ist eben diese lokale Besonderheit der Indizierung. Das ist auch einer dieser spezifisch lokalen Faktoren, die unsere Kanonbildung immens beeinflussen und weshalb es eigentlich so wichtig wäre, auch Stimmen aus anderen Kulturräumen zu Wort kommen zu lassen.
By the way: Ich bin ein riesengroßer Halo-Fan, würde das Spiel aber trotzdem nicht in einen Kanon aufnehmen. Zumindest, wenn der nicht genre-spezifisch ist. Dafür hat die Reihe dann doch zu wenige Spuren im Genre hinterlassen.
#15: sylvio
Unabhängig davon, in welchem Maße Halo seine Spuren im Genre hinterlassen hat, erscheint es mir schon deshalb für einen Kanon unentbehrlich, weil es schlichtweg das Spiel ist, das mit der Xbox assoziiert wird. Darüber hinaus tauge ich in diesem Fall allerdings nicht zum Advokaten, da ich selbst noch keinen Teil der Reihe spielen konnte.
Bei GoldenEye möchte ich hingegen gleich noch einmal einhaken. Das Spiel ist nämlich ein wunderbares Beispiel um einige Probleme der Kanonbildung im Games-Bereich zu illustrieren, die über das schon erwähnte institutionalisierte Gatekeeping hinausgehen und auf die wir unbedingt noch etwas näher eingehen sollten, weil sie ganz spezifisch das Medium Videospiel betreffen.
Und zwar habe ich selbst ebenfalls keine tiefergehende Beziehung zu GoldenEye, das ich aus denselben Gründen wie Christian damals nicht gespielt habe. Ich wusste über mehrere Jahre hinweg nicht einmal, dass das Spiel noch existierte. Im Sommer 1997 gab es im deutschen Club Nintendo Magazin eine Vorschau mit zwei, drei Screenshots, von denen ich, als Fan des Films, auch sofort begeistert war. Zu meinem Bedauern wurde GoldenEye im Magazin danach nie wieder mit einem Sterbenswörtchen erwähnt – und ich (ohne Internetzugang und unabhängige Spielemagazine) nahm irgendwann einfach an, dass die Entwicklung eingestellt worden sei. In meinem persönlichen Kanon stünde deshalb an der Stelle von GoldenEye dessen geistiger Nachfolger Perfect Dark. Aber der allgemeine Konsens ist wohl der, dass GoldenEye für Konsolen in etwa den Stellenwert hat wie auf dem PC das erste Half-Life.
GoldenEye ist offensichtlich Kanon. Meine Frage ist: Wie lange noch!? Wenn sich nämlich nicht bald eine lizenzrechtlich verträgliche Lösung für eine Wiederveröffentlichung findet, dann könnte möglicherweise schon in zehn, fünfzehn Jahren ein Punkt erreicht sein, wo GoldenEye nur noch eine Fußnote in den Diskursen von Videospielhistorikern ist, die nachfolgende Generationen auf legale Weise kaum mehr nacherleben können. Ich möchte das als schleichende “De-Kanonisierung” bezeichnen, die in diesem Fall rein gar nichts mit dem Spiel an sich zu tun hat, sondern in einer verheerenden Kombination von Lizenzproblemen, Marken- und Urheberrechten und technischer Inkompatibilität begründet liegt und dazu führt, dass ein eigentlich geschätztes Spiel aus dem kollektiven Bewusstsein wieder verschwindet – einfach weil man es nirgendwo mehr kaufen kann.
Meint ihr, dass in solchen Fällen Dritte etwas tun könnten, von Publishern unabhängige, nicht kommerzielle Institutionen zum Beispiel? Wie könnte das geschehen? Was bräuchte es dazu? Oder sind solche nicht gewinnorientierten Formen der Bewahrung bei der Frage nach einem Kanon letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein?
#16: aurelia
Noch kurz zu deiner Frage, Christian, warum ich eher zu Sims 2 als dem ersten Teil für einen Kanon tendieren würde: Tatsächlich hat das den ganz unspektakulären Grund, dass ich ich den zweiten Teil für den Kreativsten und am besten Ausgereiften der Reihe halte. Je nach Blickwinkel ließe sich da zwar denke ich auch Sims 1 an die Stelle setzen, aber das wäre dann von meiner Warte eher eine Detailfrage und ob man eine künstlerische Wertung oder historische Bedeutung als Kategorie in der aktuellen Auswahl priorisiert.
Eine bewusste Bewahrung von Spielen kann denke ich wirklich nur von dritter, aber nicht gewinnorientierter Seite geschehen, d.h. schlicht Kultureinrichtungen, in denen methodisch durch Experten ein Versuch der Bewahrung für die Nachwelt unternommen wird. Dann stoßen wir zwar automatisch wieder an das Problem, dass jede Auswahl dogmatisch sein wird, aber so etwas wäre wohl besser als nichts. Ließe man so etwas frei in den Händen von Entwicklern, Publishern und Privatleuten, dann enden wir im Grunde nur bei dem Problem, das wir jetzt schon mit älteren Spielen haben: Einiges ist noch allgemein bekannt, aber die Archivierung ist nur sporadisch erfolgt und selbst da, wo ein Spiel noch bewahrt wurde, ist der Zugriff aufgrund des rein physikalischen Problems der schlechten Haltbarkeit von Technik u.ä. nicht mehr möglich oder nur quasi illegal. Wenn sich keine Experten mit einem breiten Ansatz des Problems der Bewahrung von Kulturgütern annehmen, dann werden das immer andere schon wenigstens sporadisch und von Zufällen bedingt tun, aber die Methode, das Fachwissen und die langfristige Perspektive z.B. über den eigenen Tod hinaus fehlt eben meistens.
Dazu würde ich aber übrigens auch gern noch die These in den Raum werfen, dass so etwas wie GoldenEye schon jetzt mehr für Videospielhistoriker oder Experten als für eine Art kollektives Mediengedächtnis oder -bewusstsein von Spielenden im Allgemeinen relevant ist – jedenfalls wenn man die Gruppe für dieses kollektive Gedächtnis nicht gerade nur aus Spielenden zusammensetzt, die entweder den entsprechenden Release schon mitbekommen haben oder sich bereits so tief im Thema bewegen, dass sie tatsächlich ein gewisses historisches Interesse am Medium haben, d.h. also ohnehin schon in der Nische der Nische unterwegs sind. Das bedeutet nicht, dass dass nicht gleichzeitig auch der direkte Zugriff auf ein historisch wichtiges Spiel verloren gehen und das nicht fatal sein kann, aber ich würde an dieser Stelle Ideen von einem kollektiven Gedächtnis “der” Spielerschaft oder insgesamt einer größeren Gruppe Spielender sehr scharf von Konzepten eines Videospielkanons trennen.
Vielleicht sind wir damit aber auch einfach an einem Punkt, an dem wir nochmal fragen müssen, was wir alles hier als eine Art Kanon gelten lassen würden. Wenn man als Kanon schlicht das sehen wird, was schlicht in einer aktuelle, gemeinschaftliche Erinnerung präsent ist und worüber die nächste Generation Spielende vielleicht auch noch immer sprechen wird, weil ein Titel eben viel von Presse, Bloggern, Podcastern usw. besprochen und so kanonisiert wurde, dann sind Fragen nach verlorenen oder gerade verloren gehenden Spielen denke ich ziemlich müßig. Der aktuelle Mainstream-Diskurs um Spiele ist im Schnitt sehr viel mehr auf die Gegenwart als auf die Vergangenheit fokussiert und ältere Titel bleiben vor allem deshalb präsent, weil bereits begeisterte Spieler ab und zu eben doch nochmal darüber reden. Wenn aber solche Titel vor allem durch die, die sozusagen “dabei” waren, als diese Spiele neu waren, im kollektiven Gedächtnis Spielender gehalten wird, dann reicht das Erinnerungsvermögen dieser Gruppe automatisch nicht sonderlich weit zurück. (Wobei schon diese Konstruktion von Spielenden als allgemeine Gruppe hier ein Problem darstellen würde und stark vereinfacht ist.) Ohne eine explizite Videospielgeschichtsschreibung und eine bewusste, langfristige Bewahrung von Spielen, die auch weiterhin einen leichten Zugriff für die breite Masse auf diese Titel ermöglicht, fallen bei dieser Annahme ältere Spiele automatisch irgendwann unter den Tisch und im Sinne eines Kanons nach dieser Definition wäre das für den Kanon auch nicht einmal schlimm, weil dieses Verschwinden dann ja einfach auch dadurch bedingt wäre, dass das breite Interesse an einem Spiel verschwindet.
Geht man dagegen von einem kuratierendem Ansatz eines Kanons aus, dann kann es sowieso nicht nur einen Kanon, sondern nur viele verschiedene abhängig von den Gruppen geben, die einen einzelnen Kanon festlegen. In diesem Fall hätte übrigens der Tweet über Sims vollkommen recht, weil Sims nach wie vor von einem Teil Spielender nicht als “echtes Spiel” angesehen wird, inklusive aller sexistischer Implikationen, die da mit dran hängen. Kuratiert dagegen jemand anderes, dann kann Sims wieder zentral werden, aber da sind wir eben bei dem dogmatischen und perspektivischen Charakter eines Kanons.
#17: nora
In der nochmaligen Lektüre des bisher Angesprochenen ist mir nun ein weiterer Aspekt aufgefallen, der m.E. für die Frage nach der Kanonisierung zentral ist, aber noch gar nicht wirklich angesprochen wurde. Ich denke da an Spiele, die deshalb kanonwürdig sind, weil sie grenzüberschreitend wirken und mit dem jeweils bestehenden Rahmen bzw. normativem Regelsystem von Spielen als solches brechen. Ich denke da an die Parallele zu Malewitsch’ Das Schwarze Quadrat von 1913/1915. Es gilt als Ikone der Malerei, weil es mit schlicht allem brach, was die Kunst vorher als ästhetisch definiert hatte. Er selbst meinte dazu: „Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld […] Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“ (Kasimir Malewitsch). Radikale Grenzüberschreitung durch einen mindestens ebenso radikalen Bruch also. Das führt oftmals zu Meilensteinen egal in welchem Bereich, weil ein Umdenken einsetzen kann (freilich vorausgegangen von einem Aufschrei der Empörung), ein Neu-Denken von bislang quasi als naturgemäß gesetzt Begriffenen.
Im Falle von Spielen kann eine solche Grenzüberschreitung natürlich auf vielen Ebenen stattfinden: GRAFIK – Der grafische Überflieger, der alles anders macht (z.B. Outcast von 1999). STORY – stark textlastige Spiele (Planescape: Torment von 1999) bis hin zu den heutigen Walking Simulators (Gone Home). REGELSYSTEM – Das ist ein überaus spannender Aspekt. Hier hat mich das Indie-Game Pony Island nachhaltig beeindruckt, dass die bislang als „safe haven“ bzw. als außerhalb des Spiels stehenden Rahmensysteme auf einmal zum Teil des Spiels werden lässt. Das Spielmenü fragmentiert etwa zunehmend auf, funktioniert nicht mehr wie erwartet und bewirkt gewissermaßen, dass das Spiel sich selbst überschreitet. Es gibt natürlich noch viele andere Ebenen, auf denen Grenzüberschreitung in Spielen möglich ist (hier wäre auch der Tabubruch ein interessantes Thema) und mit den Konventionen von Spielen per se bricht und diese dadurch aber konstant weiterdenkt und als Medium -entwickelt. Ich meine, diese grenzüberschreitende Eigenschaft ist (auch) ein zentraler Faktor für die Kanonisierung von Spielen.
Den letzten Teil unserer Diskussion findet ihr in wenigen Tagen auf SPIELKRITIK.com.
In der Zwischenzeit freuen wir uns auf euer Feedback in den Comments. Welche Spiele oder welche Arten von Spielen seht ihr diskriminiert? Wie ernst ist das Problem der Bewahrung – auch in Hinblick auf die jüngste Schließung einer großen ROM-Website? Und welche Grenzüberschreitungen haltet ihr für „kanonwürdig“? Schreibt uns!
Update: Der dritte und letzte Teil unserer Unterhaltung ist ab sofort online.
Ich fand gerade den Aspekt der Kulturräume interessant. Denn ich glaube auch, dass Spiele sich dahingehend sehr stark unterscheiden würde. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass in einem, soweit das möglich ist, internationalem Kanon ein Siedler 2 auftauchen würde. Wenn man allerdings einen Kanon für Deutschland machen würde, wäre Siedler oder auch Anno mit Sicherheit Teil des Kanons. Das gilt dann sicher auch für andere Kulturkreise. Ein japanischer Spielekanon sähe sicher wieder ganz anders aus. Wahrscheinlich gäbe es auch Genreübergewicht je nach Kulturraum. Ich vermute, dass hier mehr Strategiespiele oder auch Point‘n‘Click auftauchen würde als anderswo.
Im Zuge dessen was momentan mit Emulatoren und Nintendo passiert ist ein anderer wichtiger Aspekt sicherlich auch, die Zugänglichkeit von Spielen um Spiele auch nachfolgenden Generationen von SpielerInnen zugänglich zu machen. Denn wenn ein Spiel nicht auch erlebbar ist, verliert es mit der Zeit dann aber an Bedeutung und gerät in Vergessenheit. Allein schon, weil es naturgemäß irgendwann niemand mehr gibt, der alte Spiele weiterträgt an nachfolgende Generationen. Vielleicht ist das ja auch etwas was Videospiele als interaktives Medium vom Buch, Film oder der Malerei unterscheidet. Das selbst erleben und agieren ist ein wichtiger Aspekt um die Bedeutung für einen Kanon zu verstehen.
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Interessante Anmerkungen, vielen Dank! :)
Den Aspekt der Kulturräume finde ich ebenfalls spannend. In anderen Medien ist das ja ohnehin eine Selbstverständlichkeit, in denen Kanons oft erst einmal national oder zumindest sprachlich aufgebaut sind, vor allem natürlich in der Literatur. In der Musik überwiegt vermutlich die Kanonisierung nach Genre. Games wurden dagegen seit jeher viel stärker über Kulturgrenzen hinweg rezipiert, was aber nicht bedeutet, dass diese Kulturgrenzen gar nicht existieren. Entsprechend müsste man bei einem „globalen“ Kanon darauf achten, nicht in einen Eurozentrismus zu verfallen (unter dem z.B. fast jeder „Kanon der Weltliteratur“ leidet) oder müsste die Unausgewogenheit der Auswahl klar kommunizieren.
Was übrigens einen deutschen Kanon angeht, darfst du schon einmal auf den letzten Part unseres Gesprächs gespannt sein. ;)
Ich muss sagen, ich bin noch unschlüssig, ob das Selbst-Erleben in digitalen Spielen so viel wichtiger ist, als in anderen Medien. Aber dazu bedürfe es mal eines längeren Kommentars. Ich bin aber immer sehr erstaunt, welch gutes Bild eines Spiels die StayForever-Podcasts mir vermitteln, bis auf ein Level, bei dem ich das Gefühl habe, ganz gut Bescheid zu wissen, ohne das Spiel selbst je gespielt zu haben (oft nicht einmal davon gehört zu haben). Natürlich wird es problematisch, wenn dann der nächste in dieser Kette ein Spiel abermals nur vom Hörensagen kennt, von jemanden, der es selbst nur vom Hörensagen kannte, aber das Problem gibt es zum Beispiel in der Literatur auch.
Was ich fast für kritischer halte, ist der Punkt, dass sich ein Spiel, selbst wenn man es vor sich liegen hat, meist nur unter großem Zeit- und Energieaufwand selbst rezipieren kann. In einem Buch oder Film kann ich mir eine einzelne Szene herausgreifen und in der Regel relativ akkurat rezipieren und deuten ohne den Rest des Werks notwendigerweise selbst komplett gelesen oder gesehen zu haben. Beim Spiel gibt es nicht nur in der Regel gar nicht die Möglichkeit, mal einfach in die Mitte zu hüpfen, sondern selbst dort, wo das geht, ist die Spielerfahrung auf diese Weise nicht reproduzierbar, weil mir die spielmechanische Konditionierung aus den vorangegangen Levels fehlt. Das merke ich ja schon dann, wenn ich mal wieder in ein Spiel reinspielen möchte, das ich 10 Jahre vorher durchgespielt habe. Zumindest die spielmechanische Seite eines Spiels lässt sich meist nur durch eine „Komplettrezeption“ erfassen.
Selbst bei idealen technischen Voraussetzungen dürfte das gerade die akademische Rezeption von Spielen langfristig erschweren bzw. dazu führen, dass man zum Erkenntnisgewinn auf die Berichte anderer oder auf das passive Rezipieren von z.B. Videos angewiesen ist.
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Meinst du denn Let’s Plays könnten bei diesem Problem eine Art von Abhilfe schaffen? Natürlich können sie nicht das eigene Spielgefühl und Spielererlebnis wiedergeben, aber es kann womöglich einen Eindruck davon vermitteln warum das Spiel in einen wie auch immer gearteten Kanon gehören soll. Zudem kann in den meisten Fällen auch mitten in das Spiel gesprungen werden und sich unterschiedlichstes Material angesehen werden.
Was auch nochmal anders ist als zum Beispiel bei einem Film. Klar kann ich mir eine Szene aus einem Film rausnehmen, aber spiegelt sie wirklich den Film wieder. Nehme ich eine Actionszene heraus, kann sie die einzige im Film sein, während der Film an sich eher über Dialoge funktioniert. Zudem ist aber ein Film auch schnell in seiner gänze konsumierbar. Sodass es eigentlich auch nicht wirklich nötig ist, auf solche Mittel zurückzugreifen.
Wie verhindert man eigentlich bei der Bildung eines Kanon, dass am Ende mehr dabei rumkommt, als eine Top X der besten, wichtigsten, bedeutensten oder wie auch auch immer geformten Spiele von damals bis heute?
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Let’s Plays sind auf jeden Fall nützlich, um um sich einen Eindruck von einem Spiel verschaffen zu können, wenn man nicht die Möglichkeit oder Zeit hat, es selbst zu spielen, es aber trotzdem irgendwie einordnen muss. Allein auf einem Let’s Play sollte man eine mögliche Kanonisierung (oder generell: Erkenntnisse über Spiele) aber nicht aufbauen, da die ja doch meist sehr subjektiv geprägt sind und eine Kette von Momentaufnahmen widerspiegeln, als dass sie mit der notwendigen Distanz auf ein Spiel blicken. Auch sollte man dann mindestens einige Let’s Plays vergleichend anschauen, um nicht falsche Schlüsse auf der Basis des Spielverhaltens eines einzelnen Spielers zu ziehen.
Ich stimme dir zu, dass einzelnen Filmszenen ohne Kontext noch schlechter funktionieren, als einzelne Spielszenen (weil die Narrative in Filmen eine größere Bedeutung hat). Aber der Kontext lässt sich halt relativ einfach rekonstruieren, ohne wieder und wieder den gesamten Film sehen zu müssen. Bei einem Spiel reicht es nicht, für die korrekte spielmechanische Erfahrung des meinetwegen „achten Levels“ das Gameplay der sieben Levels davor nur „erzählt“ zu bekommen oder in Ausschnitten zu spielen. Um Level 8 annähernd mit dem von den Entwicklern erwarteten Fähigkeitsgrad zu spielen, muss man idealerweise alle sieben Levels davor selbst gespielt haben.
Ich hoffe, es ist jetzt etwas verständlicher, was ich meinte. :D
Und ja, es ist natürlich auch die Länge von Spielen, die das Ganze überhaupt erst zu einem Problem macht. In der Hinsicht sind sie eher mit Romanen vergleichbar. Aber die kann man auf verschiedene Art und Weise „querlesen“. So ein „Querspielen“ ist gerade bei spielmechanisch anspruchsvollen Spielen schwierig.
Deine letzte Frage verstehe ich leider nicht richtig. Hast du irgendwo ein Wort vertauscht?
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Meine Frage, war eigentlich, wie sich ein Kanon von Spielen von einer Top10/25/100 unterscheiden lassen kann.
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